Die Kunst, über Rassismus zu schreiben
- Buchautor_innen
- Toni Morrison
- Buchtitel
- Im Dunkeln spielen
- Buchuntertitel
- Weiße Kultur und literarische Imagination
Toni Morrison analysiert, wie Repräsentationen von Schwarzen Personen in Literatur eingesetzt werden, um eine Konstruktion des weißen US-amerikanischen Ichs zu ermöglichen.
In einer überwiegend weißen Gesellschaft werden offene, ehrliche, konstruktive und zielführende Diskussionen über Rassismus im Mainstream kaum geführt: es fehlt an der richtigen Sprache dafür. Toni Morrisons grandioses Buch „Playing in the Dark“ (1992) leistet einen wichtigen Beitrag, sichtbar und beschreibbar zu machen, was sie im englischsprachigen Original als „Fishbowl“ (Morrison 1992, S. 17, ungenauerweise auf deutsch „Aquarium“ S. 39) bezeichnet – nämlich die unsichtbare Struktur, die erlaubt, dass die weiße Norm unmarkiert bleibt. Es ist Morrisons Anspruch, „den kritischen Blick vom [...] Objekt zum [...] Subjekt zu wenden; von den Beschriebenen und Imaginierten zu den Beschreibenden und Imaginierenden; von den Dienenden zu den Bedienten“ (S. 125).
Das Ergebnis ist spannend und einleuchtend. Umso enttäuschender ist, dass die deutschsprachige Version („Im Dunkeln spielen“, erschienen 1995 bei rororo) zum Teil eine irreführende, zum Teil eine gänzlich falsche Interpretation der Argumentation Morrisons gibt. Am problematischsten sind die Übersetzungen der Wörter „race“ und „racial“, die mit den deutschen Wörtern „Rasse“ und „rassisch“ völlig verzerrt wiedergegeben sind.
Das Schweigen über „Race“
So schwierig es auch ist, über Rassismus im US-amerikanischen Kontext zu diskutieren, hat Morrison wenigstens die Möglichkeit, dort an einen Diskurs anzudocken, der für den weißen US-amerikanischen Mainstream nicht gänzlich fremd ist. Die durchschnittliche US-amerikanische Person hat ein Grundwissen über die gewaltvolle Vergangenheit beispielsweise über die gesamte Gründungsphase der Vereinigten Staaten. Das Wort „race“ hat darum eine bestimmte Konnotation, die viel breiter ist als das deutsche Wort „Rasse“. Im englischsprachigen Original moniert Morrison: „A criticism that needs to insist that literature is not onlyˏuniversalˊ but also ˏrace-freeˊ risks lobotomizing that literature, and diminishes both the art and the artist“ (Morrison 1992, S. 12).
Eine Kritik, die genauso an andere Kunstformen auch gerichtet werden könnte, denn die Annahme im US-amerikanischen Kontext, dass Kulturproduktionen „race-free“ − oder „nicht rassifiziert“ − sind, macht Gebrauch von der Idee einer weißen, unsichtbaren Norm: die weiße Perspektive ist allgemeingültig und alles andere davon abweichend (Otoo 2013). Der deutschen Übersetzung gelingt es nur bedingt, diese Idee wiederzugeben:
„Eine Literaturwissenschaft, die es nötig hat, darauf zu bestehen, daß Literatur nicht nur ˏuniversellˊ, sondern auch ˏrassenlosˊ sei, riskiert es, die Nervenbahnen zu dieser Literatur zu durchtrennen, und würdigt damit sowohl die Kunst als auch den Künstler herab“ (S. 34).
Im deutschsprachigen Raum hat das Wort „Rasse“ seit Kaiserzeiten und durch die Nazizeit hindurch bis heute eine auf das Biologische reduzierte Bedeutung. Das hat zur Folge, dass Morrisons Zitat (und eigentlich ihr gesamter Text) fast nicht zu übersetzen ist, zumindest nicht ohne die Bedeutung des Wortes „Rasse“ als ausschließlich soziales Konstrukt zu klären. Das Wort „race-free“ weist auf eine soziale Konstruktion hin. Morrison beschreibt explizit das, was in Deutschland oft als „Farbenblindheit“ bezeichnet wird: die Praxis und der Anspruch, jemandem nicht ansehen zu können, ob er Schwarz, of Color oder weiß ist. Es ist wahrscheinlich, dass nur Leute, die sich bereits intensiv mit den Begriffen „race“, „racism“ und „critical whiteness“ im englischsprachigen Diskurs auseinander gesetzt haben, in der Lage sind zu verstehen, dass „rassenlos“ nicht auf eine vermeintlich „echte“ Rasse hinweist, sondern auf ein Konstrukt. Morrison behauptet, dass Literatur nicht „race-free“ ist, den deutschsprachigen Leser_innen wird aber fälschlicherweise vermittelt, sie meine damit, Literatur sei nicht „rassenlos“. (Nebenbei erwähnt: „lobotomizing“ ist mit „Nervenbahnen durchtrennen“ auch nicht gut gelöst. Eine Lobotomie oder die vermeintliche Behandlung einer sogenannten psychischen Krankheit, bei der ganz bestimmte Nervenbahnen im Gehirn durchtrennt werden, ist in den USA ein gängiger Begriff und knüpft darum direkt an bestimmte Assoziationen an, die in der deutschen Übersetzung völlig untergehen.)
Zwei weitere Beispiele lassen das Problem bei der Übersetzung des Wortes „race“ noch deutlicher werden: „Einer der Gründe für die Dürftigkeit kritischen Materials zu diesem weiten und fesselnden Thema besteht wahrscheinlich darin, daß [...] die Angewohnheit, die Rasse zu ignorieren, als taktvolle, sogar großmütige liberale Geste verstanden wird“ (S. 30).
