Anarchismus und Marxismus revisited
- Buchautor_innen
- Philippe Kellermann (Hg.)
- Buchtitel
- Begegnungen feindlicher Brüder
- Buchuntertitel
- Zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus in der Geschichte der sozialistischen Bewegung
Eine neue Anthologie des Unrast-Verlags geht einem komplizierten historischen Verhältnis auf die Spur.
Über das Verhältnis von Marxismus und Anarchismus ist innerhalb der radikalen Linken viel diskutiert und geschrieben worden. Manchmal kommt es dabei auf das Zusammentreffen strenger ideologischer Vorbehalte: MarxistInnen sehen den Anarchismus als kleinbürgerlich, konterrevolutionär und utopisch, AnarchistInnen den Marxismus als autoritär, dogmatisch und verräterisch. Es überrascht nicht, wenn es auf einer solchen Basis eher zu ermüdenden Polemiken als zu anregenden Debatten kommt. Manchmal jedoch begegnen sich MarxistInnen und AnarchistInnen mit Neugier, arbeiten ihre Gemeinsamkeiten heraus, diskutieren ihre Differenzen mit Respekt und sind bemüht, das Spannungsfeld Marxismus-Anarchismus als Basis für anregende linke Theorien und Konzepte fruchtbar zu machen. Dies beschreibt, glücklicherweise, die Ausgangsbedingungen von Begegnungen feindlicher Brüder. Ein erstes großes Plus des Buches. Der Herausgeber Philippe Kellermann umreißt seine Absicht in einer sympathischen Einleitung wie folgt:
„In diesem Sinne ist das vorliegende Projekt auch nicht so sehr als Ansammlung politischer Bekenntnisse gedacht, sondern als der Versuch einen Beitrag dazu zu leisten, ein wenig mehr Licht in die Geschichte (und damit auch die Rezeptionslinien und Kontroversen) der sozialistischen Bewegung zu bringen." (S. 14f)
Ein erster solcher Beitrag wird, wie zu erwarten, von Wolfgang Eckhardt in dem Aufsatz „Bakunin und Marx in der Ersten Internationalen" geleistet. Der verdiente Historiker und Bakunin-Experte schildert die unterschiedlichen Ansichten von und die Auseinandersetzungen zwischen Marx und Bakunin ebenso akribisch wie anschaulich. Dabei kommt er zu einem interessanten Schluss, der nicht zuletzt als Mahnung für die MitautorInnen des Bandes gelesen werden kann:
„Vor dem Hintergrund der scharfen Konfrontation zwischen jenen Strömungen, aus denen später Marxismus und Anarchismus hervorgehen sollten, erscheint die idyllische Interpretation dieser Weggabelung des internationalen Sozialismus als Familienkrach, in dem sich feindliche Brüder begegnen, als völlig unhistorisch (…). Auch die Konstruktion eines freiheitlichen, ja libertären Marx und davon ausgehende marxistisch-anarchistische Syntheseversuche der Gegenwart müssen angesichts des Konflikts in der Internationale als naiv gelten, denn sie ignorieren die Entwicklungsgeschichte des Sozialismus." (S. 28f)
Pikanterweise ist es vor allem der folgende Beitrag von Karl Reitter, „Die Marx'sche Kritik des Staates", der sich am deutlichsten an einer libertären Marxanalyse versucht. Nachdem Reitter eingangs meint, dass Marx „in jeder Phase seines Lebens ein erklärter Gegner des Staates" war und in diesem "ein Hindernis für die Emanzipation und Befreiung" erkannte (S. 33), schließt er mit den Worten: „Vor diesem Hintergrund (…) kann von einem grundsätzlichen Gegensatz zwischen Marx auf der einen und dem Anarchismus auf der anderen Seite – zumindest in der Frage der Staatskritik – keine Rede sein" (S. 47).
