Bolivien - Die Zersplitterung der Macht
- Buchautor_innen
- Raul Zibechi
- Buchtitel
- Bolivien
- Buchuntertitel
- Die Zersplitterung der Macht
Der Journalist Raul Zibechi schildert anhand der zumeist indigenen Basisbewegungen in Bolivien, wie freiheitliche kommunitäre Organisationen wie die Nachbarschaftsvereinigungen ihr Umfeld verändern und den Staat zurückdrängen können.
„Die nicht-staatlichen Machtorgane der Aymara sind an Orten entstanden, an denen kommunitäre Maschinen funktionieren. Es handelt sich dabei um für indigene Agrargemeinschaften typische soziale Mechanismen, die ‚ausgelagert‘ und ‚dekommunalisiert‘ wurden, um von der Gesellschaft in Bewegung als nicht-staatliche Formen der Mobilisierung und Schaffung von kollektiven Räumen genutzt werden zu können, in denen das ‚gehorchende Befehlen‘ in der täglichen Praxis funktioniert“ (S. 21).
Diese Gemeinschaften seien als Folge von Migrationswellen des Neoliberalismus entstanden, der Großteil sei erst nach 1985 in die Städte gezogen und habe die ländlichen Gemeinschaften neu erfunden. 2004 gab es in El Alto bereits 540 Nachbarschaftsvereinigungen bei einer Gesamtbevölkerung von 750000 Einwohnern, sodass auf 1300 bis 1400 Einwohner eine Vereinigung entfiel. Ihre Forderungen galten der sozialen Infrastruktur wie Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Strom, Trinkwasser und Verkehrswege. Vollversammlungen werden in der Regel alle vier Wochen abgehalten und die Repräsentanten der Gemeinschaften wechseln turnusmäßig, je nach dem, wer gerade an der Reihe ist. Über Entscheidungen wird abgestimmt, bei wichtigen Entscheidungen muss es jedoch zu einem Konsens kommen. Dort werden in der Regel auch Protestdemonstrationen beschlossen und organisiert, an denen sich zu beteiligen Pflicht ist. Dies führt gelegentlich auch zu kuriosen Verwicklungen: „Wenn du nicht an den Protestmärschen teilnimmst, werden deine Kinder Probleme in der Schule bekommen“ (S. 48). Sehr lebendig sind die Beschreibungen der Kampfformen der Bewegungen, die als plurale Aktionsformen immer neu erfunden werden: „Und die massenhafte Mobilisierung zur Umzingelung der Städte wird nach dem einheimischen Insekt taraxchi genannt, das immer in großen Gruppen auftritt“ (S. 75). Pulga (Floh) umschreibt hingegen eine Blockadeform, die als Blitzaktion meist nachts durchgeführt wird, wayronko (Erdkäfer) sind Blitzmärsche zur Ablenkung der Sicherheitskräfte und sikitini (bunte Ameise) Aufmärsche im Gänsemarsch. Zibechi symphatisiert offen mit den Basisbewegungen und verteidigt die Selbstorganisation, was ihn allerdings gelegentlich in direkte Konfrontation zur Regierung von Evo Morales rückt, deren MAS (Movimiento al Socialismo - Bewegung zum Sozialismus) er mit einem von den Gesellschaften abgetrennten Körper vergleicht. Ob er damit Recht hat oder nicht - problematischer ist sicher das kommunitäre Justizsystem, wo Hängepuppen in den Straßen hängen, welche - zum Teil mit abgeknickten Köpfen - mit Schildern wie „Tod dem Dieb“ versehen sind und die Nachbarschaft selbst entscheidet, ob der potentielle Delinquent umgebracht werden soll. „Die Hängepuppen sind jedoch ein anders gelagerter Fall: Es handelt sich eher um eine Methode der Selbstverteidigung als um eine Form der kommunitären Rechtsprechung, wie rudimentär diese auch immer im urbanen Raum verwirklicht wird“ (S. 136). Für andere wäre der Begriff Voodoo-Zauber die bessere Umschreibung. Nichtsdestotrotz ist das Buch eine sehr gute Einführung in ein Thema, das wohl noch einige Zeit von sich reden machen wird.
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Die Rezension erschien zuerst im Juni 2009 auf stattweb.de (Update kritisch-lesen.de, hsc, 01/2011)
Bolivien. Die Zersplitterung der Macht.
Edition Nautilus, Hamburg.
ISBN: 978-3-89401-591-6.
224 Seiten. 14,90 Euro.