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1945 – Räterepublik im Nirgendwo

Buchautor_innen
Stefan Heym
Buchtitel
Schwarzenberg
Heym entwickelt am historischen Beispiel des zeitweise unbesetzten Landkreises Schwarzenberg zwischen Amerikanern und Russen das Laborexperiment eines Räte-Deutschlands, erwachsen aus eigener Kraft.

Schon gegen Ende der Zeit, die der DDR auf Erden gegeben war, stößt Heym auf Berichte des eigenständigen Wiederaufbaus im sechs Wochen lang nicht besetzten Landkreis Schwarzenberg. Er, aus den USA freiwillig zurückgekehrt, hatte seit seiner Ankunft 1953 immer wieder seine Streitigkeiten mit der Obrigkeit gehabt. Seine Darstellung der Ereignisse 1953 "Fünf Tage im Juni" war parteiamtlich gerügt worden. Später gab es immer wieder Zeiten der geduldeten Publikationen, aber immer wieder auch solche der Querelen. Angeblich wegen finanzieller Verfehlungen – korrekter oder inkorrekter Abführung westlicher Honorare, man kennt das! – immer wieder Verbote. Nie allerdings Knast! Auch keine bekannt gewordenen Versuche der Abschiebung in den Westen. Seine Lebensumstände belebten die Phantasie des Romanautors, als er begann, sich eine Regierung auszumalen, die sich anders hätte entwickeln sollen als die beiden Deutschlands, die Heym ausgiebig durchgeschmeckt hatte und stark versucht war, beide auszuspeien aus seinem Munde, wie es in der Bibel heißt.

Schwarzenberg steht literarisch weit zurück hinter mehr durchgearbeiteten Werken wie König Davids Bericht oder auch Collin. Als trainierter Romancier arbeitet der Autor mehrere Liebesgeschichten ein, die ausgesprochen leer verlaufen. Ohne nachvollziehbaren Ausgang in einer vorstellbaren Welt. Wichtig bleibt der kurze Roman aber als Denkexperiment.

Schwarzenberg - Leerraum zwischen den Zonen

Es muss wirklich aus irgendwelchen Berechnungsfehlern der einmarschierenden Großmächte ein paar Wochen lang das Vakuum Schwarzenberg gegeben haben, zwischen den festgelegten Zonengrenzen der USA und der UDSSR. Vermutlich hatten beide Seiten Angst, durch unberechtigten und unerwarteten Vorstoß die Gegenseite vorzeitig zu verärgern. Heym erfindet sich einen alten KP-Genossen Kadlitz als Erzähler der Vorgänge. Dazwischen tritt er immer wieder in eigener Person als allwissender Erzähler auf.

Wie es wohl überall mehr oder weniger geschehen ist, treffen sich Einwohner im Rathaus und überprüfen die Lage. Man erwartet, wie das im Schwarzwald in Wolfach schon im April 1945 geschah, die jeweilige Besatzung und erwartet, durch lange Kriegsjahre trainiert, deren Anweisungen. So habe ich es als Kind miterlebt.

In Schwarzenberg fehlen die Besatzer – zur allgemeinen Überraschung. Die Überlebenden des Krieges treffen sich wieder im alten Arbeiterheim, das der SS die letzten Jahre als Hauptquartier gedient hatte. Es muss etwas geschehen. Also beschließt die zur Diskussion versammelte Gruppe aus Arbeitern – ehemals KPD, SPD, parteilos – bunt gemischt, den Nazibürgermeister abzusetzen, wegen geringer Kraft aber den Landrat, kein Parteimitglied der NSDAP, im Amt zu lassen. Der beginnt die vertrauensvollen Revoluzzer sofort zu betrügen und schickt Flehbriefe an die amerikanische Besatzung in den Nachbarkreisen, ihn und das Gebiet sofort zu besetzen. Wegen Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung.

