Ein rotes Tuch gelüftet
- Buchautor_innen
- Ulrike Heider
- Buchtitel
- Die Leidenschaft der Unschuldigen
- Buchuntertitel
- Liebe und Begehren in der Kindheit – Dreizehn Erinnerungen
Ein Buch über Liebe, Romantik und gelebte Sexualität im Kindesalter.
Können Kinder Liebe und Anziehung empfinden? Wie verhält es sich mit der Entwicklung ihrer Sexualität? Diesen Fragen geht die Autorin Ulrike Heider in ihrem aktuellen Buch „Die Leidenschaft der Unschuldigen“ nach. Hierzu interviewte sie Menschen im Alter zwischen 30 und 80 Jahren hinsichtlich ihrer Erinnerungen an ihre ersten romantischen Gefühle, Fantasien und gelebte Sexualität vor ihrem dreizehnten Lebensjahr.
Mit einem bebilderten Essay leitet die Autorin ihr Buch programmatisch ein. Darin rekapituliert sie die sich historisch immer wieder wandelnden und umkämpften Vorstellungen hinsichtlich des Verhältnisses von Kindheit und Sexualität. In diesem Essay beschreibt Heider zuerst die eigenen Schwierigkeiten, mit welchen sie im Zuge der Erstellung ihres Buches konfrontiert war. So reagierten viele Personen, die sie für ihr Buchprojekt gewinnen wollte, ablehnend oder pikiert, weil sie die Fragen nach ihrem frühen Liebesleben oder gar Sexualitätserfahrungen als obszön empfanden. Auch fand Heider, nachdem sie das Manuskript für ihr Buch bereits 2010 fertiggestellt hatte, lange Zeit keinen Verlag, der das Buch veröffentlichen wollte. Wie es dazu kam, dass kindliche Sexualität heute vor allem mit dem Gedanken an „sexuellen Missbrauch“ verknüpft ist, zeichnet Heider nach.
Streit um frühkindliche Sexualität
Ihre geschichtliche Aufarbeitung beginnt mit der Feststellung, dass bis ins 16. Jahrhundert hinein Kinder in alle gesellschaftlichen Bereiche integriert waren, sie mussten arbeiten und galten spätestens mit zehn Jahren als erwachsen. Dies änderte sich im Zuge der Aufklärung. Insbesondere in Bezug auf Sexualität setzten sich Vorstellungen, wie die des Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau durch, die davon ausgingen, dass Kinder weder Liebe noch erotische Gefühle empfinden könnten, außer sie würden auf unnatürliche Weise dazu gebracht. Eine Sichtweise, welche sich, insbesondere im Hinblick auf Sexualität, auch in der heutigen Zeit hegemonial ist.
Ab Ende des 19. Jahrhunderts existierten jedoch auch medizinische Studien, welche Vorstellungen von kindlicher Asexualität in Frage stellten. Frühkindliche Erektionen, Masturbation und koitusähnliche Handlungen wurden beobachtet, jedoch nach wie vor mit Frühreife und kindlicher Verdorbenheit begründet. Anfang des 20. Jahrhunderts erschütterten schließlich die Ausgangsthesen der Psychoanalyse solche Vorstellungen hinsichtlich kindlicher Unschuld massiv. Von dieser Seite wurde zugleich auch darauf hingewiesen, dass das Unterdrücken und Bestrafen von kindlicher Sexualität mit negativen Folgen für die späteren Erwachsenen einhergehen würde.
Diese psychoanalytischen Erkenntnisse seien, laut Heider, nach Ende des Nationalsozialismus und den konservativen fünfziger Jahren, schließlich innerhalb der antiautoritären Erziehung der 68er aufgegriffen worden. Leider geht die Autorin an dieser Stelle auf die Jahrzehnte vor 1968 nicht detailliert ein, was im Hinblick auf das Verständnis von kindlicher Sexualität und der Herstellung sexueller Devianz, wie das Feindbild des „Kinderschänders“ innerhalb der 1950er Jahre, von dem sich die 68er abgrenzten, durchaus erkenntnisreich gewesen wäre.
Heiders Verständnis nach setzten sich die Sexualitätsvorstellungen der Neuen Linken im Verlauf der 1970er auf breiter gesellschaftlicher Ebene durch: Exemplarisch nennt sie die Einführung eines faktenbezogenen anstatt eines moralisch grundierten Sexualunterrichts, in welchem die sexuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt wurden. Sexualität sei, im Gegensatz zum sexuellen Puritanismus der 1950er Jahre, nicht mehr durch Verbote und Stillschweigen gekennzeichnet gewesen, sondern vielmehr hätten Offenheit und Aufklärung im Vordergrund gestanden. Als eine von Heider weitestgehend als positiv wahrgenommene Entwicklung entstanden erste Kinderläden, welche sich von früheren, stark strafbasierten und sexualfeindlichen, Erziehungskonzepten unterschieden. Obgleich sie die zum Teil dort stattfindende „sexuelle Funktionalisierung von Kindern durch Erwachsene“ (S. 20) für kritikwürdig hält.
Das beschriebene sexualemanzipatorische Paradigma hielt jedoch nicht lange vor. Ökonomische Unsicherheit, Kriegsgefahr und die „geistig moralische Wende“ brachten in den 1980er Jahren einen neuen Sexualkonservatismus hervor, welcher durch verschiedene linke Strömungen auf verschiedene Weise noch weiter befeuert wurde. So verfielen beispielsweise Teile der Frauenbewegung in ein „simplistisches Gut-Böse-Denken“ (S. 20), welche vermeintliche zärtliche Frauenlust gegenüber böser Penetration verteidigen sollte.
