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Finis Germaniae

Buchautor_innen
Georg Fülberth
Buchtitel
Finis Germaniae
Buchuntertitel
Deutsche Geschichte seit 1945
In der letzten Überarbeitung seiner Bücher zur deutschen Geschichte nach 1945 stellt Fülberth das Ende des deutschen Nationalstaates in Aussicht.

Das jüngste Buch Fülberths bietet einmal eine Aktualisierung seiner bisherigen Werke zu DDR und BRD, zum anderen eine These, die zu viel Diskussionen Anlass gab. Die These lautet: Nach 1990 lasse sich vom zusammengeschlossenen Deutschland nicht mehr als Nationalstaat reden, sondern nur noch von einem staatlichen Regionalgebilde im Rahmen des Gesamtkapitalismus. Diese Pointe, im letzten Teil des Buchs entfaltet, soll hier diskutiert werden. Fülberth nennt sein Buch "Finis Germaniae". Lateinischer Titel für ein Buch über Deutschland nach 1945. Warum? Der Autor selbst gibt als Grund an, dass "der Gegenstand der Nationalstaatlichkeit teils aufgehört hat, teils stark relativiert ist” - so Fülberths Grundthese - “wählten wir jetzt einen nichtdeutschen, einen lateinischen Buchtitel" (S. 8).

Vielleicht gibt es aber noch einen zweiten Hintergedanken, vom Autor möglicherweise nur ironisch mitgedacht. "Finis Poloniae" war seit 1831 ein geflügeltes Wort, als wieder ein mal den Polen ein nationaler Aufstand zur Wiedererringung eines eigenen Staates misslungen war. Das bekannte Bild, das den selben Namen trägt, zeigt geschlagene Offiziere, die traurig am Grenzstein verharren. Nur, dass dieses Polen, seit dem 18. Jahrhundert als staatliche Einheit verschwunden, nach mehreren erfolglosen Aufständen, 1918 trotz allem neu als Staatsgebilde auf nationaler Grundlage zusammentrat, die neuerlichen Teilungen unter Nazi-Deutschland und Sowjetunion überlebte, und 1945 - nach gehörigen Territorialverschiebungen - sich bis auf den heutigen Tag behauptete. Also hielt sich Nation ohne Staat durch ein Jahrhundert. Sollte die Anspielung auf "finis Poloniae" nicht darauf hindeuten, dass es auch mit der deutschen Nation noch einmal bedeutende und vielleicht erschreckende Erschütterungen geben könnte? Dem expliziten Text nach verneint Fülberth diese Möglichkeit. Trotzdem, nach so vielen Um-Schreibungen seines Buches lässt er mögliche Entwicklungen in der Zukunft offen.

Mit Recht wendet sich der explizite Titel gegen den Furor jener Antideutschen, die im striktesten Gegensatz zu Fülberth eine ewige Wesenheit durch die Jahrhunderte wüten sehen: Deutschland, das sich in jeder Regung des gegenwärtigen Staatswesen und seiner Teilhaber, und wäre es die geringste, widerwärtig regt, und auszubrennen ist. Wäre also Fülberths These vom Absterben bis Schwund des deutschen Nationalstaats nach 1990 anhand der von ihm aufgezeichneten Entwicklungsschritte seither zu überprüfen.

Wenn wir uns fragen, was Nationalstaat überhaupt bedeuten kann und wie er in Europa entstanden ist, so finden wir überall Bewegungen des verselbständigten Bürgertums, die nachträglich einen schon bestehenden Staat als Instrument und in gewissem Sinn Organ ihres Zusammen-Da-Seins ergreifen. Demnach wäre Nationalstaat eine Organisationsform, die den Bürgern erlaubt, sich ohne Aufhebung der Konkurrenz untereinander nach außen wie nach innen zu behaupten. Nach innen: Gegen besitzlose Schichten, die nachdrängten. Zugleich bietet der in Besitz genommene Staat der Nation geordnete und kodifizierte Bewegungsformen - als Parteien im Parlament - sowie rechtliche Garantien in ihrer Eigenschaft als Nationalitätsangehörige. Alles Erscheinungsformen, in denen die Mitglieder der Nation sich wohlgefällig in staatlichen und staatlich sanktionierten Handlungen wiederfinden. Geschichte des Nationalstaats hieße demnach: Ausgestaltung dieses Staates zur Überwältigung anderer Weltgegenden - und: Versuch der Einbeziehung besitzloser Schichten in dieses Ganze, ohne ihnen wirtschaftlich gleiche Rechte zu gewähren. In Deutschland gab es, diese gemeinsame Basis des Nationalstaats einmal vorausgesetzt, die Besonderheit, dass die vorhandene revolutionäre Bewegung von Bismarck abgefangen, und die Bestrebungen der Bürger nur wirtschaftlich, nicht politisch so erfüllt wurden, dass zugleich ein rasches Fortschreiten zum Imperialismus gebremst wurde. Gegen das Proletariat dagegen starke Repression.

