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Antiimperialismus revisited

Buchautor_innen
Linksjugend ['solid] Hamburg
Buchtitel
Mit Kapitalismus ist kein Frieden zu machen
Antihegemoniale Positionen zur westlichen Kriegspolitik haben es nicht leicht. Ein Sammelband der Linksjugend ['solid] setzt dem etwas entgegen.

Antimilitaristisches und antiimperialistisches Denken hat aktuell nicht gerade Konjunktur in der bundesdeutschen Linken. Gerade in den vergangenen zwanzig Jahren hat es erbitterte innerlinke Debatten um eben jenen Themenkreis gegeben, der noch zu Beginn und weit bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ein Element materialistischer Kapitalismusanalysen (etwa Lenin, Luxemburg) war. Ein Zusammenhang, der getrennt zu werden droht. Dies ist paradox, denn mittlerweile, und da ist den Herausgeber_innen des Sammelbandes „Mit Kapitalismus ist kein Frieden zu machen“ zuzustimmen, ist für viele Krieg „wieder zur zweiten Natur geworden“ (S. 7) und militärische Interventionen zur Sicherung geopolitischer Macht und Ressourcen werden offen in Strategiepapieren mit jenen Interessen legitimiert. Umso mehr scheint also eine Notwendigkeit zu bestehen − wenn man denn Kriege im Kontext der kapitalistischen Produktionsweise begreifen möchte – eine konkrete Analyse „der heutigen internationalen sozio-ökonomischen und geopolitischen Widersprüche auf der Basis der Kritik der politischen Ökonomie theoretisch und praktisch neu [zu] formulieren.“ (S. 11) Dieser Aufgabe hat sich die Linksjugend [solid] Hamburg mit einer Veranstaltungsreihe gestellt, deren sieben Vorträge nun in Form eines Sammelbandes erschienen sind. Thematisch decken die Beiträge dabei sowohl eine theoretische Einführung in aktuelle marxistische Imperialismustheorien sowie empirische Analysen und Rekonstruktionen von Kriegen (Afghanistan), Konflikten (Iran) und den neuen strategischen und militärpolitischen Schwerpunkten der Bundeswehr (Afghanistan, Rekrutenwerbung) ab.

Materialistische Imperialismustheorien

Den inhaltlichen Auftakt in den Sammelband macht Klaus Henning mit einem Aufsatz, der sich mit den theoretischen Grundlagen gegenwärtiger Imperialismusanalysen auseinandersetzt. Nach einer kurzen Skizzierung von konservativ-affirmativen und liberalen Imperialismuskonzeptionen, die im Kern imperiale Strategien als Notwendigkeit internationaler Sicherheit propagieren oder die Verflechtung mit ökonomischen Interessen ausblenden, widmet sich Henning den neueren marxistischen Imperialismustheorien von David Harvey und Leo Panitch. Das kritische Moment der beiden Ansätze besteht nach Henning im Versuch der Klärung, „wie gerade aus dem Kapitalverhältnis heraus permanent neue imperialistische Abhängigkeiten und Konflikte auf globaler Ebene entstehen“ (S. 14). Beide Autoren setzen in ihrer Analyse verschiedene Schwerpunkte. Für Panitch ist das Verständnis des Staates als Garant für die „Aufrechterhaltung des kapitalistischen Reproduktionsprozesses“ (S. 19) von zentraler Bedeutung. Der Staat organisiert also unter anderem auch die Expansion des Kapitals, in dem er verschiedene Formen der staatlichen Expansion organisiert. Dies kann zum einen „informell“ geschehen, indem Hegemonialmächte einzelne Staaten in ihrem Einflussgebiet dazu bringen, bestimmte wirtschaftspolitische Konzeptionen zu übernehmen oder „formell“, indem mit militärischen Mitteln die jeweiligen Gebiete besetzt und kontrolliert werden. Beide Formen können sich dabei ablösen oder in Teilen auch überlappen. David Harveys Analyse fußt dagegen in einer Krisentheorie, nach der das überschüssige Kapital in Zeiten der Verwertungskrise in externe Märkte abfließt. Sind diese Märkte nicht offen beziehungsweise noch nicht geschaffen, wird mittels ökonomischen Druckes oder militärischer Invasion „Marktfreiheit“ geschaffen (S. 24). Harvey erweitert diesen Ansatz, in dem er das in Anlehnung an Marx‘ „ursprünglicher Akkumulation“ entworfene Konzept der Akkumulation durch Enteignung einführt. Mit diesem Konzept versucht Harvey, Prozesse der Privatisierung von unter anderem Bildung, Wasser und geistigem Eigentum zu erfassen. In extremster Form kann dies auch in Kriegen münden, durch die beispielsweise Energiequellen unter Kontrolle gebracht werden.