Erste Schritte zur Selbstverwaltung

Die mit Verwaltung völlig unvertrauten Leute im Rathaus kümmern sich um Sicherstellung von Lebensmitteln, Trümmerbeseitigung, Zuteilung von Verwaltungsarbeiten. Und schaffen es. In diese Gruppe tritt Wolfram ein, halbverhungert, aus dem Nazi-Gefängnis in Dresden beim großen Brand entkommen. Er, Halbjude, findet sich in seiner Vaterstadt wieder. Die Eltern waren gedemütigt worden, der Vater in der Schubkarre von seiner eigenen Frau durch die Stadt geschoben. 1938. Darauf bald verstorben. Seine Frau kurz danach. Wolfram, die Hauptperson, hat in frühen Nazizeiten über utopische Entwürfe eine Dissertation geschrieben, die von seinem Prof, einem SS-Mann, als staatsfeindlich zurückgewiesen wurde. Er selbst kam später wegen des Universaldelikts Hochverrat ins Gefängnis. Dort entwickelte er seine Überlegungen weiter. Sie enden im Entwurf einer Staatseinrichtung, welche einer Räterepublik so nahe wie möglich kommt. Unter seinem Einfluss gewöhnen sich die Mitglieder des ersten Rates an, von ihrem Gemeinwesen als einer "Republik Schwarzenberg" zu sprechen, von der sie im Lauf der Wochen annehmen, sie könnte als Experimentierfeld für ein freies Gesamtdeutschland bestehen bleiben. Auf Seite 136 ff wird die Entstehung eines Verfassungsentwurfs ausführlich geschildert. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" So fängt das noch ganz traditionell an. Dann fallen Wolfram freilich die begeisterten Massen bei Hitlerdurchfahrten ein: Waren die nicht auch Volk? Also ein vorsichtiger Zusatz: „Das Volk ist der Gesetzgeber, vertreten durch seine in freier, allgemeiner und geheimer Wahl gewählten Deputierten. Es kann aber auch durch Volksbegehren und Volksentscheid Gesetze direkt beschließen und vorhandene abändern" (S. 139). Das reicht als Abwehr einer Diktatur immer noch nicht.

„Die Bürger der Republik sind vor dem Gesetz gleich. Es gibt keine Privilegien, weder was die Nutzung von öffentlichen Gütern noch von staatlicher Macht betrifft. (...)Die im öffentlichen Dienst stehenden Bürger begreifen sich als Diener des Volkes, nicht als dessen Oberherrn, und ihre Entschädigung übertrifft in keinem Falle die Löhne der in der Produktion stehenden Arbeiter" (S. 139).

Als später ein kleiner Finanzverwalter auftaucht, und den Herren die streng abgestuften Gehälter auszahlen will, die die jeweiligen Amtsinhaber im Dritten Reich bekommen hätten, halten sich überraschenderweise alle an die neue Regel. Keine Abstufung!

Und weiter, ganz nach dem, was der Verfasser – oder zumindest Heym – von der Commune Paris 1871 noch im Kopf hatte: jederzeitige Abwahl eines jeden Deputierten. Kollektive Arbeit, im Sinn der Abweisung der Teilung der Gewalten. Die beratende Gruppe ist jeweils auch die ausführende. Vertretungsbefugt nach außen sind jeweils die mit einer bestimmten Arbeit beauftragten Genossen. Es gibt also keinen ständigen Regierungschef. Und für deutsche Ohren das Härteste: Das stehende Heer ist abgeschafft. Im Notfall werden Arbeitermilizen zusammengerufen, die für die Zeit ihres Notdienstes vom Arbeitgeber freizustellen sind.

Enteignet werden Banken und die Großindustrie. In allen Betrieben werden Betriebsräte gewählt und mit allen Vollmachten ausgestattet. Sie regeln Arbeitsverhältnisse und Löhne, sowie die Beziehung zu anderen Produktions-Stätten.

Die meisten Gedanken macht sich der Verfassungsgeber über Meinungsfreiheit. Kann diese vollkommen gewährt werden, wenn doch – im Marxismus? – alles Wahre schon gesichert ist. Muss dann jede Abweichung davon nicht gleich als Störung bekämpft werden? Trotzdem wird, und das ist für das Roman-Ende wichtig, trotzig Äußerungsfreiheit in jeder Hinsicht in die ausgedachte Verfassung eingeschrieben.

Anklage vor allem gegen die russische Besatzung

Am Ende des Romans wird, eben wegen gefährlicher öffentlich geäußerter Meinung, die Hauptfigur von einem russischen Befehlshaber festgenommen. Und, wie mehr zu erraten als zu erfahren ist, nach Russland verfrachtet. Und verbringt dort Jahre in einem Lager. Von wo er weißhaarig zurückkommt, eine Professorenstelle erhält und alles, was er einst vertrat, wieder als Utopie erklärt, nun aber in dem Ton abschätzigen Wegfegens, wie er in West und Ost üblich geworden ist.

