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Deutschlands Prophet

Buchautor_innen
Ulrich Sieg
Buchtitel
Deutschlands Prophet
Buchuntertitel
Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus

Ulrich Sieg entwirft die Biographie eines der bekanntesten Gelehrten des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland, der zugleich einer der größten Antisemiten seiner Zeit war.

Lagarde gilt in der Bildungserinnerung eher als Gerücht aus dem 19. Jahrhundert - zeitweise in Büchern über die Nazi-Zeit erwähnt als Erfinder der Madagaskar-Idee: also des Gedankens, alle deutschen Juden - oder nur die nicht assimilierten? - auf die Insel aus französischem Kolonialbesitz zu verfrachten. Bei Lagarde eher beiläufig geäußert, siebzig Jahre später im Ernst erwogen.

Bisher war wenig mehr über Lagarde ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Ulrich Sieg ist nun der Gesamterscheinung dieses Manns nachgegangen und hat Überraschendes zu Tage gefördert. Im Gegensatz zu leeren Phantasten wie Chamberlain und vor allem Rosenberg war Lagarde - ursprünglich Boetticher - einer der gelehrtesten Kenner der jüdischen Geschichte und Vorgeschichte. Verfügend über die entlegensten Sprachen - Koptisch, Syrisch, verschiedene hebräische Dialekte, Aramäisch - war es lebenslänglich seine Absicht, eine wissenschaftliche Ausgabe mit sämtlichen Lesarten der Septuaginta, also der in Alexandria herausgebrachten Übersetzung der Thora auf Griechisch herauszubringen. Er scheiterte trotz unermüdlicher Anstrengung bis ans Lebensende an dieser Arbeit. In Göttingen beschäftigt man sich in Lagardes altem Steinhaus noch immer mit dieser Edition.

Zugleich war dieser - auch von jüdischer Seite voll anerkannte - Gelehrte, ein echter Wissenschaftstitan nach dem Muster der Mommsen und Grimm, einer der erbittersten Antisemiten des neunzehnten Jahrhunderts. Ausdrücklich sprach er dem Buchglauben der Juden jeden Wert ab, also auch dem, was er als Wissenschaftler vergeblich an die vierzig Jahre lang zu Tage fördern wollte. Wie ist das möglich? Geboren 1826, früh mutterlos, wurde der junge Boetticher in der bekannten gnadenlosen Disziplin erzogen, wie sie angeblich Preußen groß gemacht hat. Zugleich von früh auf zu wissenschaftlichen Leistungen getrimmt. Eine seiner treffendsten Kritiken mitten im Wust der Wut seiner allgemeinen Schriften betrifft genau diese preußische Art der Erziehung in Elternhaus und Gymnasium. Lagarde (später angenommener Name nach seiner Adoptivtante) kritisiert lange vor Heinrich Mann und Wedekind eine Erziehung über Auswendiglernen und Altertumsverehrung ohne wirkliche Kenntnis.

Einerseits auf den mühsamen Wegen des Privatdozenten und zeitweise Gymnasiallehrers unterwegs, andererseits im Gefühl der Verlassenheit und des Verlorenseins, schreibt er wie all die Großgelehrten der Zeit über die entlegensten Gegenstände, unterhält sich mit Rückert beim Antrittsbesuch auf Persisch, führt Briefwechsel mit anderen Gelehrten auf Koptisch. Ziwschendurch wird gerade mal Giordano Bruno auf Italiensch nach den Archiven herausgegeben. In dieser Lage - trotz Königsstipendien und mitgeschleppter Anhänglichkeit ans Hergebrachte, entwickelt er Hass und Abwehr gegen alle bestehenden Konfessionen, den in Preußen staatstragenden Protestantismus sowie den Katholizismus, den er zu seiner Zeit einfach als Jesuitismus verstand, als ein Ensemble machtverschaffender Tricks. Dass in dieser Konstellation das Judentum nicht besser wegkommen konnte als die beiden anderen Konfessionen, würde für sich selbst noch nicht Antisemitismus bedeuten.

Lagarde sucht aber einen neuen Weg: den, dem zwischen den Konfessionen zerrissenen Deutschland mitsamt Österreich (+Mitteleuropa) eine einigende neue Religion zu erfinden. Worin diese Religion bestehen sollte, wurde den Zeitgenossen nie ganz klar. Wichtig war einfach der Titel Religion, der jetzt dem nationalen Gefühl verliehen wurde. Gerade die Inhaltslosigkeit machte den Erfolg aus, in einer Zeit, als tatsächlich Protestantismus und Katholizismus an Bindekraft verloren, so dass das Glaubensbedürfnis sich daran anhaken konnte. Einen eigenen Inhalt konnte dieser neue Glauben nur gewinnen - durch Abgrenzung - gegen den Juden.

Das Erschreckende ist, wie im Lauf des Lebens von Lagarde sich diese Abgrenzung immer mehr vom Religiösen zum Biologischen hinentwickelte. Am Anfang hieß es noch, dass das Deutsche im “Gemüte liege, nicht im Geblüte.” Am Ende des Lebens scheute Lagarde nicht mehr zurück vor Vergleichen der Juden mit “Fremdkörpern” und den erst neu populär gewordenen “Bakterien” im “Volkskörper”. Also die biologistische Wendung, die später den Nazi-Antisemitismus so unausweichlich machen sollte. Dem religiösen Antisemitismus könne man in letzter Not durch Konversion entgehen, vor dem biologischen gebe es keinen Fluchtweg.

