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Entbeintes in Brühe: Die neue Erklärungsmethode

Buchautor_innen
Götz Aly
Buchtitel
Warum die Deutschen? Warum die Juden?
Buchuntertitel
Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933

Bei seinem Versuch, den ganzen deutschen Antisemitismus aus dem Neid zu erklären, gelingt es Götz Aly nicht, seinen begrifflichen Ansatz durchzuhalten. Dabei vergisst er völlig seine früheren Erkenntnisse zur organisatorisch vorbereiteten Judenvernichtung seit 1930.

Um es vorweg zu sagen: Es widerstrebt, einem schon Blaugeprügelten noch einen Fußtritt zu verpassen. Nach allen Kritiken, die Götz Aly erreicht haben, traf ihn vernichtend ein einziges Lob. Der Publizist Henryk M. Broder war entzückt. Ihm ergab sich aus dem Werk: Antisemiten sind halt so. Es lässt sich gegen die durch Belehrung sowieso nichts ausrichten. Gerade eine Schlussfolgerung, die Aly zwar nahelegt, aber mit letzter Kraft bestreitet. Wer auf dem Broder-Blog Achse des Guten mitgenommen wurde, wie kann man gegen den noch etwas Schlimmeres aufbringen? Kurz gesagt: Die Grundthese Alys widerspricht in jedem Fall immer einer bekannten Tatsache, die einem beim Antisemitismus in den Sinn kommen mag.

Einen verdienstvollen Vordenker erwähnt der Autor weder im Text noch im Register. Helmut Schoeck: Der Neid, in den sechziger Jahren herausgekommen, damals von einschlägiger Seite zum Fertigmachen alles Linken aus dem Neidkomplex benutzt. Seither vermottet und fast vergessen. Von Aly aus dem Kleiderschrank gezerrt und durchgebürstet.

Wenn wir “Neid” denn so katechismusartig fassen, wie der Autor es an den meisten Stellen tut, bedeutet der Begriff: An der Stelle eines anderen sein wollen, der irgend etwas mehr hat - oder zumindest das haben wollen, was der andere besitzt. Dann fallen aber bei fast allen Beispielen, die Aly bietet, immer bessere Erklärungen ein. So zieht er - wie üblich - die christlich-deutsche Tafelgesellschaft Arnims und Brentanos in Berlin heran. Will er uns wirklich glauben machen, Arnim hätte tatsächlich an der Stelle des preußischen Efraim sein wollen? Ebenso viele Beispiele kollektiver Angst, überwältigt zu werden von Fremden. Wollten die Verängstigten wirklich sein wie die Schar der von Osten kommenden Einwanderer, die schlecht deutsch sprachen und sich als Hausierer durchfretteten?

Zum Neid im engeren Sinn passen allenfalls ab der Krisenzeit 1930 die Fälle von jungen Ärzten, die auf eine Amtsarzt-Stelle warteten. Entsprechend hungerleidende Advokaten, darbende Privatdozenten, mürrische Unterbeamte. Nur all das möglich erst nach dem verlorenen Krieg - also ab 1918. Wie Aly selbst – zerstreuterweise? - zwischendurch zugibt, konnten Juden vorher kaum Professoren werden. Noch weniger im alten Kaiserreich höhere Offiziere. Was half da dem kleinen Rekruten all sein Neid? Als Jude hätte er es kaum zum Leutnant gebracht. Damit entfällt also alles Gerede über das Angelernte, das Deutsche sich im neunzehnten Jahrhundert erworben hätten. Sie konnten es allenfalls in der Weimarer Republik in einem Nachholkurs erwerben.

Und umgekehrt: Gab es Neid nur gegen den “Rassenfeind”? Die oberflächlichste Geschichte der Entwicklung hin zum Faschismus stößt uns auf sehr beglaubigte Stories vom Neid zwischen Parteigenossen. Rosenberg gegen Goebbels. SA gegen Reichswehr. Ribbentrop gegen alle. Titellose gegen titeltragende Reichswehrführer usw. Die alle bekannten sich natürlich auch pflichtmäßig zur Reinigung des deutschen Blutes oder was sonst gerade fällig war. Aber eine richtige Wut hatten sie nicht auf den abstrakt gemachten, schon kaum mehr sinnlich vorhandenen Juden, sondern auf den von Hitler falsch eingeschätzten zu gut weggekommenen Parteigenossen, der prahlerisch an ihnen vorbeispazierte. Diese Sorte trivialen Neides kommt bei Götz Aly gar nicht mehr vor.

