Der Staat bei Luxemburg und die Hoffnung auf Dialektik
- Buchautor_innen
- Michael Brie / Frigga Haug (Hg.)
- Buchtitel
- Zwischen Klassenstaat und Selbstbefreiung
- Buchuntertitel
- Zum Staatsverständnis von Rosa Luxemburg
Ein guter Sammelband zu Rosa Luxemburg, der allerdings ergänzungsbedürftig ist und zentrale Fragen nur ungenügend diskutiert.
Der Kreis der Marxisten, der sich in der Reihe „Staatsverständnisse“ des Nomos Verlags versammelt, erweitert sich: Nach Marx, Poulantzas, Gramsci und Engels ist nun ein Band zu Rosa Luxemburg erschienen.
In sieben, jeweils recht umfangreichen Aufsätzen, wird sich der Ikone einer alternativen Sozialismusvorstellung – dem Aushängeschild des radikalen, aber freundlichen Sozialismus – genähert.
Warum Luxemburg?
Es sei, wie die HerausgeberInnen in der Einleitung erläutern, nicht ihre Staatstheorie als solche – sie habe „keine Theorie des Staates ausgearbeitet“, habe vielmehr „jene vor allem durch Friedrich Engels und später Karl Kautsky entwickelten Grundlagen für ausreichend gehalten“ (S. 10) –, sondern ihr „dialektischer Standpunkt, ihre parteiliche Schärfe und ihre Beweglichkeit“, die es lohnenswert machen, „sie als Staatstheoretikerin ernst zu nehmen und von ihr zu lernen“ (S. 9). Im Fokus steht folgendes:
„Rosa Luxemburgs Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens und damit auch des Denkens über den Staat beginnt dort, wo sie die linke sozialdemokratische Praxis ihrer Zeit reflektiert und in die damit verbundenen strategischen Debatten eingreift. Ihr ganzes Werk und Wirken durchzieht eine einzige Frage: Wie können sich die Arbeiter, Frauen und Männer, wie kann sich die große Mehrheit des Volkes zu jenen historischen Aktionen befähigen, durch sie endlich ihre eigenen Geschicke in die eigenen Hände nehmen können. Das Ziel sozialistischer Politik waren für sie weder irgendwelche Eigentumsverhältnisse oder Staatsformen an sich, sondern ausschließlich in ihrer Bedeutung dafür, wie sie politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle Selbstorganisation und Selbstverwaltung ermöglichen.“ (S. 10)
Inhalt
Behandelt werden „Rosa Luxemburgs Staatsverständnis in der marxistischen Tradition der II. Internationale“ (Ottokar Luban), „Der Fall Millerand – Regierungsbeteiligung der Sozialisten als Testfall marxistischer Staatstheorie“ (Michael Brie), „Zwischen betrieblichen Kämpfen und Staat“ (Bernd Röttger), „Soziales Lernen und politische Macht“ (Lutz Brangsch), die Debatte über die Rolle der Nation bei Luxemburg, Lenin und dem Austromarxisten Otto Bauer (Walter Baier), sowie „Ökonomie und Politik im Denken Rosa Luxemburgs“ (Michael Krätke) und „Rosa Luxemburg und der Weg, der zu Gramsci führt und über ihn hinaus“ (Frigga Haug).
Alles in allem sind die Beiträge interessant und informativ, der Band somit mit Gewinn zu lesen. Werden dabei die grundsätzlichen Aspekte des Luxemburg’schen Denkens nachvollziehbar dargestellt und diskutiert, liegt die Schwäche deutlich in der historischen Kontextualisierung. Am deutlichsten zeigt sich dies gleich im ersten Beitrag von Ottokar Luban über „Rosa Luxemburgs Staatsverständnis in der marxistischen Tradition der II. Internationale“. Erkennbar darum bemüht, Luxemburg als Vertreterin der Marxismus und damit gleichsam als Repräsentantin der Linken zu profilieren, werden Personen und Gruppen links von Luxemburg gar nicht erst erwähnt. So heißt es: „Gegen die marxistische Ausrichtung der SPD machten sich Ende der 1890er Jahre in der deutschen Sozialdemokratie verstärkt revisionistische Bestrebungen bemerkbar.“ (S. 22) – Gegen die sich Luxemburg als Linke natürlich gewandt hat. Unerwähnt bleibt die sich zur selben Zeit konstituierende und radikalere Opposition innerhalb der Partei, die als die „Jungen“ in die Geschichtsschreibung eingegangen sind, und die mit ihrer Skepsis gegenüber der zunehmenden Verbürgerlichung der Partei durch den Parlamentarismus sich die heftige Kritik von Bebel und Engels zuzogen. Und viele dieser „Jungen“ haben sich auch als MarxistInnen verstanden!
Ähnlich problematisch eine andere Stelle, an der es heißt: „Als Rosa Luxemburg aufgrund ihrer 1906 gemachten Erfahrungen in den revolutionären Kämpfen im polnischen Teil Russlands für einen offensiven Klassenkampf unter Anwendung des Massenstreiks eintrat, erfuhr sie von den Parteiführern um Bebel keine Zustimmung, sondern nur Zurückweisung.“ (S. 24) Luban unterlässt jede auch nur grobe Skizzierung der damaligen Positionen. So erfährt man auch nichts von Raphael Friedbergs Thesen zum revolutionären Generalstreik, deren zunehmenden Einfluss mit ein Auslöser für die Massenstreikdebatte war und in deren Verlauf Luxemburg sehr deutlich gegen den Anarchismus polemisierte, der mit Bezug auf die russische Revolution von 1905 kurzerhand zum „ideologische[n] Aushängeschild des konterrevolutionären Lumpenproletariats“ erklärt wird (Luxemburg 1906: S. 91). Nicht zufällig wurde Friedeberg dann auch aus der SPD ausgeschlossen, während Luxemburg bei aller „Zurückweisung“ solche Befürchtungen nicht hegen musste, übte sie ihre Kritik doch „ständig nur innerhalb der Parteischranken“ (Pannekoek zit. n. Brendel 2001: S. 137). Bei solcherart vereinseitigter Darstellung, bei der immer wieder Luxemburg, ReformistInnen und BlanquistInnen gegenübergestellt werden, ist es natürlich ein halbwegs Leichtes, Luxemburg als die dialektisch-kluge, radikale Realpolitikerin in Szene zu setzen.
