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Demokratie, lebe wohl!

Buchautor_innen
Veith Selk
Buchtitel
Demokratiedämmerung
Buchuntertitel
Eine Kritik der Demokratietheorie

Die Demokratie scheitert an sich selbst und auch die Demokratietheorie kennt keinen Ausweg aus der politischen Dauerkrise.

Einem Märchen gleich heißt es oft, mit der Demokratie seien wir in der bestmöglichen Form politischer Herrschaft angelangt. Spätestens mit dem Untergang des staatssozialistischen Konkurrenten sei dies bewiesen. Wir sind nun alle da, wo wir sein sollen: in einer liberalen Demokratie, als freie und gleiche Bürger*innen. Das Ende der Geschichte wird besungen: „Und wenn sie nicht gestorben ist, reagiert die Demokratie noch heute.“ Manch ein*e Kritiker*in versteht diesen märchenhaften Schlusssatz wohl eher als tragisch oder gar bedrohend. Dem vielzitierten Ausspruch Antonio Gramscis zum Interregnum entsprechend, ist die Demokratie mehr alt als lebendig, sie steht ihrer Erneuerung selbst im Weg. Sie ist von ihren eigenen Ansprüchen, Ideen und den vielfachen Krisen überfordert und stellt sich selbst ins Abseits. So macht die Demokratie schlussendlich immer mehr Versprechungen, von denen sie immer weniger einlösen kann.

Es stimmt: Vielem wird sie nicht gerecht. So frei und gleich sind wir immer noch nicht. Soziale, ökonomische, politische wie auch ökologische Missstände und Ungleichheiten nehmen weiter zu statt ab. Die stets als Problemlöserin für alles heranzitierte Demokratie wird zunehmend selbst zum Problem. Im Zuge dessen frustrieren auch die Menschen an ihr und lösen sich aus dem demokratisch-ideologischen Zwangskorsett der Demokratie. Begriffe wie „Demokratiemüdigkeit“ oder „Politikfrust“ sind jedenfalls – in Anbetracht der Problem- und Bedrohungslage, vor der wir hierzulande wie global stehen – milde Umschreibungen der Stimmungslage.

Die Geschichte endet nicht, jedoch die Demokratie

Der Politikwissenschaftler Veith Selk würde aus einer demokratietheoretischen Sicht der gramscianischen Analyse sicher zustimmen. In „Demokratiedämmerung“, seiner jüngst veröffentlichten Habilitationsschrift, malt auch er die demokratische Szenerie in einem nicht gerade rosigen Licht. Das Buch ist das Kondensat seiner breit angelegten Studie nicht nur zur derzeitigen Krise der vor allem westlichen Demokratien, sondern auch zur „Paradigmakrise demokratischer Theorie und Praxis“, so der ursprüngliche Untertitel der Schrift. Selk versucht hier demokratietheoretisch auf einen Nenner zu bringen, was in vielen Aufsätzen womöglich bereits angemahnt wurde, sich aber nun verstärkt als gesellschaftliche Stimmung äußert. Und das gelingt ihm, analytisch kühl und äußerst profund. Selk legt uns eine Dekonstruktion der Demokratie vor, die Tabula rasa macht mit immer noch verbreiteten und politisch wirkmächtigen Vorstellungen und Ideen zum Zustand der herrschenden Demokratie.

Für manch eine*n Leser*in mag dieses Theoriebuch schwer zu verdauen sein. Nicht nur sind es Selks Schachtelsätze und kantigen Wortkonstruktionen, es ist insbesondere der Gehalt, der auf den Magen schlägt. Denn aus der Sicht Selks befindet sich die Demokratie nicht bloß in einer unüberwindbaren Krise, sondern in einer Phase der Rückbildung. Neue politische Subjektivierungsweisen und veränderte institutionelle Rahmenbedingungen setzen dem Grundgerüst demokratischer Herrschaft zu. Es wird zunehmend instabil. Bruchstellen sind dabei

„die Politisierung der Gesellschaft, die Zunahme politischer Komplexität und Differenzierung, die Entstehung einer Kognitionsasymmetrie in der Bürgerschaft sowie das Ende des politökonomischen Befriedungsmodells des demokratischen Kapitalismus“ (S. 24).

Allesamt sind die Bruchstellen Resultate und Schauplätze eines andauernden Modernisierungsprozesses, der laut Selk ein „fatales evolutionäres Risiko“ (S. 21) für die Demokratie mit sich bringe. Denn es gebe kaum Belege dafür, „dass sich die Probleme der fortschreitenden Modernisierung im Rahmen liberal-demokratischer Regime lösen ließen“ (S. 10). Der Prozess der „Devolution“ (S. 11) der Demokratie – und das ist die pessimistische These des ganzen Buchs – entzieht sich Maßnahmen zur Stabilisierung oder Re-Demokratisierung. Vielmehr ist es die Rechte, die derzeit ein Politisierungs- und Hegemonieprojekt inmitten einer als elitär, ungerecht und ungleich wahrgenommenen Demokratie anführt. Mit ihrer retrodemokratischen Politik möchte sie die Zeit zurückdrehen.

