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Die Entzauberung eines Meisterdenkers

Buchautor_innen
Meinhard Creydt
Buchtitel
Der Foucault-Ismus
Buchuntertitel
Analyse und Kritik einiger seiner zentralen Lehren

Ein Plädoyer dafür, sich vom langen Hype um Foucaults social fiction und seinen Leidenschaften zu verabschieden.

Vor vierzig Jahren starb der französische Soziologe Michel Foucault. Er gehört zu den meistzitierten Autor*innen der Gegenwart. In Diskussionen über „Wokeness“ und „Identitätspolitik“ oder über nichtbinäres Denken in Bezug auf die Geschlechter sowie in den Debatten über „Biopolitik“ – zum Beispiel während der Corona-Pandemie – wird gerne und häufig auf ihn Bezug genommen.

Der Realitätsgehalt von Foucaults Analysen

Der Soziologe und Psychologe Meinhard Creydt dreht bei Foucaults materialhaltigen Darstellungen zur „Disziplinargesellschaft“, zum Wahnsinn und zum Handeln des Staates im „Neoliberalismus“ zwar nicht jeden Stein um. Aber doch so viele, dass der fiktionale Gehalt deutlich wird. Auffällig sei, wie Foucault seine Leser*innen mit vermeintlichen Tatsachen und aparten historischen Fundstücken geradezu bombardiere. Doch bewiesen sie häufig nicht, was Foucault mit ihnen zeigen wolle. Seine Thesen hielten zudem Realitätstests oftmals nicht stand.

Für Foucault steht „der Wahnsinn“ im Gegensatz zu „der“ modernen Vernunft beziehungsweise dem modernen Subjekt. Creydt zeigt demgegenüber: Für das psychotische Erleben sind just diejenige Subjektivität und dasjenige Bewusstsein konstitutiv, die in der modernen bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie dominieren.

Der Autor widerspricht Foucaults ästhetizistischer Wertschätzung des Wahnsinns. Sie überschätze dessen sogenannte „produktiven“ Symptome wie den Wahn und unterschätze Symptome, die zwar weniger „spannend“, aber weiter verbreitet sind im Alltag von Menschen mit einer psychotischen Problematik: Unkonzentriertheit, die Schwierigkeit, Gedanken fortzusetzen und nicht von Haupt- auf Nebengedanken abzugleiten, sowie das subjektive Empfinden, vieles sei unbekannt, beängstigend und unheimlich.

Foucault baue an einem Paralleluniversum zu den auf die Geschichte bezogenen, den gesellschafts- und den ökonomietheoretischen Wissenschaften. Er arrangiere Collagen von Äußerungen über die jeweils von ihm verhandelte Realität, bei denen die Leser*innen eines nie wissen: Handelt es sich bei den herangezogenen Statements um dramatisierende Warnungen, Werbeversprechen von Projektemacher*innen, novitäts-beflissene Überschätzungen beziehungsweise Übertreibungen des Neuen oder um realistische Beschreibungen?

Creydt zeigt an der Gewöhnung der Arbeitenden an die Arbeitsdisziplin, am Staatshandeln in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, am „Humankapital“ beziehungsweise „Unternehmer seiner selbst“: Foucaults Darstellungen blenden zu ihrem Schaden die immanenten Widersprüche und das komplexe Gefüge der kapitalistischen Ökonomie aus. Foucault habe nur reduktionistische und grob simplifizierende Vorstellungen von ihr. Sie dienen als Negativfolie. Im Abwärtsvergleich zu ihr profiliere Foucault seine eigenen Konstrukte.

Foucault erkläre in einem unterkomplexen Basis-Überbau-Modell die Disziplinen zur Basis und die moderne bürgerliche Gesellschaft sowie das bürgerliche Subjekt zum Überbau. Creydt zufolge bilde die bürgerliche Gesellschaft keine Angelegenheit der Vergangenheit. Vielmehr sei die Dreieinigkeit von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstbeschuldigung in Zeiten der Individualisierung höchst vital. Der Autor beschreibt, wie die Individuen mit ihrem Handeln auf Arbeits-, Konsum- und Geldmärkten meinen, es komme auf ihr Engagement an und niemand anders als der jeweilige vereinzelte Einzelne sei für sein „Schicksal“ zuständig. Creydt geht den Implikationen und Folgezwängen nach, die von der praktischen Fremd- und Selbsterwartung ausgehen, das Individuum möge ein starkes Subjekt sein. Das heißt, sein eigenes Leben geschickt so zu „führen“, dass es ihm als erfolgreich oder wenigstens subjektiv gelungen erscheinen kann. An diesen Imperativ gewöhnen einen in der bürgerlichen Gesellschaft auf jeweils eigene Weise auch das Recht, die Erziehung und die Sozialpolitik. Diese Analyse der modernen bürgerlichen Subjektivitätsformen bildet eine Alternative zu Foucaults Machtbegriff.