Übergang zum Imperialismus hat in keinem imperialistischen Land einen Abgang vom Nationalismus bedeutet. Wie im vollimperialistischen faschistischen Deutschland Werner Best als Chefideologe hervorhob, musste der Unterschied von führender Nation und geführten fortwährend strikt beachtet werden. Wäre also davon auszugehen, dass die internen Beziehungen, die Nation ausmachen, auch dann fortbestehen, wenn das staatliche Gefüge, das sie sozusagen bewohnten und das sie rückwirkend wieder veränderte, zeitweise entfällt oder seine eigene Funktion anders interpretiert.

Fülberth schildert zunächst für Gesamtdeutschland die von den Siegerstaaten bewusst vorgenommene Teilung. Der Kalte Krieg führte zu einer Zerlegung des ehemaligen Nationalstaates, die tatsächlich von den Insassen der künftigen DDR und BRD hingenommen wurde als Bedingung der Möglichkeit, überhaupt zu überleben, nicht als Nation, aber immerhin als eine Ansammlung von Individuen, die es gemeinsam nach Anschmiegung an den Stärkeren drängte. Wie Gauland von der hessischen CDU einmal programmatisch erklärte: Was haben wir aus dem verlorenen Krieg gelernt? Nie mehr allein vorgehen!

Während die spätere DDR, erstarkt, sich der Verlegenheit mit der Nation voll bewusst war und sich gerade deshalb kleinlaut auf “Nationalität” zurückzog, erhob die Bundesrepublik mit dem Alleinvertretungsanspruch und den Hallstein-Thesen die ganze Zeit ihres Bestehens bis 1989 den Anspruch, alle Deutschen zu vertreten. Also doch im Sinne der Nation den Anspruch zu erheben, der gegebene Entfaltungsraum ihrer Sicherheit und ihres nationalen Lebens zu sein. Wenn ich mich recht erinnere, war es gerade Fülberth, der uns dankenswerterweise seinerzeit darauf aufmerksam machte, dass die Nichtanerkennung der DDR, damit die Beibehaltung eines Staatsbürgerrechts für DDR-Bürger in der Bundesrepublik, von uns allen lange für eine Wahnidee gehalten, sich als materielle Gewalt, zumindest als materielle Eingriffsmöglichkeit herausstellte, als es für Genscher darum ging, die Botschaftsflüchtlinge in Prag nicht als leidende Menschen humanitär, sondern als unterdrückte Deutsche national ins Mutterland zu reißen. Dieselbe Grundlage hatten Genscher/Kohls Angebote an die sogenannten Volksdeutschen im russischen Herrschaftsgebiet im erweiterten Sinn. Der Begriff nationaler Zugehörigkeit wurde hier weit über das hinaus ausgedehnt, was zu Bismarcks Zeiten gegolten hätte. Hat sich seit 1990 - wie Fülberth zu beweisen sucht - daran so viel geändert?

Richtig ist, dass das neuentstandene Gebilde BRD 2 ab 1990 sich wesentlich vorfand als Bestandteil übernationaler Institutionen und Bündnisse: EU, NATO usw. Der Überfall auf Jugoslawien unter Schröder/Fischer geschah formal als NATO-Aktion, mit einigen EU-Weihrauchkörnern versehen. Nur waren die Untertöne nicht zu überhören: Bombardierung Belgrads 1941 - neuerliche Bombardierung zu Beginn der apostolischen Außenministerzeit Joseph Fischers. Flugs wurde dieser Zusammenhang aufgegriffen und zugleich zugedeckt, als gewisse übermütige Grüne erfanden, der zweite Schlag, angeblich einer der Befreiung, sei gewissermaßen Wiedergutmachung für den ersten, einen der Unterdrückung. Vor allem die kapitalistische Besitznahme sämtlicher Ostgebiete nach 1990 geschah ausdrücklich unter Bezug auf den deutschen Wirtschaftstag von 1930, auf Friedrich Naumanns Mitteleuropa und so weiter.

