Bewegungsfreiheit oder Grenzregime?
- Buchautor_innen
- Sabine Hess / Bernd Kasparek / Stefanie Kron / Mathias Rodatz / Maria Schwertl / Simon Sontowski (Hg.)
- Buchtitel
- Der lange Sommer der Migration
- Buchuntertitel
- Grenzregime III
Der Sammelband stellt die Bedeutung der Bewegungen geflüchteter Menschen aus verschiedenen Kontinenten und Ländern sowie Möglichkeiten ihrer Unterstützung vor.
Was in Mainstreammedien als „Flüchtlingskrise“ gelabelt wird, kann auch als historische und strukturelle Niederlage des europäischen Grenzregimes gesehen werden. Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, die zumeist mit dem Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (Kritnet) in Verbindung stehen, thematisieren in einem Sammelband von 19 Essays, Reportagen und akademischen Analysen die „beharrlichen Migrationsbewegungen“ (S. 6), die im Sommer 2015 die „Ordnung der Kontrolle“ (S. 6) der Grenzen zum Kollabieren brachte. Das Kritnet hat bereits seit 2010 die Diskurse und Praktiken des europäischen Grenzregimes in zwei früheren Sammelbänden zur Debatte gestellt.
Nach dem „arabischen Frühling“ wurde der tausendfach selbstorganisierte Aus- und Aufbruch aus den Flüchtlingslagern und anderen Krisenherden von unzähligen Solidaritätsnetzwerken praktischer Fluchthilfe unterstützt. Dementsprechend analysieren die Autor*innen die Entwicklungen im Feld der Migration in Europa seit der zeitweiligen Öffnung der Grenzen 2015. Sie gehen von einem europäischen Ausgangspunkt der Frage nach, wie sich seitdem die Kräfteverhältnisse verschoben haben und beleuchten zahlreiche Aspekte der Bewegung der Geflüchteten. Der Aspekt transkontinentaler Migrationsbewegungen und die Rückwirkungen auf die Herkunftsländer der Geflüchteten bleiben dabei zwangsläufig unberücksichtigt. Auch Migrationsbewegungen innerhalb nicht-europäischer Kontinente – wie zum Beispiel die Auseinandersetzungen um die mexikanische US-Grenze – werden in diesem Rahmen nicht aufgenommen. Nichtsdestotrotz sprechen die verschiedenen Essays so viele unterschiedliche Aspekte an, dass hier nur auf wenige eingegangen werden kann.
Die Grenzen der „Willkommenskultur“
So werden in mehreren Beiträgen die Chancen und Grenzen zivilgesellschaftlichen Engagements anhand der Seenotrettung der Organisation Sea Watch und am Alarm Phone (AP) sowie an der sogenannten „Willkommenskultur“ thematisiert. Im Zusammenhang mit dem Bewegungswissen der Geflüchteten gelingt es den Aktivist*innen des AP in der Ägäis, erfolgreiche Grenzüberschreitungen gegen Push-Back Operationen (das organisierte Abfangen und Zurückbefördern von Booten) zu verteidigen oder solche Rechtsverletzungen durch Frontex und andere Grenzschutzeinheiten zumindest zu dokumentieren. Dabei hilft ein Kommunikationsnetz syrischer Aktivist*innen mittels Smartphones und anderer elektronischer Hilfsmittel, ein „Counter-knowledge“ (S. 103), also ein „Gegenwissen“, zu erschaffen und weiterzugeben. Dieses kann in kritischen Situationen für „Safety at Sea“ (so der Titel einer Broschüre des AP) genutzt werden. Die Forderung „Fähren statt Frontex“ (S. 112) ist Ausdruck davon, dass sich das AP immer als politisches Projekt für Bewegungsfreiheit verstanden hat.
Im Schatten einer eher ethisch-humanistisch begründeten „Willkommenskultur“, die zunehmend die Tendenz hat, Geflüchtete zum Objekt bevormundender patriarchaler Fürsorge zu machen, konnte hingegen eine „robustere“ Außengrenzsicherung entwickelt werden. Durch den EU-Türkei-Deal, eine zunehmende Militarisierung des Mittelmeeres (durch NATO und EU-Marine-Einsätze) – angeblich zur Schlepperbekämpfung – massiven gesetzlichen Verschärfungen, die einem Abbau des Rechtes auf Asyl und anderer menschenrechtlicher Schutzgarantien gleichkommen, wird versucht, eine „Rekonstituierung und Restabilisierung des Grenzregimes“ (S. 7) durchzusetzen. Eine „Versicherheitlichung“ und zunehmende Kriminalisierung von Migration, die verbunden ist mit „neuen Formen des humanitären Regierens“ (S. 14), reduziert das politische und mit Rechten ausgestattete Subjekt der „Autonomie der Migration“ (S. 8) zu passiven Empfänger*innen humanitärer Hilfe.