Zu einer wichtigen Intervention kommt es im Beitrag von Antje Schrupp, "Weder Marxistinnen noch Anarchistinnen". Dieser stellt die Bedeutung infrage, die dem Marxismus-Anarchismus-Konflikt in der sozialistischen Geschichte beigemessen wird. Vor allem hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse scheinen nämlich andere Trennungslinien mehr relevant: „Die (…) Unterscheidungen verschiedener sozialistischer Strömungen, zum Beispiel Kategorien wie 'Marxismus' und 'Anarchismus', sind (…) nicht geeignet, um die Beziehungen zwischen Feminismus und Sozialismus zu erfassen und zu analysieren" (S. 49). Schrupps Schlusswort ist ein Hinweis, der weit über die Marxismus-Anarchismus-Debatte hinaus von Bedeutung ist. Sie betont,
„dass ein historischer Blick, der die Geschlechterdifferenz als relevantes Analysekriterium einbezieht, nicht nur einfach Frauen in eine bereits fixierte Geschichtsschreibung quasi nachträglich integrieren kann, wie es so viele neuere Bücher zum Thema versuchen, indem sie ein 'Frauenkapitel' anhängen. Sondern ein solcher Perspektivenwechsel macht es notwendig, das Ganze neu zu denken, herkömmliche Kategorien und Interpretationsmuster zu überdenken und gegebenenfalls hinter sich zu lassen. Dann wird nicht nur die 'Frauengeschichte' neu geschrieben, sondern auch die 'Männergeschichte' – zum Nutzen aller." (S. 65f)
Mehrere Autoren versuchen sich daraufhin an anarchistischen Leseweisen nicht- oder quasi-anarchistischer Theoretiker. Philippe Kellermann selbst wagt sich an das heikle Thema George Sorel, wobei er zu dem Schluss gelangt, dass „zentrale Positionen, die Sorel vertreten und als marxistisch ausgegeben hat, als anarchistisch zu klassifizieren" sind (S. 83). Außerdem analysiert er das politische Denken und Handeln Fritz Brupbachers und Franz Pfemferts, die er, wie der Untertitel seines Aufsatzes suggeriert, „zwischen Reformismus, Rätekommunismus und Anarchismus" ansiedelt. Jens Kastner wartet mit dem ambitiösen Unternehmen auf, „Indizien" dafür zu liefern, dass „eine Lektüre lohnt, die anarchistische mit gramscianischer Theorie verknüpft" (S. 86), und spricht tatsächlich – unter anderem mit Verweis auf Gramscis Geschichts-, Kultur- und Staatsverständnis – von „gramscianisch-anarchistischen Koinzidenzen, an denen weiterzuarbeiten wäre" (S. 103). Christoph Jünke schließlich unterzieht das Werk des unkonventionellen DDR-Intellektuellen Wolfgang Harich – unter anderem Autor der 1971 in Buchform erschienenen Kritik der revolutionären Ungeduld. Abrechnung mit dem alten und dem neuen Anarchismus – einer ausführlichen und differenzierten Studie und betont die bereits im Titel des Aufsatzes angekündigten „Widersprüche" in dessen Anarchismuskritik.
In weiteren Beiträgen geht Gerhard Hanloser zunächst den libertären und anti-libertären Momenten des Rätekommunismus auf den Grund, wobei er sich nicht nur auf die Debatten des frühen 20. Jahrhunderts bezieht, sondern auch von einer „kurzen Annäherung [von] Anarchismus und marxistischem Antileninismus" gegen Ende der 1960er Jahre spricht (S. 125). Robert Foltin untersucht Anarchismus und Marxismus in Relation zum Postoperaismus und gelangt noch einmal – wenigstens andeutungsweise – zu einem der von Eckhardt kritisch beäugten Syntheseversuche, wenn er den autonomen Marxisten Massimo de Angelis zitiert: „Anarchistische Praxen ohne kommunistische sind individualistisch und ghettoisiert. Kommunismus ohne Anarchismus ist hierarchisch und repressiv" (S. 181). Heike Weinbach widmet sich abschließend der vorwiegend im angloamerikanischen Raum vertretenen „Radikalen Philosophie", deren Bezugspunkte sie „in unterschiedlichen anarchistischen und marxistischen Ideen und einer unentwegt kritischen Auseinandersetzung mit diesen" sieht (S. 188).
Begegnungen feindlicher Brüder führt nicht unbedingt zu revolutionär neuen Aufschlüssen, was das Verhältnis von Marxismus und Anarchismus betrifft, doch kann dies von einem Band solcher Art kaum erwartet werden. Die Diskussionen zu diesem Verhältnis werden sich so kontrovers wie bisher fortsetzen, ebenso wie die Mischung aus Skepsis und Solidarität, mit der sich MarxistInnen und AnarchistInnen begegnen. In diesem Sinne ist Begegnungen feindlicher Brüder jedoch ein in vielerlei Hinsicht wertvolles Buch, das zahlreiche Gedanken und Thesen beinhaltet, die diese Begegnungen so konstruktiv wie möglich zu gestalten helfen. Niemand, der sich für das Themenfeld interessiert, wird die Lektüre bereuen.
Begegnungen feindlicher Brüder. Zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus in der Geschichte der sozialistischen Bewegung.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-505-9.
196 Seiten. 14,00 Euro.