Die Gesellschaft als ärgerliche Tatsache

Die Attraktivität des foucaultschen Denkens habe viel mit der Entlastung zu tun, die im Abschied von Vorstellungen grundlegender Gesellschaftstransformation liegt. Beliebt sind gegenwärtig das Engagement für einzelne wirklich oder vermeintlich diskriminierte Personengruppen sowie Ein-Punkt-Bewegungen. Die Gesellschaft kommt bei vielen Öko-Aktivist*innen als zu verändernde Bedingung für die Sicherung halbwegs verträglicher natürlicher Bedingungen menschlichen Lebens in den Blick. Creydt führt demgegenüber aus, wie eine andere Vergesellschaftung nicht nur die äußeren Lebensumstände, sondern die Subjektivität, die zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen sowie die Entwicklung menschlicher Vermögen (Fähigkeiten, Sinne, Reflexionsvermögen) in ihnen und im Arbeiten grundlegend verändert. Der Verfasser beschreibt, wie die Gestaltung der Vergesellschaftung durch die Bevölkerung und diese Vergesellschaftung selbst Bestandteil eines anstrebenswerten „guten Lebens“ sein können. Sein Text widerspricht sowohl gesellschaftstheoretisch als auch normativ Foucaults These, die „‚Gesamtgesellschaft’ ist dasjenige, dem nur insoweit Rechnung zu tragen ist, als es zerstört werden soll“. (Foucault)

Foucault kokettiere, Creydt zufolge, mit einer nebulös-utopischen Ablehnung jeglicher Herrschaft. Dieser Überbietungsgestus koexistiere friedlich mit Foucaults Botschaft, eine grundlegende Gesellschaftstransformation sei weder zu erwarten noch anzustreben. Sie führe notwendigerweise vom Regen in die Traufe.

Der Verfasser diskutiert die bei allen Wandlungen des Foucaultschen Schaffens in ihm gleichbleibenden positiven Leitbilder von reicher Individualität und „kritische[r] Ontologie“, die das Singuläre gegen die Universalität stellt. Im Zentrum von Foucaults Denken stehe ein libertärer Freiheitsbegriff – als Freiheit von der Gesellschaft.

Foucaults Ideal, immer ein Anderer werden zu wollen, opponiere der Starrheit einer Person um den Preis, die eigenen Auffassungen sowie Anliegen ständig zu wechseln, unverbindlich zu bleiben und sich nicht auf etwas einlassen zu brauchen. Eine solche Person sei im Kopf bereits ständig auf dem Absprung in die nächste „Phase“. Sie meint, „eigentlich“ ganz anders zu sein.

Provokant und streitlustig ist Creydts Buch gewiss. Zugleich aber drängt es den Leser*innen keine Urteile auf, sondern entwickelt sie aus dem Material. Foucaults Argumente werden fair vorgestellt und stark gemacht. Der Verfasser arbeitet nah an den Texten die gedanklichen Fehlschlüsse und Reduktionen, Vermischungen und Verschiebungen sowie die immanenten Widersprüche heraus. Gleichzeitig wird damit aber die Brüchigkeit von Foucaults Argumentationen deutlich. Das dicht formulierte Buch liest sich kurzweilig. Der Autor vermag es, das jeweilige Besondere unaufdringlich auf das übergreifende Gefüge zu beziehen.

Als „Foucault-Ismus“ bezeichnet der Autor Familienähnlichkeiten zwischen Publikationen, die Foucaults Begründungen nachsprechen, als seien sie evident. Um eine homogene Gruppe handele es sich nicht. Creydt zeigt, wie sich ein Kernbestand von Äußerungen von und über Foucault herausgebildet hat, der das Bild von Foucault in der an ihm interessierten Öffentlichkeit dominiert. Auch in der schier unerschöpflichen Sekundärliteratur sei dieser „Foucault-Ismus“ sehr stark vertreten. In dogmatischer Redundanz dichte er sich mit selbstgenügsamer Unaufgeschlossenheit gegen alle Einwände ab. Angesichts dieser erstaunlichen Verehrungsbereitschaft wird es Zeit für die Frage nach des Kaisers neuen Kleidern.

Meinhard Creydt 2024:
Der Foucault-Ismus. Analyse und Kritik einiger seiner zentralen Lehren.
Mangroven Verlag, Kassel.
ISBN: 978-3-946946-34-2.
301 Seiten. 26,00 Euro.
Zitathinweis: Gabriele Heller: Die Entzauberung eines Meisterdenkers. Erschienen in: Bündnisse schmieden. 73/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/qgbCx. Abgerufen am: 13. 11. 2024 15:52.

Zum Buch
Meinhard Creydt 2024:
Der Foucault-Ismus. Analyse und Kritik einiger seiner zentralen Lehren.
Mangroven Verlag, Kassel.
ISBN: 978-3-946946-34-2.
301 Seiten. 26,00 Euro.