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Der bewegte Marx

Buchautor_innen
Gerhard Hanloser/ Karl Reitter
Buchtitel
Der bewegte Marx
Buchuntertitel
Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus

Hanloser und Reitter haben in einem schmalen Büchlein bei aller Abstraktion einen atemweitenden, mutmachenden Beitrag dazu geliefert, den Klassenkampf im Kapitalverhältnis als solchen wiederzuentdecken.

[Besprechungen können auch dann nötig sein, wenn dem Rezensenten die Kenntnisse fehlen, alle Behauptungen auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Die Schlussfolgerungen der Autoren aus KAPITAL II und III wirken überzeugend und stoßen Fenster und Türen auf. Überprüfen kann ich die Auslegung nicht, das heißt, ich müsste mich sofort geschlagen geben, wenn aus dem ungeheuren Textfundus der letzten zwei Bände des Hauptwerks von Marx mir jemand ein etwa widersprechendes Zitat um die Ohren hauen wollte. Trotz dieser Inkompetenz schien uns ein Hinweis auf diese Neuerscheinung zu dringlich, um erst auf einen kenntnisreicheren Marxologen zu warten. Red]

Man kennt seit längerer Zeit den Arbeiterbewegungsmarxismus. Vor allem die Gruppe der Wertkritiker hat den Begriff lanciert und fast schon als Schimpfwort benutzt. Gemeint ist und war damit die Behauptung, dass im Gesamtwerk von Karl Marx sich zwei Tendenzen fänden, die sich gegenseitig mehr oder weniger ausschließen. Marxens Arbeiterbewegungsmarxismus hätte darin bestanden, dass er vom Aufstieg und schließlichen Sieg der Arbeiterklasse ein Ende nicht nur des Kapitalismus, sondern der Tauschgesellschaft selbst erwartete.

Die Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts hätten von der Hoffnung auf die Arbeiterklasse nichts übrig gelassen. Geblieben dagegen soll sein Marxens Lehre von der Ware und die darauf aufbauende vom Wert und von der Tauschgesellschaft.

Zum Sturz des Kapitalismus wäre demnach nichts zu erwarten von Massenstreiks und Arbeiteraufständen, sondern nur von den immanenten Tendenzen der Selbstzerstörung des Kapitalismus. Volkstümlich als großer Kladderadatsch bezeichnet, auch wenn die Gruppe um Kurzens “Krisis” – vor der Spaltung – das nie zugeben wollte.

Merkwürdig freilich, dass Kurz in seinen regelmäßigen journalistischen Beiträgen, zum Beispiel im FREITAG, sich, so ziemlich wie alle anderen wohlwollend bis unterstützend zu Streiks äußert, mit Recht gegen Hartz IV argumentiert - und sich ziemlich im Rahmen der gesamten linken Argumentation bewegt. Das zeigt schon eine Schwäche der ursprünglichen Position der KRISIS-Gruppe: es folgte keine andere Möglichkeit von Praxis aus ihr als Kommentierung der Symptome des nahenden Zusammenbruchs. Entgegen anderslautenden Beteuerungen: Einkehr im Kontemplativen. Sarkastische Abfertigung der ganzen Richtung, zu der von den Autoren auch die bekannte Einführung von Heinrich 2008 gerechnet wird:

"Der Zirkulationsmarxismus leugnet den substanziellen Zusammenhang von Erkenntnis und Erfahrung im Klassenkampf. An die Stelle des Zusammenhangs von gesellschaftlichem Sein und Einsicht tritt schriftliche Aufklärung und Lektüre-Empfehlung." (S. 30)

Um das in dieser ganzen Richtung festgelaufene Gefährt revolutionären Denkens wieder in Bewegung zu setzen, haben Hanloser und Reitter eine Retourkutsche gestartet. In dem genau 64 Seiten umfassenden Büchlein “Der bewegte Marx” lancieren sie zur Kennzeichnung der ganzen Gruppe den Begriff “Zirkulationsmarxismus”. Gemeint damit einer, der im Grunde nur auf dem ersten Band des KAPITAL beruht, also auf der Darstellung von Wert, Äquivalententausch und vor allem Fetisch.

Zunächst gehen die beiden Autoren auf die Väter dieser Linie ein und stoßen – unvermeidlich – auf Horkheimer, Adorno. Selbst in der von beiden lange ängstlich versteckten “Dialektik der Aufklärung” entdecken die Autoren eine Art Geschichts- und Entwicklungsfeindschaft. Vielen ist schon aufgefallen, dass von dem dort dargestellten Odysseus und seiner Ausrichtung auf Tausch bis zur Zeit des entwickelten Kapitalismus kein Unterschied mehr statuiert wird. Von der einfachen Ware und dem Tauschverhältnis führt kein Weg zum Kapital als Mittel der Ausbeutung von Menschen durch Menschen.

