Die Konstruktion des sexuell Anderen
- Buchautor_innen
- Joan Wallach Scott
- Buchtitel
- Sex & Secularism
Die Zeit ist reif für eine historische Dekonstruktion des Säkularismus-Begriffs.
Joan Wallach Scott ist für alle, die an Gender in der Geschichte und Geschichtswissenschaft interessiert sind, sicher eine der wichtigsten Denkerinnen. Die an der School of Social Science und am Institute for Advanced Study in Princeton mehrfach prämierte Historikerin ist insbesondere auch für ihre Geschichte Frankreichs auf der anderen Seite des Rheins und in Nordamerika bekannt. Wohl am bekanntesten ist jedoch auch außerhalb der Geschichtswissenschaft ihr theoretischer Aufriss zu „Gender“ als nützliche Kategorie der historischen Analyse aus dem Jahr 1986. Nicht nur waren ihre Positionen in den 1980ern für die Gender-Geschichte prägend, Scott war auch die Mentorin weiterer wichtiger Stimmen des Forschungsfeldes in den USA. Dennoch ist Scotts Lebenswerk immer noch nicht auf Deutsch verfügbar. Das ist besonders bedauerlich, da ihre letzten Monographien als wichtige Kontrastierungen zu einem nicht ausschließlich deutschen, aber in Deutschland häufig verbreiteten, Mythos notwendig wären – gemeint ist die implizite Verbindung zwischen der Gleichstellung der Geschlechter, Säkularismus (also der Trennung von Staat und Religion) und dem „Othering“ von dämonisierten Anderen, gegenwärtig das muslimische „Andere“.
Dabei ist das Herstellen dieser Verbindung und dessen Legitimation von Abwertung keine Eigenart der Rechten. Auch Teile der Linken verbreiten den Diskurs aktiv, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Als Beispiele seien hier die liberale Ausnutzung des Körpers der Frau und liberale fortschrittliche LGBTQI+-Erzählungen genannt, die auch zu Abwertungen innerhalb linker Strukturen führen. Nach „Politics of the Veil“, einer hochgelobten Veröffentlichung aus dem Jahr 2007, vertieft Scott ihre Reflexion über die rassistische Instrumentalisierung von muslimischen Frauen in einem neuen Buch – eine feministische Perspektive auf die Geschichte der Sexualität und deren Verflechtung mit der Idee des Säkularismus in Westeuropa und Nordamerika.
Säkula…was?
Scotts Ansatz ist eine Analyse des Säkularismusdiskurses von der Aufklärung bis zur Gegenwart und legt anschaulich die Ideen- und Gegenwartsgeschichte dieses umstrittenen politischen Grundbegriffs dar. Sie zeigt, wie vergangene Konzeptionen des Säkularismus nicht nur auf einer Opposition der Gleichstellung von Frauen und Männer basierten. Vielmehr war die politische Idee des Säkularismus eine Grundlage der Entwicklung eines sozialdarwinistischen, frauenfeindlichen und homophoben Diskurses.
Gleichzeitig verweist die Autorin sehr überzeugend auf die historische wechselseitige Abhängigkeit von Gender und Politik. Sie legt dar, wie Gender mit einem naturalistischen Positivismus begründet wird und wie der politische Diskurs des Säkularismus auf diesen vorgeprägten Genderkonstruktionen fußt. Scott führt beispielsweise die sexistische und künstlich hergestellte Opposition zwischen der Frau als irrationales religiöses Subjekt und dem Mann als aufgeklärtes säkulares Objekt an und zeig,t wie dieser Gegensatz als Grundstein des Ausschlusses von Frauen in der Politik herangezogen wurde
Scott entwickelt ihre Analyse in drei Teilen, die fast den Eindruck jeweils eigenständiger Forschungsprojekte hinterlassen. Der erste Teil analysiert die Entwicklung des Säkularismus auf Grundlage der westlichen europäischen und nordamerikanischen Ideengeschichte. Hierbei wird deutlich, wie Weiblichkeit als Gegensatz zur männlichen Rationalität konstruiert und wie vorher erwähnt damit der Ausschluss der Frauen aus politischen Entscheidungsprozessen gerechtfertigt wurde.
Scott verweist darauf, wie die Abwendung vom Religiösen hin zu den säkularen Naturwissenschaften den Weg für die Konstruktion biologisierter Genderrollen ebnete. Diese auf der Idee der Natur beruhende sexistische Weltsicht, inklusive der Zuschreibung zweier distinktiver Bereiche für Frauen und Männer, habe ihre Wurzeln in der neuen eschatologischen Geistlichkeit des Säkularismus. Scott lässt sich hierbei von feministischen und queeren Theorien inspirieren. Kurz gesagt beschreibt sie, wie der säkulare Nationalstaat – im Gegensatz zum Individuum, das immer noch an Gott glauben konnte – auf einem „reproduktiven Futurismus“ (S. 88) basierte, in dem Frauen sich um die Nachkommenschaft der Gesellschaft kümmerten. Anders gesagt, der säkulare Nationalstaat legt den heteronormativen, heterosexistischen und cis-sexistische Druck einer zukunftsorientierte Kontinuität auf die Schultern von Frauen.
