Der unwissende Lehrmeister
- Buchautor_innen
- Jacques Rancière
- Buchtitel
- Der unwissende Lehrmeister
- Buchuntertitel
- Fünf Lektionen über intellektuelle Emanzipation
Rancière verweist auf einen Pädagogen des 19. Jahrhunderts, der mit größtem Erfolg für das Gegenteil des heute so beliebten Schnellbimsens in Kindergarten, Schule und Universität stand.
Jacques Rancière, der Philosphieprofessor, der in Frankreich vor allem durch seine Kritik an den „Meisterdenkern“ der 1970er Jahre bekannt wurde (dem Dreigestirn Sartre, Foucault, Glucksmann), geht in seinem neuen Buch in „Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation“ derselben auf den Grund. Er liefert damit, vermutlich nicht ganz unbeabsichtigt, wichtige Argumente zu einer gerade im deutschsprachigen Raum gnadenlos reaktionären Debatte, in der „Exzellenzforschung, Eliteuni und frühkindliche Pädagogik“ die Stichworte liefern.
Rancière stellt seinen LeserInnen Joseph Jacotot vor, einem aussergewöhnlichen Pädagogen und Professor mit halben Bezügen an der Universität zu Löwen, der an der französischen Revolution beteiligt war, dann aber nach Rückkehr der Bourbonen ins niederländische Exil ging. Da er die niederländische Sprache nicht beherrschte, er aber seinen StudentInnen französisch unterrichten sollte, ließ er ihnen eine zweisprachige Ausgabe des gerade erschienenen Telemach aushändigen und ermutigte sie den französischen Text mit Hilfe der Übersetzung zu lernen. Dieses wohl aus der Not geborene Experiment übertraf alle Erwartungen und war ganz nach dem Geschmack des Jahrhunderts der Aufklärung, ein radikaler Bruch mit der Logik der bisherigen Pädagogik. Diese stützt sich auf den Gegensatz von Wissen und Unwissenheit: „Die Pädagogen unterscheiden sich durch die gewählten Mittel, um den Unwissenden wissend zu machen: harte oder weiche Methoden, traditionelle oder moderne, passive oder aktive, deren Ertrag man vergleichen kann.“ Jacotot jedoch lehrte, worüber er unwissend war, und proklamierte die intellektuelle Emanzipation, Bildung wird also nicht verliehen, sondern genommen: Alle Menschen hätten die gleiche Intelligenz. Dieser eigentlich philosophische, politische Ansatz, der Autor nennt ihn den „universellen Unterricht“, existiert seit es die Welt gibt neben allen erklärenden Methoden. Alle praktizieren sie auch, nur will sie keiner anerkennen, niemand will sich der intellektuellen Revolution, die sie bedeutet, stellen. Sie würde die Ordnung der Dinge umkrempeln! Unter den fortschrittlichen Aufklärern und Industriellen genoß damals eine andere Methode grosser Beliebtheit: der gegenseitige Unterricht. Diese Art von Fortschritt roch für Jacotot nach Zaumzeug, perfektionierte Manege, sagte er dazu.
Die Gelehrtenrepubliken standen Kopf, denn diese neue Methode verbreitete sich auf der ganzen Welt, sogar in Preußen war man interessiert. Sollte es also möglich sein, Erkenntnis ohne verdummende Lehrmeister zu erlangen? Das war für diese Spezies nur schwer erträglich, wenn nicht anmaßend. Galt es doch seit Sokrates als vornehmste Pflicht des Lehrmeisters, durch Fragen und Erklären insgeheim und subtil die Intelligenz des Schülers zu lenken, anzuleiten. Der universelle Unterricht dagegen improvisiert, zeichnet, malt und dichtet in einer Gemeinschaft der Gleichen. Nun weiß man zwar, dass der König der Niederlande ein aufgeklärter Monarch war, der dem Pädagogen alsbald die Leitung einer militärischen Akademie anvertraute. Nach einer Reihe von Skandalen, die Jacotot inszenierte, wurde diese auch bald aufgelöst. Den Lehrmeister, der lehrte nichts zu wissen, zog es wieder nach Paris um in der Junirevolution von 1830 die siegreichen Liberalen und Progressive zu unterstützen. Als der Minister für öffentliche Bildung, Monsieur Barthe, persönlich bei Jacotot vorsprach, um sich drüber beraten zu lassen, was zu tun sei, um eine Ausbildung zu organisieren, welche die Regierung dem Volk schuldig sei, reagierte dieser erstaunt. „Nichts“, antwortete der Pädagoge, einfach deshalb weil man den Leuten nichts schulde, was sie sich selbst nehmen können, solange eine gesellschaftliche Infrastruktur existiere, welche dies fördere. Nun aber erhoben wieder genau jene Gespenster ihre Häupter, welche die Revolution mit befördert hatte: Der Fortschritt, das heißt die pädagogische Fiktion, die sich als Fiktion der gesamten Gesellschaft etabliert hat.
„Sie wollen die Geister der alten Routine, der Umklammerung durch die Priester und Obskuranten aller Art entreißen. Und dafür braucht man rationellere Methoden und Erklärungen. Man muss sie testen und vergleichen mittels Kommissionen und Gutachten. (...) Man muss vor allem die Improvisation Inkompetenter vermeiden und darf durch Zufall oder durch Routine gebildeten Geistern, die der perfektionierten Erklärungen und fortschrittlichen Methoden unkundig sind, nicht die Möglichkeit bieten, eine Schule zu eröffnen und darin irgendwie irgendwas zu unterrichten. (...) Man braucht eine Universität und einen großen Meister“.
Jacotot hatte es vorausgesagt, der universelle Unterricht werde sich nicht durchsetzen. Aber er hatte hinzugefügt, dass er nie untergehen würde. Ein Buch, welches auch Noam Chomsky gefallen dürfte.
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Die Rezension erschien zuerst im August 2008 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, sfr, 3/2011)
Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über intellektuelle Emanzipation.
Passagen Verlag, Wien.
ISBN: 978-3-85165-795-1.
168 Seiten. 21,90 Euro.