Fülberth selbst fügt am Ende seines Buchs ein Zitat aus der Aufstellung der Kriegsziele 1914 von Bethmann-Hollweg ein. Dieser entwirft da einmal eine Zoll- und Handelsgemeinschaft, die halbwegs der heutigen EU entspricht, fordert andererseits, dass Russland an keiner Stelle mehr gemeinsame Grenzen habe mit dem Deutschen Reich. Beides ist erfüllt, sagt Fülberth und schließt daraus: ”Tatsächlich ist es inzwischen nicht mehr sinnvoll, die außenpolitische Stellung der BRD unabhängig von der Europäischen Union zu behandeln.” (S. 278)

Es ließe sich aber auch der umgekehrte Schluss ziehen: So wie Bethmann-Hollweg sein Programm eindeutig als eines der deutschen Hegemonie entwarf (“tatsächlich unter deutscher Führung”), so kann ein solches Vorhaben auch in die EU nur dann massenhaft hineingetragen werden, wenn es unter deutscher Hegemonie in der EU exekutiert wird. Um diese würde dann weiterhin gekämpft. Dass es faktisch Riesendifferenzen in der Außenpolitik auch von EU- und NATO-Staaten gibt, haben die total verschiedenen Haltungen zum ersten und zum zweiten Irak-Krieg in Europa gezeigt.

Die EU-Bürokratie ist im Augenblick ein Herrschaftsmittel, das demokratischer Willensbildung mit allen Kräften entzogen wird, damit auch dem nationalen Zugriff. Was aber nicht das letzte Wort sein muss, nicht einmal sein kann. Mit Recht wurde die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden aufgefasst als demokratische Absage ans brutale Verwaltetwerden von außen. Gerade so gut ließen sie sich aber verstehen als nationales Aufbegehren gegen Fremdbestimmung. Sobald es Referendum gibt, gibt es auch nationsweiten Zusammenschluss außerhalb der Kanalisierung durch Partei und Parlament. Nutzanwendung: Wenn in der BRD ebenfalls nach Volksabstimmung und Volksentscheid verlangt wird, würden sich in den lautgewordenen Stimmen zwangläufig nationale Klumpungen, Zusammenschlüsse zu Wort melden. Sollten wir deshalb auf die Forderung nach mehr Volksherrschaft verzichten?

Solange bürgerliche Herrschaft besteht, kann Nation als Form nicht verschwinden, innerhalb derer diese ausgeübt wird. Zur gleichen Zeit kann - gerade aus wirtschaftlichen Gründen - der Kampf der verschiedenen Bürgerschaften um Hegemonie in Europa nicht einfach aufgegeben, bei Seite gelegt werden. Echte Einschließung des Nationalen in größere Zusammenhänge - und erst damit seine partielle Aufhebung - ließe sich nur denken über das Anwachsen eines neuen nicht-bürgerlichen Internationalismus, in welchem dann die Fragen nach Teilhabe und Besitzergreifung anders angegangen werden könnten.

Insofern bietet Fülberth uns einen ungeheuer spannenden Ansatz zur Betrachtung der letzten 60 Jahre BRD und DDR. Das völlige Erlöschen des Nationalstaates stellt er in Aussicht, kann es aber keineswegs für alle Zeit begründen.

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Die Rezension erschien zuerst im Dezember 2007 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, sfr, 3/2011)

Georg Fülberth 2007:
Finis Germaniae. Deutsche Geschichte seit 1945.
PapyRossa Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-89438-360-2.
318 Seiten. 19,90 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Finis Germaniae. Erschienen in: . URL: https://kritisch-lesen.de/c/796. Abgerufen am: 29. 03. 2024 14:57.

Zur Rezension
Rezensiert von
Fritz Güde
Veröffentlicht am
01. Dezember 2007
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Zum Buch
Georg Fülberth 2007:
Finis Germaniae. Deutsche Geschichte seit 1945.
PapyRossa Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-89438-360-2.
318 Seiten. 19,90 Euro.