Ein auf den ersten Blick überzeugendes Beispiel bietet Aly auf, als er den vergessenen Roman Bettauers hervorzerrt. In "Wien ohne Juden" (1922) tauchen sie wirklich auf - die neidischen Massen. Wie selektiv aber Aly Quellen verarbeitet, zeigt sich an dem Nebenumstand, dass Wien und Österreich sich nach kurzer Zeit haben rückbesinnen müssen und die Juden zurückrufen. Darauf wäre zumindest einzugehen gewesen.

Vergesslichkeit? Verdrängungswille?

Es kann einem so vorkommen, als verfielen der späte Nolte und Aly komplementär dem gleichen Erkenntnisverlust. Nolte sieht unter dem Stichwort "Jude" nur den verarmten, der dann konsequent im Kommunismus ("Bolschewismus") seine Befreiungslinie sieht. An dem war definitionsgemäß absolut nichts zu beneiden. Aly umgekehrt sieht nur den bildungsfrohen, hochkommenden kapitalistischen Juden, an dem der Neid sich hätte sattfressen können. Was beide vergessen: Das wirkliche Propaganda-Bild, das Stürmer und andere Nazi-Schriften boten. In hunderterlei Ausformungen stoßen wir dabei immer auf eine Figur, die in der einen Hand Hammer und Sichel trägt, in der anderen den Goldsack - oder das Dollarzeichen. Nur in der Vereinigung beider Aspekte konnte Antisemitismus seine Gewalt entfalten. Im Film "Jud Süss" etwa tritt der reiche feine wohllebende Jude auf, fähig auf jedem arischen Ball zu brillieren. Wer aber folgt ihm - im Film natürlich nur - nach? Eine Schar hungerleidender armer Juden, den Bettelsack auf dem Rücken. Sie drängen über die Grenze. Lehre: Der reiche - edel scheinende - Jude ist nur der Quartiermacher für die Armen. Insofern ist der bürgerliche Jude, den Aly meint, in all seinem An- und Wohlstand als genau so gefährlich anzusehen wie der niedrigste Hausierer, weil er diesen aus dem Blick nimmt, aus der Schusslinie. Von daher die Motivation der Hauptarbeit des antisemitischen Journalisten oder Karikaturisten oder Schreibers: Aufdecken! Das Geheimnis der Welt einfach machen! Deutsche, werdet ohne Uni und Schulung Durchblicker. Ein leicht fassbares Hühnerbein in der Brühe. So einfach ist alles!

Kennzeichnend gerade für die böse Lust des Antisemiten die Vorliebe im Deutschen und Französischen für Ausdrücke, die dem streng gedachten Darwinismus ein Greuel hätten sein müssen: "verjudet" und französisch lang vor dem deutschen Einmarsch "enjuivé". Ernste Erblichkeitsforscher machten den Antisemiten hüben wie drüben die geringste Lust, wenn sie mühsam Genealogien zusammenstellten bis zu einem Gastwirt aus Schopfheim, oder dem Rabbi Löw aus Prag. Richtig vergnügt wurde der angebliche Judenhasser, wenn er einer Person, die ihm sowieso missfiel, die Maske herunterreißen konnte und zeigen, dass auch dieses Wesen nur eine Verkörperung des ewig Bösen war - des Juden. Hat das etwas mit Neid zu tun?

Die Linken - unfreiwillige Helfer der Antisemiten?

Auffällig die erschütternde Vergesslichkeit des noch gar nicht so alten Forschers. Ist ihm alles entfallen, was er in "Vordenker der Vernichtung" zusammengestellt hat über Wissenschaftler aller Art, die über das Problem der notwendigen Entvölkerung Polens zur Entjudung zuerst mal der Städte vorgeschritten waren? An welcher Stelle soll bei diesen kühlen Planern der Neid mitgewirkt haben? Falls dem Statistiker sich überhaupt der Kleinstbauer im Posener Land oder der Jude in Krakau sinnlich vorgestellt hat, was wäre an dem beneidenswert gewesen?

