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Für die Abschaffung der Übel

Buchautor_innen
Daniel Loick / Vanessa E. Thompson (Hg.)
Buchtitel
Abolitionismus
Buchuntertitel
Ein Reader

Ein aktueller Sammelband über Antirassismus, Gefängnisabschaffung, Polizeikritik und transformative Gerechtigkeit stößt eine wichtige Debatte im deutschsprachigen Raum an.

Mit insgesamt 21 Beiträgen importieren die kritischen Sozialwissenschaftler*innen Vanessa E. Thompson und Daniel Loick eine wichtige, vor allem in der US-amerikanischen Bewegungslinken geführte Debatte in den deutschsprachigen Kontext. Dabei wechseln sich ausführliche Theoriebeiträge (z.B. von Andrew Dilts, Alex S. Vitale, Allegra M. McLeod) mit knapperen Statements von abolitionistischen Aktivist*innen (z.B. von Angela Davis, Victoria Law, Ruth Wilson Gilmore) ab, um eine bewegungsnahe Theoriebildung mit eindeutigen Positionen zu skizzieren. Mit der intersektionalen Perspektive auf nicht-reformistische Reformen wird zudem intensiv ein zeitgemäßes Transformationskonzept thematisiert, mit welchem die Abschaffung repressiver staatlicher Instanzen und die Stärkung selbstorganisierter Communities verfolgt wird. Diese ist mit einer grundlegenden Kritik an einem Gesellschaftssystem verbunden, welches Gefängnisse hervorbringt und nötig hat. Wer Zweifel über die Sinnhaftigkeit der Abschaffung von Polizei und gefängnis-industriellem Komplex hat, sollte sich durch die informierte Argumentation der Verfechter*innen des Abolitionismus eines Besseren belehren lassen.

Antirassismus

Die Debatte um Abolitionismus hat mit der seit 2020 stark wachsenden Black Lives Matter-Bewegung enorme Verbreitung gefunden. Dabei werden Erfahrungen und Einsichten aufgegriffen, welche sich in den Bewegungen zur Abschaffung der Versklavung Mitte des 19. Jahrhunderts, als auch bei den sogenannten „Rassenunruhen“ in den 1960er Jahren und der Bürgerrechtsbewegung für schwarze Menschen finden. Am Beispiel des Endes der Versklavung wird besonders deutlich, wie eine rein gesetzliche Gleichstellung von diskriminierten sozialen Gruppen keineswegs automatisch zu ihrer wirklichen Emanzipation führt. Wenn Befreiungsprozesse nicht mit dem beträchtlichen Abbau von Herrschaftsverhältnissen und der Veränderung alltäglicher Beziehungen einhergehen, werden Unterdrückung und Ausschluss in neuer Gestalt reproduziert (z.B. durch Ghettoisierung, Verweigerung von Ressourcenzugängen, geringere Bildungschancen und Löhne etc.). Die Autor*innen des Sammelbands empfinden sich als Teil diskriminierter schwarzer Menschen oder verstehen sich als solidarisch mit ihren Communities. Im deutschsprachigen Kontext ist die Bezugnahme auf lokale Gemeinschaften und damit deren Ermächtigung und Selbstorganisation oftmals schwer nachzuvollziehen und muss daher übersetzt werden. Für die Betroffenen von Diskriminierung, Unterdrückung und Ausschluss sind ihre Communities aber einerseits sozialstrukturelle Realität und andererseits ein Rahmen, um sich zu organisieren, zu verständigen und zu bestärken. Und dies ist bitter notwendig, so verdeutlichen die Beiträge im Band die rassistischen Kontinuitäten bis heute, aber auch die Weiterentwicklung der Kämpfe dagegen – Kämpfe, die jenseits von liberalem Multikulturalismus und Integration in die hegemoniale Mainstreamkultur geführt werden.