Die Herausgebenden hinterfragen Diskurse der „Vulnerabilität“ (Verletzlichkeit und Schutzbedürfnisse), in denen nur bestimmten Gruppen wie Frauen, Kindern oder Kranken Schutz zugestanden wird. Der Beitrag von Johanna Neuhauser, Sabine Hess und Helen Schwenken kritisiert, dass in den „gegenderten“ Refugee und Border Studies oft „auf die Vulnerabilität geflüchteter Frauen abgestellt“ (S. 185) wird, wobei durch die Fokussierung auf sexualisierte Gewalt andere Formen der Gewalt aus dem Blick genommen werden. Sie stellen die Frage, inwieweit „Migrationsregime heteronormative Strukturen stützen“ (S. 186) und Geschlechterwissen politisch auch zum Anheizen anti-migrantischer Ressentiments genutzt wird.
Bleibende Leerstellen
Was dies wiederum für LGBTIQ-Geflüchtete bedeutet, wird nicht ausgeführt. Es bleibt letztlich in diesem Beitrag der drei Forscher*innen wie in einigen anderen Essays mehr bei einem bloßen Apell nach einer „differenzierten Forschung“ – hier etwa zu Gender und Flucht aus einer feministisch-antirassistischen Perspektive. Nicht nur deswegen erweist sich der vorliegende Band als etwas akademisch überlastet. Fast alle Autor*innen sind nicht nur als Unterstützende sondern auch in der akademischen Forschung aktiv. Sieben von 19 Beiträgen wurden von promovierten Autor*innen erstellt, was sich teilweise in schwieriger Fachsprache bemerkbar macht. Die Perspektive der Geflüchteten selbst ist nicht mit eigenen Beiträgen von Geflüchteten oder ihrer Netzwerke vertreten. Obwohl die Herausgebenden den Anspruch haben, Flucht und Migration als ein „grundlegendes Strukturmerkmal kapitalistischer Umwälzungsprozesse“ (S. 17) darzustellen, gelingt dies nur ansatzweise. An einigen konkreten Beispielen werden die historischen Veränderungen in den Kämpfen um Bewegungsfreiheit und der Reorganisierung der Grenzregime deutlich. Oft werden in einigen Beiträgen mehr Fragen gestellt als neue Perspektiven eröffnet. Die Herausgebenden und viele Beiträge machen aber die antagonistischen Momente der Dynamik der Migrationsbewegung deutlich, die sich erfolgreich der Kontrolle und Regulation durch staatliche und transnationale Repressionsinstrumente entzogen hat.
Antirassistische Interventionen als Teil einer solidarischen, internationalistischen sozialen und politischen Bewegung benötigt dringend einer politischen Strategie. Der vorliegende Band ist trotz aller kritischen Einwände ein wichtiger Beitrag dazu. So forciert er nicht zuletzt die Repolitisierung des Teils der Unterstützer*innenbewegung, deren karitative Handlungen das kollektive Aufbegehren fast vergessen gemacht haben. All denen, die einen langen deutschen Herbst (rassistischer und zunehmender sozialer Ausgrenzungen) verhindern wollen, sei er ans Herz gelegt! Er macht einen nötigen Perspektivwechsel möglich: Die radikale Linke hat die Kämpfe der Migrant*innen und Geflüchteten bisher „nicht als Teil von Protesten für das Recht auf Teilhabe, zu denen etwa auch die Bewegungen für das Recht auf Stadt und gegen städtische Verdrängungsprozesse gehören, verstanden“ (S. 199). Die Proteste der Geflüchteten stellen eben nicht nur das Thema Rassismus auf die Tagesordnung. Sie fordern vielschichtige Veränderungen heraus: im Umgang mit Wohnraum sowie dem Zusammenleben und politischen Zusammenarbeiten in der Stadt wie auf dem Land.
Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III.
Assoziation A, Hamburg.
ISBN: 978-3-86241-453-6.
272 Seiten. 18,00 Euro.