Schon in früheren Epochen zeigte Götz Aly bei aller Auflehnung gegen die Obrigkeit eine merkwürdige Neigung zur Unterwerfung unter den Staat (Vergleiche eine Rezension bei kritisch-lesen.de). Gesteigert ist diese Tendenz im neuen Buch Alys als zunehmende Neigung, Kommunisten und Sozialdemokraten fast stärker zu beschuldigen als die Nazis selbst. Ohne den Unterschied zu machen zwischen "zulassen" und "veranlassen", den uns unsere Lehrer einst einhämmerten, - sinere und jubere - werden die Linken insgesamt wegen einiger Äußerungen zur Rechenschaft gezogen, die alle ihrem übermäßigen Verlangen nach Gleichheit zuzurechnen sein sollen. Peinlich in diesem Zusammenhang die Gesamtdarstellung Mehrings. Gerüffelt wird er wegen einer Zusammenstellung von Sätzen Marx' aus dessen "Judenfrage", die er wohl herausgegeben hat. Über diesem mikroskopisch fixierenden Engblick wird völlig vergessen eine Frage: Wie konnte gerade ein Antisemit sich zunächst dem Juden Lasalle, dann dem Juden Marx so rückhaltlos anschließen? Hat er da was nicht gemerkt?

Wie wir den Schlussworten Alys entnehmen, haben Kommunisten und SPD zwar den Antisemitismus nicht gewollt, aber gegen ihren Willen zu seinem Aufkommen beigetragen. Was sich nur mitdenken lässt, wenn wir - dem Tenor des Buchs folgend - Gleichheitsverlangen generell als Neid ansetzen. Können wir das? Dann finge allerdings beim Protest gegen das Dreiklassenwahlrecht im alten Preußen schon die Sünde an. Denkt Aly das wirklich?

In seiner Abschiedskolumne in der Frankfurter Rundschau dröhnte Aly nicht nur gegen all seine Kritiker, sondern besonders gegen eine Gruppe, die ihm persönlich gar nichts getan hatte: Autonome in Berlin, die ihr Viertel vor Gentrifizierung bewahren wollten. In ihnen erkannte zornbebend der Weitgewanderte "Blockwarte". Also doch wieder Nazis. Weil sie sich der Veränderung widersetzten. Das führt noch einmal zu einem Geheim-Thema des letzten Buches zurück. Nicht ganz zum Thema Neid passend, wird immer wieder über deutsche Trägheit gegrübelt. Erhebt euch, tut selber was! Das sollte dann den eigentlichen Schutz darstellen vor dem bösen Neid, den schon ein Kain gegen Abel aufbrachte. Weil man sich tätig ja alles Gewünschte selber verschafft.

Merkwürdig, dass gerade Aly nie auffiel, dass in der Nazi-Zeit sich ungeheure Geschäftigkeit unter den Deutschen regte. Eine Schaffenskraft, die bei Freunden und Gegnern der damaligen Herrschaft gleichermaßen auffiel. Da wurde befördert, umgewandelt, von Stelle zu Stelle marschiert, notbeholfen, umquartiert, blitztelefoniert, dass dem Nachlebenden der Finger vom Computer fallen mag. Also deutsche Faulheit kann am Antisemitismus nicht die geringste Schuld tragen. Hier irrt Aly. Aber es macht ihm leider nichts mehr aus.

Das Großkapital wird - wie inzwischen üblich - ganz aus dem Schussfeld genommen. Nachdem Aly etwa Goldhagen 1996 mit seinen Kollektiv-Schuld-Thesen gegen alle Deutschen noch widersprochen hatte, ist er inzwischen nicht weit davon gelandet. Zu dem Zweck schlägt er einen Weg ein, auf welchem ihm schon Wagenknecht und Schirrmacher vorausgewandelt sind: Rückkehr zu den Propheten des Ordo-Liberalismus. Röpke mit seiner "Deutschen Frage" (1948) hat es ihm da besonders angetan. Und so wird seitenlang mit ihm gewandert und gewatet, bis die Knöchel im Sumpfe versinken.

Wohin wird Götz Aly noch gelangen? Derzeit steht er wohl mit Westerwelles letzten Getreuen im Sturm. Wird er nach deren Untergang noch offener gestehen, dass Privateigentum das Höchste und Einzige ist - und jeden Schutzes wert? Vor allem vor dem Neid.

Götz Aly 2011:
Warum die Deutschen? Warum die Juden?. Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933.
S. Fischer Verlag, Frankfurt.
ISBN: 978-3-10-000426-0.
352 Seiten. 22,95 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Entbeintes in Brühe: Die neue Erklärungsmethode. Erschienen in: Debatten und Praxen des Anarchismus. 11/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/s/dNtiJ. Abgerufen am: 30. 12. 2024 18:19.

Zur Rezension
Zum Buch
Götz Aly 2011:
Warum die Deutschen? Warum die Juden?. Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933.
S. Fischer Verlag, Frankfurt.
ISBN: 978-3-10-000426-0.
352 Seiten. 22,95 Euro.