It’s secularism - until it isn’t.
Scott überzeugt besonders im zweiten Teil des Buches. Die Autorin beleuchtet den Zusammenhang zwischen dem „Kalten Krieg“ und einem neuen Diskurs über den „Kampf der Kulturen“. Die Historikerin argumentiert mit zahlreichen Beispielen, wie eine Verknüpfung von Liberalismus und einer distinktiven Interpretation des Säkularismus stattgefunden hat. Scott erklärt etwa, dass „der Westen” mit der Dämonisierung und dem Kampf gegen den Kommunismus kein Problem darin sah, eine Beziehung zwischen „christlichen Werten“ sowie Freiheit und Demokratie herzustellen. In diesem Kontext, hier die 1950er Jahre, wurden die Genderrollen nicht mehr aus der Natur abgeleitet, sondern als eine Wahl verstanden, die von jeder Frau getroffen wurde. Anders gesagt, Scott zeigt, dass die kapitalistische Nachkriegsgesellschaft auf der Illusion gebaut wurde, dass der Ausschluss von Frauen aus der Politik, eine individuelle patriotische Wahl war. Sie zeigt, wie diese Illusion der individualistischen Freiheit gespiegelt wird, um die althergebrachte sexistische Norm zu erreichen. In dieser Rhetorik lehnten Frauen die Emanzipation ab, um den Kern der liberalen kapitalistischen, heteronormativen Gesellschaft vom „gottlosen abartigen Kommunismus“ abzugrenzen. (S. 143) Scott veranschaulicht damit, dass die Verbindung zwischen einem christlichen Weltbild und dem Liberalismus nicht unversöhnlich mit dem Diskurs des Säkularismus war.
Außerdem bemerkt sie, dass die Unterdrückung der Frau im Namen der Freiheit nach dem „Fall des Eisernen Vorhangs“ als die Grundlage für eine rationale, siegreiche Gesellschaftsform dargestellt und gleichsam instrumentalisiert wurde, um das neue „Andere“ zu erfinden und anzugreifen. Sie zeigt unter anderem, wie die Erschaffung einer „sexuellen Staatsbürgerschaft“ während des Kreuzzuges gegen den Kommunismus, Grundstein für die spätere Verbindung zwischen einer westlichen Vorstellung von sexueller Freiheit und der Idee der „Zivilisation“ wurde. (S. 147) Das heißt, sie zeigt, wie die sogenannte Freiheit der liberalen Gesellschaft erst mit einem liberale Verständnis von Sexualität möglich gemacht wurde und erreichbar erscheint. In diesem Sinn wird die kommunistische Arbeiterin und im rassistischen Diskurs die (verschleierte) muslimische Frau als nicht kompatibel mit der Idee der Freiheit konstruiert. Scott argumentiert hier selbstverständlich nicht gegen eine „sex-positive“ emanzipatorische Form des Feminismus. Ihre materialistische Perspektive sollte auch nicht als eine neue Form der immerwährenden Opposition zum Queerfeminismus interpretiert werden, in der Sex-Positivismus und Queer als liberales Konstrukt falsch gezeichnet werden. Sie dekonstruiert in erster Linie die Entwicklung des Körpers von Frauen als epistemologischen Kampfraum des Säkularismus und die Kommodifizierung der Freiheit, insbesondere das liberale Verständnis von Freiheit im Bezug auf muslimische Frauen als Basis für einen neuen Zivilisationsdiskurs.
Sie sind Opfer! Verstehst du es nicht?
Schließlich konzentriert sich der letzte Teil des Werkes auf die Verdinglichung des Begehrens, auf die erfundene automatische Gleichsetzung von einer sexuellen Emanzipation und Gender Gleichstellun, und auf die Darstellung muslimischer Frauen als politisches Objekt ohne Agency; es sei denn, sie bekennen sich zum kapitalistischen und liberal-säkularen Diskurs des Konsums und zu einer bestimmten Form der sexuellen Freiheit. In diesem Sinne ist Scott hochaktuell und erläutert, basierend auf den zwei ersten Teilen des Buches, dass diese neue Form der säkularen Diskursivität eine politische und ideologische Idee ist, die von der Linken dekonstruiert werden sollte.
Alles in allem liefert Scott mit ihrem Buch eine neue feministische Analyse, die sowohl für eine feministisch-marxistische Kritik relevant ist als auch den Tendenzen eines liberalen Rassismus in LSBTTIQ-Diskursen entgegen wirkt. Mit anderen Worten, dieses Werk ist, ironischerweise, eine dringende Lektüre für denjenigen Teil der deutschen Linken, der sich als hoch kritisch gegenüber Deutschland versteht, allerdings gleichsam eine radikale Version eines homonationalistischen Fortschrittsnarratives perpetuiert – und jede Kritik als Sprachverbot abtut.
Sex & Secularism.
Princeton University Press.
ISBN: 978-0691160641.
256 Seiten. 33,00 Euro.