Wenn Morrison im englischsprachigen Original von „ignoring race“ schreibt, meint sie nicht damit, die Rasse einer Person zu ignorieren (was sowieso bedeutet, das „nicht-Weißsein“ einer Person zu ignorieren) sondern die soziale Konstruktion zu ignorieren beziehungsweise die gesamte Handlung, die dazu führt, dass eine Person rassifiziert wird. An dieser Stelle hätte die Übersetzung besser das Wort „Rassismus“ statt „die Rasse“ verwendet. Auch an einer anderen Stelle werden Morrisons Gedanken in der Übersetzung völlig verzerrt: „Rasse und Rassismus lassen sich nicht wegerklären. Die Verbannung der Rasse aus dem literarischen Diskurs ist ihrerseits schon rassistisch“ (S. 61).
Im englischsprachigen Original schreibt sie von „the act of enforcing racelessness“ – was mit „die Praxis zu erzwingen, dass über Rassismus im literarischen Diskurs geschwiegen wird“ besser getroffen wäre. Und darüber hinaus: „is a racial act“ ist kaum mit den Wörtern „ist ihrerseits schon rassistisch“ wiedergegeben. Morrison deutet eigentlich darauf hin, dass es weiße Personen sind, die es nötig haben, über Rassismus im literarischen Diskurs zu schweigen, und dass diese Handlung, nicht über Weißsein zu diskutieren, Weißsein herstellt beziehungsweise aufrechterhält − „is a racial act“ wäre besser mit „ist eine rassifizierte Handlung“ übersetzt.
Die Konstruktion von Weißsein
Weißsein ist keine essenzielle Eigenschaft einer Person, sondern wird in kleinen und großen Handlungen täglich hergestellt und stabilisiert. Aus diesem Grund stört die Übersetzung des Untertitels von Morrisons Werk, denn das, was sie als „Whiteness“ bezeichnet ist überhaupt nicht gleichzusetzen mit „Weiße Kultur“. In „Playing in the Dark“ analysiert Morrison, wie sich die weiße US-amerikanische Literatur der Präsenz Schwarzer Personen bedient, um bestimmte Fragen wie Freiheit, Macht oder Unschuld zum Thema zu machen. Genauer gesagt geht es nicht um „echte“ Schwarze Personen, sondern um eine imaginäre Reproduktion davon. Dieses Phänomen bezeichnet sie als „Afrikanismus“. Anhand mehrerer Beispiele aus weißen Klassikern gelingt es Morrison zu demonstrieren, dass die Konstruktion der Vereinigten Staaten als Nation unmittelbar an die Auseinandersetzung mit „Race“ geknüpft ist:
„Der Afrikanismus ist das Vehikel, durch das sich das amerikanische Ich als nicht versklavt, sondern frei erfährt, als nicht abstoßend, sondern begehrenswert, nicht hilflos, sondern privilegiert und mächtig, nicht geschichtslos, sondern geschichtlich, nicht verdammt, sondern unschuldig, nicht ein blinder Zufall der Evolution, sondern fortschrittliche Erfüllung eines Schicksals“ (S. 80).
In der deutschen Literaturlandschaft funktioniert die Konstruktion vom Weißsein ähnlich: Mit wenigen Ausnahmen werden entweder Schwarze Personen gänzlich ausgeblendet oder kommen in einer passiven Rolle vor. Wir denken an die Schwarze Präsenz in Kinderbüchern wie „Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann (1845), Kurzgeschichten wie „Die Probe“ von Herbert Malecha (1954) oder Romane wie „Die Weiße Massai“ von Corinne Hofmann (1998). In all diesen Werken wird die Überlegenheit des weißen Subjektes hervorgehoben durch ein mangelhaftes, bemitleidenswertes oder sogar furchterregendes Schwarzes Objekt. Es lohnt sich genauer hinzusehen.
„Von höchstem Interesse ist, was der Afrikanismus für die literarische Imagination wurde und wie er darin funktionierte, denn es könnte möglich sein, durch genaues Betrachten des literarischen ˏSchwarzseinsˊ die Natur – wenn nicht gar die Ursache – des literarischen Weißseins zu entdecken“ (S. 30).
Morrison behauptet, dass die Rolle von Schriftsteller_innen in der Bildung des Weißseins zentral sei, da sie die Fähigkeit haben, sich Begebenheiten oder Lebensweisen vorzustellen, die sie nicht aus eigener Erfahrung kennen. Dadurch wird Literatur zu einem wichtigen Ort der kritischen Auseinandersetzung mit Weißsein, „Race“ und Rassifizierung. Morrisons Buch ist ein Plädoyer an uns alle, uns dieser wichtigen Auseinandersetzung zu stellen. Es ist sicherlich eine Herausforderung, besonders, wenn es noch dazu sprachliche Einschränkungen sind, die den Diskurs erschweren, und zeitweise unmöglich machen. Dennoch: „Wir alle, Leserinnen und Leser, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, werden um etwas gebracht, wenn die Literaturwissenschaft zu höflich bleibt oder zu ängstlich, um eine zerreißende Dunkelheit vor ihren Augen zu bemerken“ (S. 125).
Zusätzlich verwendete Literatur
Morrison, Toni (1992): Playing in the Dark. Whiteness and the Literary Imagination. Vintage, New York. Otoo, Sharon (2013): Correct me if I am (politically) wrong. Echte Kunst, Elitarismus und weiße Wahnvorstellungen der Erhabenheit. In: Bildpunkt #3.3. Online einsehbar hier.
Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination.
Rowohlt Verlag, Reinbek.
ISBN: 978-3499137549.
128 Seiten.