Nur kurz wird die verhängnisvolle Abhängigkeit von Horkheimer/Adorno von der Staatskapitalismus-Theorie Pollocks erwähnt. Nach dieser gibt es nur einen graduellen Unterschied zwischen dem Wirtschaftssystem des deutschen Faschismus, der Sowjetunion und Roosevelts New Deal. Ohne es ausdrücklich zu sagen, interpretierten die beiden, nach Frankfurt zurückgekommen, auch die Wirtschaft der Bundesrepublik in der Restaurationsphase noch nach diesem Schema - wie in anderen Fällen, recht konsequenzlos, bei gleichzeitigen rhetorischen Beiträgen zum Preis der freien Wirtschaft in USA und BRD. Mittels der Pollock-These ersparten sich die beiden jede neue Überprüfung des Stands der Entwicklung.

Gerade an der Frankfurter Schule ist die Zermahlung der Welt zum Immergleichen zu beobachten, bei emphatischer Verurteilung genau dieses Vorgangs. Sie erzeugten immer neu, was sie verabscheuten.

Neben Stefan Breuer sehen Hanloser und Reitter in Postone einen weiteren Vordenker der Richtung. So verdienstvoll Postones Ansatz zu Erklärung des Nationalsozialismus war – als einen Angriff gegen die Wertabstraktion selbst – so entleert wirken seine letzten Arbeiten. In diesen hat jedes einzelne menschliche Subjekt seinen Platz für das einzig verbleibende geräumt - das automatische Subjekt des Werts. In dieser Verfallsgeschichte hat er das Treffende seiner ursprünglichen Faschismusanalyse so weit vergessen, dass er dem gründlich verfehlten Begriff eines Islamo-Faschismus eine offene Flanke bot.

In der Öde einer solchen Theorie des unveränderlich Immergleichen suchen Hanloser und Reitter aufs Neue nach Aktionspotentialen und – wie der Titel sagt – Bewegungsmöglichkeiten für das kollektive Subjekt der Arbeiterklasse. Und zwar so, dass durch die Erkenntnisse des ersten Bandes hindurch der Klassenkampf sichtbar wird, wie er das Kapitalverhältnis notwendig konstituiert.

Hanloser und Reitter finden in den "Resultaten des unmittelbaren Produktionsprozesses" von Marx ein entscheidendes Zitat:

"Die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter ist daher die Herrschaft der Sache über den Menschen, der toten Arbeit über die lebendige, des Produkts über den Produzenten [...] Es ist der Entfremdungsprozess seiner eigenen Arbeit. Insofern steht hier der Arbeiter von vornherein höher als der Kapitalist, als der letztere in jenem Entfremdungsprozess wurzelt und in ihm seine absolute Befriedigung findet, während der Arbeiter als sein Opfer von vorn herein dagegen in einem rebellischen Verhältnis steht und ihn als Knechtungsprozess empfindet." (S. 18)

Es stellt sich heraus: die Herrschaft der Sachen, der heute so oft berufene Sachzwang, ist keineswegs ein neutrales Schicksal. Er ist vielmehr Mittel, einer Menschengruppe, eine andere in solche Abhängigkeit zu bringen, dass ihre maximale Ausbeutung dauerhaft gewährleistet wird.

Von da aus der weitere Gang der Untersuchung. Die Verfasser weisen nach, dass es keineswegs ewige Gesetze des Grades der Ausbeutung gibt. Vielmehr bestimmen diese sich aus dem Verhältnis von "notwendiger Arbeitszeit" und tatsächlich durch den Zwang der Kapitalisten eingetriebener. Unter "notwendiger Arbeitszeit" ist zu verstehen diejenige, die beim jeweiligen Stand der Produktivkräfte auf jeden Fall zu leistende, um die Reproduktion der gesamten Gesellschaft zu sichern. Klar: diese würde unter anderen Verhältnissen vielleicht zwei bis drei Stunden am Tag ausmachen: alles, was darüber ist, ist materielle Grundlage der Abpressung von Mehrwert und, davon wieder abgeleitet, von Profit.