Als Gutachter in einem Prozess wegen angeblichen Ritualmords von Juden in einem ungarischen Grenzort hatte er noch wahrheitsgemäß ausgesagt, dass die ältesten mosaischen Schriften Blutgenuss verboten. Später wollte er seine eigene Aussage einschränken. Zugleich griff Lagarde aus dem Traditionsbestand der Thora die Figur des Propheten heraus: er selbst wollte derjenige sein, der ein Deutschland, das sich noch nicht kannte, herausführte aus einem Zustand des Molluskendaseins - hin ins Feste, Klare, Dauernde. Bußprediger, Zukunftsweiser, Vorangeher. Eben Prophet. Diese Rolle entriss er den Juden, denen er - wieder als Historiker - attestierte, dass sie seit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil erstarrt und steril geworden seien, also weder Zukunft noch Prophetengewalt mehr hätten.

Deutschland - seit Luther das konfessionell zerrissene Land in der Mitte Europas. Seit dieser Zeit gab es ungeheure Versuche, die Kluft zu schließen - den dritten Weg der spirituellen Einigung zu finden, über die Konfessionen hinaus. Ab Leibniz unternahm die idealistische Philosophie diese Versuche, über Kant und vor allem Fichte. Immer wieder von oben her - über reine Moral (Kant) aber auch Deutschheit (Fichte) - gewaltsame Anstrengungen eines losgelösten Geistes, der aber die Einigung von sich aus nicht schaffte.

Nach dem Zusammenbruch dieses Idealismus, nach der geschlagenen Achtundvierziger-Revolution und der Verabschiedung Hegels dann ein furchtbarer Absturz. Hatten Fichtes und vor allem Kants Anstöße doch immerhin noch einen internationalen Impuls setzen wollen, so bleibt in der Leere nach ihnen nur eben die Erkenntnis dieser Leere - und der blinde Willen, aus dem Ressentiment heraus zur angeblichen Geschlossenheit der Völker Frankreichs und Englands ebenfalls zu kommen. Dieser Wille, zur Religion an sich erhoben, konnte sich nur halten im Hass gegen den anderen. Den Juden. Wenn später vom “Antisemitismus als Alltagsreligion“ die Rede war: hier sind ihre Ursprünge zu greifen. Judenhass als Gewähr der Eigenheit des Hassenden. Juden, immer zusammen genannt, gehasst und verflucht mit dem Liberalen, dem Menschheitssäusler, dem Schwadronierer mit den Ideen von 1789 und 1848.

Liberal steht hier für die, die sich auf “Humanität hinausreden”, Fäden über die nationalen Grenzen hinaus ziehen. Absage ans Internationale im Sinn der Aufklärung, Selbsteinschließung in ein nationales Ganzes, dessen Vergangenheit aber ebenfalls verworfen wurde. So schildert Ulrich Sieg eindrucksvoll den Weg eines Gepeinigten, der sich von seiner Pein entlasten will durch Eruption, Wutausbruch und Anklage. Das qualvoll Verzerrte in diesen Entlastungsversuchen wird zuweilen peinigend deutlich (S. 248): Jüdische Gelehrte nämlich kommentieren - laut Lagarde - unaufhörlich ihre eigenen Werke - deutsche Gelehrte warten bescheiden das Urteil ihrer Rezensenten ab. Lagarde selbt sprach ohne Unterlass von seinen Verdiensten, Entdeckungen und vom Undank der Mitwelt. Der Entlastungswille vom Unbehagen an sich selbst wird überdeutlich.

Wichtig an dem Buch ist vor allem die Wirkungsgeschichte Lagardes im letzten Kapitel. Ulrich Sieg weist nicht nur nach, wie - vergröbert und endgültig biologisiert - der Orientalist des neunzehnten Jahrhunderts im zwanzigsten als Gewährsmann herhalten musste für einen Antisemitismus, der wissenschaftlichen Anschein gewinnen sollte. Besondere Pointe: in Hitlers Handexemplar Lagardes, aus dem Hohensalzberg gerettet, sind angestrichen vor allem die Stellen, die sich nicht nur gegen die Juden richten, sondern vor allem auch gegen die überlieferten Konfessionen - protestantisch und katholisch gleichermaßen. Der Zusammnenhang von Hitlers zurückgestelltem, nicht endgültig ausgefochtenem Kampf wird deutlich gegen die Konkurrenz-Religionen - gegen die eine, künftige, erträumte, deutsche - des Antisemitismus. Unter Zurückstellung aller Vorbehalte, die sich bei Lagarde gegen einen rein biologisch gefassten ausweglosen Judenhass immer noch finden.

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Die Rezension erschien zuerst im Oktober 2007 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, ast, 03/2011)

Ulrich Sieg 2007:
Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus.
Carl Hanser Verlag, München.
ISBN: 978-3-446-20842-1.
416 Seiten. 25,90 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Deutschlands Prophet. Erschienen in: . URL: https://kritisch-lesen.de/s/Zvzey. Abgerufen am: 23. 11. 2024 08:58.

Zur Rezension
Rezensiert von
Fritz Güde
Veröffentlicht am
01. Oktober 2007
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Zum Buch
Ulrich Sieg 2007:
Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus.
Carl Hanser Verlag, München.
ISBN: 978-3-446-20842-1.
416 Seiten. 25,90 Euro.