Manchmal hält der Band auch den einen oder anderen Moment zum Schmunzeln bereit. So erwähnt Michael Krätke in seinem übrigens sehr lesenswerten Aufsatz:
„Nicht nur für Russland galt, was Trotzki 1906 behauptete: ‚Der Kapitalismus erscheint als ein Kind des Staates.’ Luxemburg sah das ebenso und betonte die forcierte Förderung des Kapitalismus in Russland – unter der Fuchtel des zaristischen Regimes. Russland war aber kein Einzel- oder Ausnahmefall. Im Gegenteil. Gewalt, organisierte staatliche Gewalt spielte seit jeher eine zentrale Rolle in der Geschichte des modernen Kapitalismus. Ohne die politische Gewalt als ‚Vehikel des ökonomischen Prozesses’ (Luxemburg), ohne die politisch wie militärisch betriebene und abgesicherte Markteroberung, die fortgesetzte kapitalistische Landnahme als eine notwendige Seite des historischen Gesamtprozesses der Akkumulation, war diese Geschichte nicht zu begreifen.“ (S. 192)
Man erinnert sich dunkel an Friedrich Engels, der im Gestus des großen Wissenschaftlers die anarchistischen Kinderkrankheiten zurechtwies, indem er Bakunin vorwerfen zu können meinte, dass es die „Hauptsache“ in der Theorie Bakunins sei,
„daß er nicht das Kapital, d.h. den durch die gesellschaftliche Entwicklung entstandenen Klassengegensatz von Kapitalisten und Lohnarbeitern für das zu beseitigende Hauptübel ansieht, sondern den Staat. Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats.“ (Engels 1872: S. 388; Hervorh. i. O.)
Fazit
Dass der Anarchismus keine ernsthafte Erwähnung findet ist zwar nicht unbedingt erstaunlich, aber dennoch ärgerlich. Dies zum Einen, weil Luxemburg immer wieder gegen den Anarchismus polemisierte; und zum Anderen, weil, wenn er denn mal wie bei Haug Erwähnung findet, im Vorbeigehen als „utopistische und anarchistische abstrakte Negation“ (S. 208) in den Mülleimer für dümmliche Theorien geschmissen wird. Freilich wird erst gar nicht erläutert, was man denn unter dieser „abstrakten Negation“ genauer zu verstehen hat. Schließlich gilt es darauf hinzuweisen, dass die Kernfragen, die sich aus den Positionen Luxemburgs ergeben, zum Beispiel das Verbinden von Parteiform und Parlamentarismus mit der Selbstorganisation der Klasse, das Festhalten am Konzept der Eroberung des Staates bei gleichzeitigem Pochen auf die Selbstbestimmung der Menschen, sich meines Erachtens ernsthaft fundiert nur in Abgrenzung zum anarchistischen Denken diskutieren lassen. Erst wenn Stärken und Schwächen der sozialistischen Bewegung(en) in ihrer ganzen Breite mit in die Darstellung einbezogen werden, sind wirkliche Erkenntnisse für Geschichte und Gegenwart zu erwarten. In diesem Sinne sollte die Bemerkung Walter Baiers über das „bemerkenswert[e] und reichhaltig[e] (…) geistige Erbe“ der Linken (S. 168) aufgegriffen und verallgemeinert werden. Voraussetzung dafür aber ist es, dass man die Arroganz vermeintlicher geschulter DialektikerInnen ablegt, wie sie eindrucksvoll Haug in ihrem Beitrag unter Beweis stellt, wenn sie kurzerhand erklärt:
„Gewohnt, in einfachen Gegenüberstellungen von Gut und Böse, Freund und Feind zu denken, entgehen dem Alltagsverstand die dialektischen Nuancierungen, die aber grundlegend sind für Luxemburgs Marxismus und ihre Geschichtsauffassung bestimmen.“ (S. 212)
Man hätte hoffen können, die HeldInnen in der Handhabung der Wunderwaffe Dialektik würden sich, durch die letzten hundertfünfzig Jahre sozialistischer Geschichte belehrt, zumindest ein wenig mehr Zurückhaltung auferlegen. Aber ein gewisse Wiederkehr des schon immer alles besserwissenden Marxismus scheint im Gefolge der aktuellen Krisenprozesse sowieso konstatierbar zu sein. Schade eigentlich.
Zusätzlich verwendete Literatur
Cajo Brendel 2001: Anton Pannekoek. Denker der Revolution. Freiburg: ca ira Verlag.
Friedrich Engels 1872: An Theodor Cuno, in: MEW. Band 33. Berlin: Dietz Verlag, 1965. S. 388-392.
Rosa Luxemburg 1906: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: dies. Schriften zur Theorie der Spontaneität. Reinbek: Rowohlt Verlag, 1970. S.89-161.
Zwischen Klassenstaat und Selbstbefreiung. Zum Staatsverständnis von Rosa Luxemburg.
Nomos Verlag, Baden-Baden.
ISBN: 978-3832941482.
242 Seiten. 29,00 Euro.