Wichtig die Dynamisierung aller Begriffe in diesem alt-neuen Denken, das Hanloser und Reitter im gesamten KAPITAL entdecken, wenn einmal die Bornierung auf den ersten Band überwunden ist. So ist auch die Arbeiterklasse kein einfach vorhandener Bestand, keine abzählbare Menge auf einem imaginären Fabrik- oder Kasernenhof. "Tatsächlich ist der Prozess der Bildung des Proletariats nie zu Ende. Er erfolgt mit ökonomischen wie mit außerökonomischen Mitteln, beruht auf direkter Gewalt, aber auch auf Ideologie." (S. 56) Die zwangsweise Zusammengepferchten im Dienst des Kapitals entdecken früher oder später, mit mehr oder weniger Sympathie füreinander, dass sie nur eine Chance haben: sich gemeinsam auf die Hinterbeine zu stellen. Sich gemeinsam zu wehren. Das ist die eine Seite des Prozesses. Die andere, in diesem Zusammenhang freilich nicht auszuführende, dass umgekehrt im Lauf der Auseinandersetzungen sich Rebellierende außerhalb der Fabriktore als Teil der um Produktion und Reproduktion besorgten Menge verstehen und den Zusammenhang mit den Kämpfen innerhalb der Fabrik erkennen. Die neuen Fabrikationsprozesse haben den Unterschied zwischen Straße, Wohnung und Fabrik ohnedies eingeebnet. Fahradkuriere und Lastwagenfahrer unter dem Joch ihrer Dispatcher sind schließlich genau so an der gesamten Mehrwertproduktion beteiligt wie Fließbandwarte, die den Transfer von Halle 1 zu Halle 2 am Laufen halten.

Alle massenhaften Kämpfe in der BRD seit den sechziger Jahren erweckten zunächst den Anschein, als breche da etwas ganz Neues auf – außerhalb der Klassenfrage. Auflehnung gegen Brokdorf und andere Standorte der Atomindustrie, der lange Widerstand gegen Startbahn West, Ablehnung von Genmais, Montagsdemos usw. - alles außerhalb der Fabrik. Ausgangspunkt für das ehemalige klassenleugnende Menschheitspathos der GRÜNEN: Gerade in den Montagsdemonstrationen und ihrer scharfen Verurteilung von Hartz IV und Rente 67 wird aber deutlich, dass es sich hier um Massenwiderstand handelt gegen den Versuch des Gesamtkapitals, die gesamte Lebenszeit in nach Belieben verwertbare Arbeitszeit zu verwandeln. Nicht nur in der bitteren Rückweisung der Aufzehrung des Lebensrests im Alter durch Rente 67 zeigt sich, dass der Kampf inzwischen die Knochen erreicht hat, die eigne Lunge, den krummgewordnen Rücken. Das wurde aber – im Rückblick – schon in den meisten, scheinbar nur ökologischen Abwehrkämpfen genau so deutlich. Es ging um die Ressourcen, die Reproduktionsmöglichkeit. Wer nicht mehr spazieren gehen kann, wem der Fluglärm den Schlaf raubt, der kämpft genau so ums Leben, wie der Arbeiter am Band, der den Vernichtungsakkord sabotierte.

Insofern herrscht faktisch schon an vielen Stellen Klassenkampf. Man muss, wie Hanloser und Reitter bemerken, ihn nur an vielen Stellen und in vielen Erscheinungsformen erkennen, darf sich nicht fixieren lassen auf die traditionellen Formen von Streik – obwohl auch diese in einer vor zwanzig Jahren unvorstellbaren Form zugenommen haben – und Werksbesetzung.

Es müsste "nur" das Bewusstsein dieses Zusammenhangs hinzutreten. In diesem "nur" liegt alles. Es scheint auf der Hand zu liegen – und würde doch von vielen an den genannten Bewegungen Beteiligten mehr oder weniger lebhaft bis entrüstet bestritten. Hier liegt eine Aufgabe, zu deren theoretischer Begründung Hanloser und Reitter in ihrem schmalen Büchlein bei aller Abstraktion einen atemweitenden, mutmachenden Beitrag geliefert haben. Die Kategorien, die sie hier aus dem ganzen KAPITAL entwickeln, müssten nun bei Beschreibung und Interpretation von Einzelbewegungen der Klasse angewandt und überprüft werden.

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Die Rezension erschien zuerst im September 2008 auf stattweb.de (Update: kritisch.lesen.de, ast, 12/2010)

Gerhard Hanloser/ Karl Reitter 2008:
Der bewegte Marx. Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-486-1.
64 Seiten. 7,80 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Der bewegte Marx. Erschienen in: . URL: https://kritisch-lesen.de/s/7jJ85. Abgerufen am: 10. 10. 2024 22:59.

Zum Buch
Gerhard Hanloser/ Karl Reitter 2008:
Der bewegte Marx. Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-486-1.
64 Seiten. 7,80 Euro.