Beide Ansätze divergieren vor allem hinsichtlich ihrer Einschätzung der Konfliktlage zwischen den einzelnen imperialen Staaten. Leo Panitch geht mit seinem Begriff des „American Empire“ davon aus, dass die USA in der Lage sind, die anderen Industrieländer an ihrer Seite zu vereinigen und so einen imperialistischen Block zu schaffen (S. 25). Harvey setzt dem entgegen, dass im Rahmen der kapitalistischen Konkurrenz Staaten die Interessen „ihrer“ Kapitale vertreten und es so durchaus zu Konflikten zwischen den einzelnen imperialen Staaten kommen kann. Letzterer Position schließt sich auch Klaus Henning an, in dem er argumentiert, dass gerade in ökonomischen und politischen Krisenzeiten Spannungen zwischen den einzelnen Staaten entstehen können (S. 31), die dann auch imperiale Bündnisse bröckeln lassen. Vor allem die Interessen der EU und asiatischer Staaten in Konkurrenz mit den USA zu treten plausibilisiert seine These.

Pax Transatlantica?

An diesen theoretisch fundierten Beitrag schließt Jürgen Wagner mit einem Aufsatz an, in dem er detailliert die geostrategischen und geopolitischen Ansätze der USA und Europas vergleicht. Dabei diskutiert er ausführlich, welche machtpolitischen Konflikte die verschiedenen Interessen der USA und europäischer Staaten bedingen und welche Strategien beide Akteure zur machtpolitischen Eindämmung Chinas und Russlands gegenwärtig verfolgen. In diesem Kontext fällt auch immer wieder unter dem Namen der „Pax Transatlantica“ eine Neukonfiguration der geopolitischen und militärstrategischen Zusammenarbeit der USA und der europäischen Staaten. Der Idee nach soll den europäischen Staaten von Seiten der USA mehr Mitspracherecht in geopolitischen Fragen zuteilwerden. Im Gegenzug dazu sollen die europäischen Staaten mehr finanzielle und militärische Lasten der gegenwärtigen Kriege übernehmen. Dass dieser Anspruch in der Realität dann aber zu erheblichen Spannung zwischen den USA und den europäischen Staaten führte, allen voran Deutschland und Frankreich, arbeitet Wagner am strategischen Umbau der NATO nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion heraus. Mögliche machtpolitische Zugeständnisse an die europäischen Staaten wurden von den USA zurückgewiesen und reklamierten den alleinigen Führungsanspruch. Besonders verschärft wurde die Situation auch von den europäischen Bestrebungen, einen eigenständigen EU-Militärapparat aufzubauen. Wagner zeigt weiter auf, dass die westliche Hegemonie auch durch das ökonomische und politische Aufstreben Russlands und China ins Bröckeln gerät. Dies wird auch in den geopolitischen Strategiepapieren der USA und EU mit Besorgnis zur Kenntnis genommen und als neues Konfliktszenario beschworen. Ob die „Pax Transatlantica“ eine Zukunft hat, ist nach Wagner zu diesem Zeitpunkt ungewiss, denn auch innerhalb der EU sind gerade zwischen Deutschland und Frankreich in jüngster Zeit auf militärpolitischer Ebene deutliche Unstimmigkeiten zu erkennen.