Die Enthüllungen im Hinblick auf verschiedene katholische Internate und die sogenannte Edathy-Affäre (Ermittlungsverfahren gegen SPD-Politiker wegen der Beschaffung kinderpornographischen Materials) heizten ab 2010 die Diskussion über sexuellen Missbrauch sowie die omnipräsente Gefahr von „Kinderschändern“ weiter an. Überzeugend und prägnant stellt Heider dar, inwiefern die weitestgehend irrationale Pädophiliediskussion in einen gesamtgesellschaftlichen Sexualkonservatismus eingebettet ist. Irrational ist die Diskussion beispielsweise dahingehend, dass sexuelle Gewalt im familiären Kontext, die den Hauptanteil an Gewalt gegenüber Kindern ausmacht, dabei aus dem Blickfeld verschwindet und vielmehr projektiv auf die vermeintliche Omnipräsenz von pädophil motivierten „Triebtätern“ delegiert wird. Der erwähnte Konservatismus umfasst zugleich Debatten über ein Prostitutionsverbot, reaktionäre Bewegungen, welche Schwangerschaftsabbrüche und „Gender Mainstreaming“ bekämpfen und nicht zuletzt einen Generalverdacht der Pädophilie, wenn Männer in traditionellen „Frauenberufen“, zum Beispiel als Erzieher, arbeiten. Zentraler Bezugspunkt ist das Bild des unschuldigen und asexuellen Kindes, welches vor einer sexuellen Beschmutzung von außen zu schützen sei (Stichwort: „Frühsexualisierung“). Dass es sich dabei um ein idealisiertes Wunschbild handelt, was wenig mit der Realität zu tun hat, zeigt die Autorin mit den persönlichen Erinnerungen ihrer Interviewten im Hauptteil ihres Buches.
Kinder als liebesfähige und sexuelle Wesen
Innerhalb dieser dreizehn Interviews kommen ganz unterschiedliche Personen zu Wort. Die Interviews zeigen deutlich, dass Sexualität bei Kindern nicht etwas ist, was diesen unter Zwang von außen aufgedrängt werden muss, sondern vielmehr, dass es sich bei diesen bereits um liebesfähige und sexuelle Wesen handelt. Innerhalb der Erzählungen zeigt sich dies auf ganz unterschiedliche Weise und rückgebunden an die gesellschaftlichen Verhältnisse der jeweiligen Epoche.
So berichtet beispielsweise der mittlerweile verstorbene Dirk Bach, wie er von der emanzipatorischen Atmosphäre der 1960er und 1970er beim Heranwachsen profitieren konnte. Gerade aufs Gymnasium gewechselt verfasste er in der Schülerzeitung einen Text zum Paragraphen 175 (Bestrafung sexueller Beziehungen zwischen zwei Personen männlichen Geschlechts), wurde im Alter von vierzehn auf einer Demo gegen den Paragraphen 218 (Bestrafung von Schwangerschaftsabbrüchen) festgenommen und hatte schließlich mit fünfzehn Jahren sein Coming-out. In der vierten Klasse regte sich bei ihm das erste Interesse am eigenen Geschlecht in Form des Hausmeisters der Schule, welcher erste erotische Gefühle hervorrief. Zwar passierte mit diesem noch nichts weiter, mit fünfzehn kam es jedoch zur ersten homosexuellen Affäre mit einem wesentlich älteren Mann. Es folgte das Outing, sexuelle Schuldgefühl gab es nicht. Im Rückblick verteidigt Bach vielmehr die damalige Zeit und ihre Wertvorstellungen sowie politischen Aktivitäten gegenüber dem, von ihm konstatierten, gegenwärtigen sexualpolitischen Konservatismus und einer um sich greifenden Entpolitisierung unter anderem der Homosexuellen.
Neben dem eigentlichen Thema ermöglichen die erzählten Lebensausschnitte zugleich einen Einblick in Historisches in Form von Sozialisationsgeschichten. So beleuchten die Erzählungen verschiedene soziale Milieus sowie Familienstrukturen und damit einhergehende Moral- und Wertvorstellungen. Dies reicht von Gewalt als Mittel zur Erziehung über die Anfeindungen und Ressentiments gegenüber Alleinerziehenden bis hin zu anerzogener Körperfeindlichkeit und Schuldgefühlen.
Ulrike Heider gelingt es deutlich zu machen, dass das Bild des absolut reinen und unschuldigen Kindes einen Mythos ist. Dabei ermöglichen die persönlichen Geschichten der Interviewten zugleich einen plastischen Einblick, wie sich sexualpolitische Konstellationen im Leben einzelner Individuen manifestieren und was dies für diese ganz konkret bedeutet. Der Autorin gelingt hiermit ein wichtiger Debattenbeitrag samt historischer Verortung hinsichtlich eines gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themas, welchem eine breitere Leser_innenschaft zu wünschen wäre. Wer sich darüber hinaus für eine ausführliche und detaillierte Darstellung der wechselnden Phasen der sexualpolitischen Geschichte der deutschen Linken interessiert, sei auf Heiders Buch „Vögeln ist schön – Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt“ (Rotbuch 2014) verwiesen.
Die Leidenschaft der Unschuldigen. Liebe und Begehren in der Kindheit – Dreizehn Erinnerungen.
Bertz + Fischer Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-86505-243-8.
204 Seiten. 17,90 Euro.