Die Revolutionär*innen aus der Nachbarschaft
- Buchautor_innen
- Vogliamo tutto (Hrsg.)
- Buchtitel
- Revolutionäre Stadtteilarbeit
- Buchuntertitel
- Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis
Schafft es die radikale Linke mit Stadtteilarbeit zurück in die Gesellschaft? Fünf Erfahrungsberichte, die Handbuchpotenzial haben.
Die schockierenden, aber erwartbaren Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg haben bei vielen linken Gruppen und Aktivist*innen nicht nur im Osten Deutschlands ein Gefühl der Macht- und Ratlosigkeit ausgelöst. Zwar gelangen in diesem Jahr immer wieder beachtliche Mobilisierungen mit antifaschistischer Ausrichtung – ob Anfang des Jahres in Reaktion auf die CORRECTIV Recherchen oder Ende Juni „Essen Widersetzen“ – aber das erklärte Ziel, den Rechtsruck aufzuhalten, scheint nicht erreichbar. Dabei ist die Beobachtung, dass selbst starke Mobilisierungen selten zu gesellschaftlicher Veränderung führen, sondern schnell wieder abflachen, gar nicht so neu.
Die Berliner Gruppe Vogliamo tutto knüpft mit ihrer Veröffentlichung „Revolutionäre Stadtteilarbeit. Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis“ an eine Debatte an, die aus ganz ähnlichen Erfahrungen schon 2015 aufkam. Damals machten sich Teile der antikapitalistischen Linken aus dem deutschsprachigen Raum Gedanken darüber, wieso die Mobilisierungen im Kontext der Euro-Krise eher erfolglos blieben und wie eine Neuausrichtung ihrer politischen Praxis aussehen kann. Das Zauberwort hieß damals: Basisorganisierung.
Raus aus der Szene, rein in die Gesellschaft
Vogliamo tutto hat zwischen September 2020 und Mai 2021 Interviews mit fünf Gruppen geführt, deren Arbeit von dieser Debatte beeinflusst wird und auf der Stadtteil- und Nachbarschaftsebene ansetzt. Im Buch werden die gekürzten Transkripte der Interviews wiedergegeben, gerahmt durch einen einleitenden und einen auswertenden Text. Die einzelnen Gespräche sind durch Teilüberschriften nach Themen gegliedert. Das lässt sich leicht lesen und regt zum Blättern und Vergleichen an.
Bei den fünf Gruppen handelt es sich um Berg Fidel Solidarisch aus Münster, Solidarisch in Gröpelingen aus Bremen, Wilhelmsburg Solidarisch aus Hamburg sowie Hände weg vom Wedding und Kiezkommune Wedding aus Berlin. Sie alle wagen den Versuch, antikapitalistische Perspektiven aus der eigenen Szene herauszuholen und in „die Gesellschaft“ – das heißt konkret: die Nachbarschaft – zu bringen. Über direkte Ansprache der Bewohner*innen, teils in Form von Haustürgesprächen, suchen sie den Kontakt und bringen Probleme und Anliegen in Erfahrung. Bei Beratungsformaten oder Anlaufpunkten sollen diese dann kollektiv und politisch bearbeitet werden. Es ist der Versuch, eine kontinuierliche politische Arbeit und gelebte Solidarität in der Nachbarschaft zu etablieren.
Dass das leichter gesagt als getan ist, zeigt sich durch gezielte Nachfragen zu kontroversen Debatten aus der Basisarbeit. Vor allem das Verhältnis zwischen den Initiativkräften, die in allen Fällen überwiegend aus weißen linken Aktivist*innen mit akademischem Bildungshintergrund bestehen, und den Nachbar*innen, die meist arm und oft migrantisiert sind, ist immer wieder Thema. Offenbar schaffen es die Stadtteilgruppen nur selten, Nachbar*innen mit einem anderen sozialen Hintergrund langfristig fest einzubinden.
Zwischen Sozialarbeit und sozialer Revolution
Der Grund dafür ist nicht, dass sie sich nicht darum bemühen würden. Viele Nachbar*innen kämen mit konkreten Anliegen, bei denen sie sich Unterstützung durch die Initiativkräfte erhoffen. Mit dieser Erwartungshaltung zu brechen, zu erklären, keine Sozialarbeiter*innen zu sein und stattdessen die kollektive öffentliche Politisierung der Anliegen als erfolgsversprechenden Weg zu vermitteln, scheint das Schwierigste an der Basisarbeit zu sein. Deutlich schwieriger als etwa die Vermittlung antikapitalistischer Positionen, die viele Nachbar*innen bereits teilen.