Mit der geostrategischen und völkerrechtlichen Seite des Atomkonfliktes mit dem Iran setzt sich Niema Movassat in seinem Text auseinander. Movassat zeichnet zunächst die Geschichte des Irans im Kontext westlicher imperialistischer Bemühungen nach, welche von der Unterstützung autoritärer Regime, Initiierung von Regimewechseln und nicht zuletzt anfänglicher Unterstützung des politischen Islams reichten. Auch das iranische Atomprogramm, welches gegenwärtig Kern des Konfliktes ist, wurde maßgeblich in den 1960ern und 70ern mit Hilfe us-amerikanischer Technologie und know-how aufgebaut. Das im Zusammenhang mit dem iranischen Atomprogramm im hegemonialen mediopolitischen Diskurs zentrale Argument, der Iran verstoße gegen internationale Verträge, entkräftet Movassat mit einer Analyse des Atomwaffensperrvertrags, der juristisch auch dem Iran erlaubt, Uran anzureichern. Was steckt also hinter der vermeintlich juristischen Argumentation, der Iran verstoße gegen geltendes Völkerrecht? Movassat macht drei Faktoren aus, die das ungebrochene geopolitische Interesse des Westens am Iran begründen. Zunächst seien die großen Erdölreserven zu nennen, die gerade in den NATO-, EU- und US-Strategiepapieren als wichtige Ressource genannt werden und um die mit anderen Großmächten wie zum Beispiel China konkurriert wird. Der zweite Faktor sei der relativ geringe Einfluss westlicher Regierungen auf die Politik des Irans, was in Zukunft den Zugang zu den fossilen Ressourcen gefährden könnte. Abschließend führt Movassat die geopolitische Funktion des Irans an, der mit seiner Lage am Persischen Golf einen der wichtigsten Handelswege der Weltwirtschaft kontrolliert und aufgrund seiner Nähe zu Irak, Afghanistan und Pakistan eine Scharnierfunktion in der Region hat.

Kampfzone Naher Osten

Auch zwei weitere Aufsätze beschäftigen sich mit der politischen Lage im Nahen Osten als gegenwärtigem Kriegsschauplatz. Lühr Henken setzt sich in seinem Artikel kenntnisreich und detailliert mit der NATO-Strategie in Afghanistan auseinander und rekonstruiert in diesem Rahmen auch die Rolle der Bundeswehr sowie ihre personelle und militärische Aufrüstung seit Beginn des Krieges. Die Ziele, die im Kontext des Afghanistan-Einsatzes formuliert wurden, ein funktionsfähiges und eigenständiges afghanisches Heer sowie Polizei aufzubauen, können nach Henken als gescheitert angesehen werden. Ganz im Gegenteil kann von einer Destabilisierung der Sicherheitslage gesprochen werden, die mittlerweile auch Pakistan erreicht hat, was in Teilen selbst als Kriegsgebiet gilt. Und so formuliert Lühr Henken auch ein dunkles Zukunftsszenario, das von einer Verschärfung des Krieges und damit auch längerfristigen Stationierung von Truppen in Afghanistan und Pakistan ausgeht. Die aktuellen Planungen der NATO und der Bundesregierung bestätigen diese Prognose.

Ein Bruch mit den geopolitischen und materialistischen Analysen ist der Beitrag von Rolf Verleger, der mit seiner Rekonstruktion des Zionismus aus jüdisch-religiöser Perspektive einen innerjüdischen Blick auf den Nahost-Konflikt wirft. Zu Beginn des Textes legt Verleger die religiös-mythologischen Wurzeln des Judentums frei, die nach seiner Sicht in der Vision einer menschlichen „Befreiung, der Möglichkeit der kommenden Erlösung, der Heilung der Welt durch Gottes Gnade“ (S. 98) besteht. Diesen Urmythos als Identitätskern des Judentums sieht er in der Militärpolitik der gegenwärtigen israelischen Regierung massiv gefährdet. Er kommt zum Schluss, dass aus einer jüdischen Perspektive, die den Kern der religiösen Identität bewahren will, nur ein Dialog auf Augenhöhe zwischen PalästinenserInnen und Israelis Lösung der gravierenden Konflikte verspricht. Verlegers innerjüdisch-religiöse Position im Kontext der gegenwärtigen Zionismus-Debatten mag nicht unumstritten sein und ist gerade im Kontext einer materialistischen Kritik imperialistischer Politik schwer einzuordnen. Allerdings dokumentiert Verlegers Text auch den Versuch, das religiös-kulturelle Erbe für ein zukünftiges Israel zu bewahren, in dem eine friedliche Koexistenz zwischen jüdischer und muslimischer Bevölkerung möglich ist.