Das alte Eisen Demokratietheorie

Ein noch düsteres Bild wird inmitten der „Demokratiedämmerung“ gezeichnet, wenn auch die Theoriebildung um die Demokratie an ihre Grenzen stößt. Wenn sich das, was ihren Begriffsbestand und ihre reflexive Instanz darstellen, ebenso im Niedergang befindet. Selk stellt nämlich den verschiedenen Ansätzen der Demokratietheorie, ob liberaler, deliberativer oder radikaler Prägung, ein vernichtendes Zeugnis aus: „Die Demokratie ist, in Theorie und Praxis, alt geworden“ (S. 248, Herv. i.O.). Mit der Rückbildung der Demokratie lösen sich die Bindung der Theorie an die Realität und damit auch die Bedingungen ihrer Behauptbarkeit auf. Womöglich erinnern die Theorien die Demokratie noch an sich selbst und stellen neue Begriffsgerüste oder Ansätze demokratischer Praxis zur Diskussion, doch sie müssen dabei scheitern. Viele Paradigmen, die beispielsweise die deliberative Demokratietheorie anstellt, geraten laut Selk zunehmend ins Wanken. Das Theoriekonstrukt der beratenden Demokratie wird also instabil und die deliberative demokratische Praxis erscheint unmöglich. Keine Demokratietheorie also ohne demokratische Praxis, die ihren selbstgestellten Ansprüchen gerecht wird. Die Demokratietheorien seien nunmehr unzeitig und laufen ins Leere, urteilt Selk.

Eine Ratlosigkeit und auch eine Selbstgenügsamkeit lässt sich der Theoriebildung sicher bescheinigen. Eine steigende Zahl von Theoriemixturen kaschiert mit ihren Begriffsneuschöpfungen und Demokratisierungsappellen nur die Brüchigkeit der Grundannahme, aber löst nicht das Problem. Der Demokratietheorie aber ihren Niedergang vorherzusagen, ist dann vielleicht doch nicht ganz zutreffend. Denn Selks dekonstruierendes Buch ist selbst ein gutes Gegenbeispiel zur begrifflichen Unschärfe der Theorie. Zum Ende seiner Schrift – wie am Ende der Dämmerung – zeigt er selbst noch einen kleinen Möglichkeitsraum auf: Die Demokratietheorie müsse die Devolutionsanalyse in sich aufnehmen und eine kritische Perspektive erarbeiten. Solange sie dies nicht tue, lebe sie nicht nur bloß dahin. Sie bildet ebenso „eine legitimationswissenschaftliche Stütze derjenigen politischen Regime, in denen sie institutionalisiert ist und praktiziert wird“ (S. 319). Sie wird zum ideologischen Zwangskorsett.

Selk macht also vor, wie es gehen kann. „Demokratiedämmerung“ ist eine der aufschlussreicheren Analysen, die jüngst aus der Politikwissenschaft vorgebracht wurden. Dem Buch wurden selbst schon prophetische Eigenschaften im Hinblick auf den Niederganz der Demokratie zugesprochen. Denn Selk wagt hier, was in den demokratischen Legitimationsdiskursen nicht zu finden ist: das Ende der Demokratie denken. Wogegen er sich jedoch prinzipiell verschließt, ist die Erforschung von Möglichkeitsbedingungen demokratischer Revitalisierung. Selk geht nicht wie manch*e Demokratietheoretiker*in auf die Suche nach der Zukunft innerhalb der Demokratie. Es ist bedeutsam, wer diesen Wandlungsprozess der Demokratie mitgestaltet. Ob es sich in Zukunft um ein neues liberal-elitäres Herrschaftsprojekt, einen rechten Autoritarismus oder ein linkes Transformationsprojekt handeln wird, ist offen. Die Demokratie in ihrer liberalen Form und damit all ihre Probleme auf Dauer zu stellen, kann verhängnisvoll sein. Ihr Untergang wäre dann womöglich auch bloß das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen.

Veith Selk 2024:
Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-30017-6.
336 Seiten. 23,00 Euro.
Zitathinweis: Thore Freitag: Demokratie, lebe wohl! Erschienen in: Bündnisse schmieden. 73/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/4iFuj. Abgerufen am: 16. 10. 2024 02:20.

Zum Buch
Veith Selk 2024:
Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-30017-6.
336 Seiten. 23,00 Euro.