Gefängnisabschaffung

In den USA sind mit ca. 2.068.800 Menschen knapp 1 Prozent der erwachsenen Bevölkerung weggesperrt. Mit 629 Gefangenen pro 100.000 Einwohner*innen führen die Vereinigten Staaten mit Abstand vor Russland (364), Philippinen (179) oder Deutschland (71). Dabei muss man sich vor Augen halten, dass das ungeheuerliche Ausmaß der Inhaftierung in den USA nicht schon immer bestand, sondern ab den 1970er Jahren mit einer neuen Sicherheitsdoktrin systematisch ausgeweitet wurde, während im selben Zuge insbesondere in den schwarzen Gemeinschaften sozialpolitische Maßnahmen und Infrastrukturen kontinuierlich abgebaut wurden. So wurde die Durchsetzung des neoliberalen Raubtierkapitalismus von einer massiven Kriminalisierung der verarmten „gefährlichen“ Klassen begleitet. Dies lässt sich anhand der Ausweitung von Gefängnisstrafen auf eine Vielzahl kleiner Delikte, der rascheren Verurteilung zu ihnen durch Richter*innen, sowie der sofortigen Inhaftierung bei einem dreimaligen Vergehen nachzeichnen. Dabei weist die umfassendere Inhaftierung von Personen aus prekären sozialen Klassen nachweislich keinerlei positive Korrelation mit der sie legitimierenden Reduzierung von „Kriminalität“ auf. In der abolitionistischen Bewegung werden nun mit guten Gründen nicht primär Rechte für Gefangene oder Reformen des Gefängnissystems eingefordert, sondern die Abschaffung dieses Systems. Diese negierende Ausrichtung wird allerdings konstruktiv mit der Praxis der transformativen Gerechtigkeit (transformative justice) beantwortet. Hieran schließt sich die Debatte über Sinnhaftigkeit, Funktion und Alternativen zu Strafen und der Analyse und Kritik der repressiven Staatsapparate insgesamt an.

Polizeikritik

Da Polizeigewalt selten offiziell gemeldet und adäquat dokumentiert wird, ist die Erhebung von Daten über sie auf aktivistische Dokumentation und sozialwissenschaftliches Mapping angewiesen. Damit lässt sich beispielsweise aufzeigen, dass in den USA zwischen 2013 und 2021 jährlich im Durchschnitt 1.102 Menschen – häufig völlig willkürlich – ermordet wurden. Schwarze Menschen werden 2,9 mal eher Opfer als weiße. Nur an 15 Tagen im Jahr 2021 wurden keine Personen von Polizist*innen ermordet. (https://mappingpoliceviolence.org/) Die regelmäßig tödliche Polizeigewalt ist allerdings nur die Spitze der systematischen Schikanen, welcher insbesondere vorverurteilte schwarze Menschen und Latinx täglich ausgesetzt sind.

Um eine fundierte Kritik an der Polizei als häufig relativ autonom agierendem „Staat im Staate“ zu entwickeln, ist ein Blick in ihre Entstehungsgeschichte aufschlussreich. Während früher lediglich kommunale Wachen, private Milizen oder das Militär Unruhen unterdrückte, entstanden kommunale Polizeidepartements, wie wir sie heute kennen, erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Ihre expliziten Aufgaben bestanden in der Zerschlagung von Streiks, der Verfolgung von Arbeitsunwilligen und Armen, deren moralischer Disziplinierung, sowie der Niederwerfung anti-kolonialer Proteste. Dies wurde mit der gezielten Anwendung von Gewalt, der Infiltration rebellischer Bewegungen und regelmäßigen Patrouillen erreicht. Dass die moderne Polizei sich auch mit Verbrechensbekämpfung beschäftigt, ist eher ein Ergebnis der liberalen Kritik an ihr. Mit jener soll ihre Legitimität gewahrt und wieder hergestellt werden. Dagegen ist das Polizieren, als staatliche Anmaßung der Kontrolle und Reglementierung des Verhaltens unterworfener sozialer Klassen insgesamt zu problematisieren. Konzepte zur gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme („community accountabiliy“) zeigen dabei Alternativen zum Überwachen und Strafen auf, welches eben nur idealerweise – aber erfahrungsgemäß nicht in der Realität – auf einer unabhängigen Rechtsinstanz beruht, vor der alle Bürger*innen gleich wären.

Wenngleich die abolitionistische Debatte weiter zu übertragen ist, sind Antirassismus, Gefängnisabschaffung und Polizeikritik wichtige Themengebiete, welche auch für den deutschsprachigen Kontext von Bedeutung sind. Und mit fortschreitender Verarmung und sozialer Verelendung werden auch die repressiven Staatsapparate hierzulande für weitere Bevölkerungsgruppen zum konkreten Problem. Andere wissen bereits, warum ihre Abschaffung erstrebenswert ist.

Daniel Loick / Vanessa E. Thompson (Hg.) 2022:
Abolitionismus. Ein Reader.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-29964-7.
616 Seiten. 28,00 Euro.
Zitathinweis: Jonathan Eibisch : Für die Abschaffung der Übel. Erschienen in: Liebe, Sex und Dating im Neoliberalismus. 65/ 2022, Wer braucht eigentlich die Polizei? 70/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/G7ZQA. Abgerufen am: 21. 12. 2024 13:42.

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Daniel Loick / Vanessa E. Thompson (Hg.) 2022:
Abolitionismus. Ein Reader.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-29964-7.
616 Seiten. 28,00 Euro.