Den Sammelband schließen zwei Aufsätze ab, die sich zum einen mit den militärpolitischen Debatten in der Partei DIE LINKE. und der Rekrutierungsstrategie der Bundeswehr beschäftigen. Christine Buchholz und Stefan Ziefle argumentieren, dass das Bestreben einzelner Akteure in der Linkspartei, Bundeswehr-Einsätze unter UN-Mandat zu legitimieren und so Kriegseinsätze doch möglich zu machen, der Türöffner für eine bellizistische Öffnung der Partei seien könnte. Michael Schulze von Glaßer schließt den Band mit einem sehr lesenswerten Aufsatz über die mittlerweile recht ausgefeilten Werbestrategien der Bundeswehr ab, die von Brett- und Computerspiele sowie facebook-Präsenz bis hin zur klassischen Waffenschau reichen. Konzeptionell versucht die Bundeswehr unterschiedliche Altersgruppen anzusprechen. Zum Beispiel kommt das kostenlose Jugendmagazin infopost im Vollfarbdruck und herausnehmbaren Posterschnitt in die Briefkästen der AbonentInnen (S. 127). Nicht von ungefähr fühlt man sich an die BRAVO erinnert. Die ist allerdings selbst mittlerweile eifriger Kooperationspartner der Bundeswehr und warb jüngst für ein BW-adventure-camp. Und auch der Lehrerzunft steht die Bundeswehr in punkto Unterrichtsplanung mit dem Schulmaterial Frieden & Sicherheit zur Seite. Und dies ist nur ein Ausschnitt aus der umfangreichen Propaganda-Offensive.

Der Sammelband deckt insgesamt eine große inhaltliche Breite gegenwärtiger antimilitaristischer Debatten sowie Themen ab und arbeitet diese an konkreten Beispielen detailliert aus. Dabei kommen auch theoretische Debatten nicht zu kurz, was gerade in Bezug auf eine Reaktualisierung antiimperialistischer Positionen auf Höhe der Zeit wünschenswert und nötig ist. Den HerausgeberInnen ist es gelungen, theoretischen Anspruch und empirische Analyse zu einem kompakten Ganzen zu verbinden und eine Textgrundlage für künftige Debatten um Krieg und Frieden zu schaffen und sich nicht bei alten Gewissheiten auszuruhen. Der Band eignet sich dabei in besonderer Art und Weise für Personen, die sich mit den grundlegenden Themen antimilitaristischer Politik vertraut machen möchten. Lohnenswert wäre sicher der Einsatz der Texte im Bereich der Friedenspädagogik und kritischen politischen Bildung. Für diejenigen, deren Auseinandersetzung mit den Themen schon weiter ist, lohnen sich vor allem die Aufsätze zur strategischen Allianz zwischen den USA und der EU sowie zur Militärstrategie der Bundeswehr in Afghanistan und den neuen Rekrutierungsstrategien. Insgesamt ist es eine lohnende Auseinandersetzung mit westlicher Kriegspolitik.

Linksjugend ['solid] Hamburg 2012:
Mit Kapitalismus ist kein Frieden zu machen.
PapyRossa, Köln.
ISBN: 978-3-89438-504-0.
136 Seiten. 10,00 Euro.
Zitathinweis: Jens Zimmermann: Antiimperialismus revisited. Erschienen in: Kriegerischer Frieden. 24/ 2012. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1086. Abgerufen am: 28. 03. 2024 15:57.

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Linksjugend ['solid] Hamburg 2012:
Mit Kapitalismus ist kein Frieden zu machen.
PapyRossa, Köln.
ISBN: 978-3-89438-504-0.
136 Seiten. 10,00 Euro.