Im Auswertungskapitel spricht das Autor*innenkollektiv diese Schwierigkeit ebenfalls an. Doch gemessen daran, dass es sich hierbei um ein maßgebliches Ziel der revolutionären Stadtteilarbeit handelt, könnte der Frage, wie damit umzugehen ist, mehr Raum gegeben werden. Muss weiter versucht werden, über konkrete Erfolge ein Gefühl von Handlungsfähigkeit herzustellen, um mehr Menschen langfristig zu binden, wie Vogliamo tutto in der Auswertung nahelegt? Oder ist der Weg von Hände weg vom Wedding vielversprechender, die durch ihre rätekommunistische Struktur von vornherein eine klarere Arbeitsteilung von Nachbarschaft und politischer Organisation verfolgen? Diese Fragen bleiben weitestgehend offen.
Es wird aber deutlich, dass mit revolutionärer Stadtteilarbeit tatsächlich konkrete Erfolge erzielt werden können. Konflikte im Stadtteil ohne die Polizei zu lösen, Nachbar*innen aufs Amt zu begleiten, sich gemeinsam Zwangsräumungen zu widersetzen oder gegenüber der Hausverwaltung geschlossen aufzutreten – das alles hat transformatives Potenzial und schafft Momente der Selbstermächtigung. Davon berichten auch die befragten Gruppen. Zwar sind die meisten von ihnen noch nicht besonders erfolgreich damit, die Überwindung des Kapitalismus als Fernziel anzugehen. Das liegt nicht nur an dem mäßigen Erfolg bei der Einbindung der Nachbarschaft, sondern auch an einer fehlenden überregionalen Organisierung. Allein mit Nachbar*innen das direkte Gespräch zu suchen und sich mit ähnlichen Gruppen zu vernetzen, ist aber schon ein riesiger Schritt weg von der Bedeutungslosigkeit, in die sich sowohl die parlamentarische als auch die Bewegungslinke seit langem manövriert haben.
Stadtteilarbeit gegen Rechts?
Wo emanzipatorische Positionen nur aus der Defensive oder gar nicht mehr öffentlich stattfinden, ist das möglicherweise sogar die einzige Möglichkeit, als Linke handlungsfähig zu bleiben. Neben den bisher im Fokus stehenden Tätigkeitsfeldern Arbeits- und Mietkämpfe eignen sich deshalb sicherlich auch die sozial-ökologische Krise oder – vor allem in Ostdeutschland – die autoritäre Wende. Nachdem die autoritäre Rechte die Landtagswahlen gewonnen hat und die Brandmauern weiter bröckeln, reichen Großdemonstrationen nicht mehr aus. Jetzt kommt es darauf an, gegenseitige Hilfe zu organisieren. Nachbar*innen zum Amt begleiten, Schlafplätze für illegalisierte Geflüchtete organisieren, Abschiebungen verhindern, jüdische, migrantisierte und queere Nachbar*innen vor Angriffen schützen. Das klingt vielleicht dramatisch, ist aber das, worauf sich viele Menschen hier im Osten bereits vorbereiten. Auch in Ostdeutschland gibt es mittlerweile Gruppen, die dafür tatsächlich schon Strategien nutzen, wie die, die im Buch vorgestellt werden. So etwa die im Juni diesen Jahres gegründete Stadtteilgewerkschaft Lobeda Solidarisch aus Jena.
Leider sind alle für das Buch befragten Gruppen in westdeutschen Stadtteilen aktiv. Die Übertragung auf den ostdeutschen Kontext ist gar nicht so leicht. Hier ist die Bevölkerung zum Großteil anders zusammengesetzt, es gibt andere Probleme sowie stärkere gesellschaftliche Spaltungen und die Leute begegnen Gruppen, die sich selbst als sozialistisch bezeichnen, mit stärkerer Ablehnung. Es gibt also ein paar Leerstellen und Unklarheiten sowohl in der strategischen Debatte als auch in der Praxis und es sind neue Kämpfe dazugekommen. Vielleicht wäre es schon an der Zeit für eine neue Zwischenbilanz der revolutionären Stadteilarbeit.
Revolutionäre Stadtteilarbeit. Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis. 2. Auflage.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-184-6.
212 Seiten. 16,00 Euro.