Die Figur könnte sich leicht an die des Philosophieprofessors Wolfgang Harich anlehnen. Der erhielt wegen angeblich hochverräterischer Westkontakte acht Jahre Knast. Und ging gebrochen und reuig aus ihnen hervor.

Der Roman spielt zwischen den Lagern der USA und der UDSSR. Heym, der selbst als amerikanischer Offizier in Deutschland einzog, hat vielleicht in dem mittelmäßig interessierten amerikanischen jungen Leutnant nachträglich ein Selbstporträt geschaffen. Die Amerikaner ziehen sich zwar nach Korrektur der Besatzungszonen ohne Kampf aus Thüringen und Sachsen zurück und überlassen Schwarzenberg dem schon damals verdächtigten Feind UDSSR. Greifen aber nirgends feindlich in Schwarzenberg ein.

Als wirklich heimtückisch werden aber Teile der russischen Besatzungsarmee geschildert. Einen verdächtigen hochgesinnten Major lassen sie im Kampf gegen eine letzte Nazihorde bewusst ins Messer laufen. Erhard Reinsiepe kommt ebenfalls sehr früh aus Dresden, nimmt an allen Beratungen teil, jeweils mit "höhnischem Lächeln" wie es heißt, wenn von der "Republik Schwarzenberg" die Rede ist. Schließlich beteiligt er sich nicht nur als Denunziant, sondern auch handgreiflich an der Festnahme Wolframs. Sein Vergehen: Er hat sich in der letzten Sitzung des Rats dafür eingesetzt, einen äußersten Versuch zu machen, über einen Vertrag zwischen den Besatzungsmächten die Republik doch noch zu retten. Ganz am Ende stellt sich heraus, dass Reinsiepe am Verstummen durch Schock der Begleiterin Wolframs unmittelbare Schuld trägt. Diese begleitete Wolfram stumm durch den ganzen Roman. Reinsiepe hatte sie unter einem brennenden Balken erkannt in der Brandnacht Dresdens im Februar 1945. Aber hatte sich mit Rettungsarbeiten keine Sekunde aufhalten "dürfen". Denn er hatte einen Auftrag. Er, als einzelner, wusste, was sich unter den Bergen um Schwarzenberg verbarg. Uran. Eben dort wurde später die Wismuth-AG gegründet. Darum also...
Am Anfang des Romans wird öfter von der Macht gesprochen, die jetzt auf der Straße liege. Am Ende stellt sich heraus: sie lag nie dort, sondern immer in den Händen der einmarschierenden Roten Armee. Genau genommen: der machtbewussten Führung im Sinne Stalins. Diese Schlussenthüllung wirkt ausgesprochen schwach. Weil die ungeheuren Anstrengungen der verschiedenen Völker Russlands darüber in Vergessenheit geraten, nicht nur sich selbst, sondern wirklich auch die Menschheit vom Faschismus zu befreien.

Wie gesagt: es handelt sich bei "Schwarzenberg" nicht um ein durchgearbeitetes Kunstwerk. Trotzdem empfiehlt sich Kenntnisnahme. Wenn wir nach den Wegen fragen, die nach Marx eingeschlagen wurden, um die Tendenz handelnd zu erfüllen und zu vollenden, die er erkannt hatte, dann sollte dieses kleine Stück Montage aus Erinnerung und Phantasie nicht ganz vergessen bleiben.

Diese Rezension beruht auf folgender vergriffener Auflage:

Stefan Heym 1984: Schwarzenberg. Bertelsmann Verlag, München.
ISBN: 3-570-00140-7. 309 Seiten. 34,00 DM.

Derzeit kann aber diese Auflage erworben werden:

Stefan Heym 2004:
Schwarzenberg.
btb Verlag, München.
ISBN: 978-3-442-73361-3.
272 Seiten. 8,00 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: 1945 – Räterepublik im Nirgendwo. Erschienen in: Zeichen des Aufstands. 4/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/c/905. Abgerufen am: 28. 03. 2024 12:33.

Zur Rezension
Rezensiert von
Fritz Güde
Veröffentlicht am
26. Mai 2011
Erschienen in
Ausgabe 4, „Zeichen des Aufstands” vom 26. Mai 2011
Eingeordnet in
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Zum Buch
Stefan Heym 2004:
Schwarzenberg.
btb Verlag, München.
ISBN: 978-3-442-73361-3.
272 Seiten. 8,00 Euro.