Zum Inhalt springen
Logo

Notizen aus der Redaktion

Ausgabe 1 des Online-Journals Movements erschienen

Wir gratulieren: Ende Mai erschien die erste Ausgabe der Online-Zeitschrift Movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung! Entstanden aus dem Umfeld des Netzwerks für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet), möchte Movements wissenschaftliche und bewegungsnahe Ansätze zum Thema Migration verbinden. Denn, so heißt es im Selbstverständnis, Publikationsorte, in denen „kritisch über die Wissensproduktion der Migrationsforschung selbst reflektiert wird“, sind kaum vorhanden. Die kritische Auseinandersetzung mit der Migrationsforschung ist dabei leitendes Motiv. Zwar habe diese in den letzten Jahren einen regelrechten „Boom“ erfahren, dennoch sind wichtige Perspektiven unbeleuchtet geblieben: So beispielsweise in der sozialwissenschaftlichen Forschung, „die viel zu lange die Migrantinnen und Migranten selbst als Problem erforscht hat, anstatt nach den politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen zu fragen, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene überhaupt erst hervorbringen“, wie es im Editorial zur Erstausgabe heißt. Außerdem möchte das Journal die Bewegungen der Migration im Sinne eines „Wechselspiels von Autonomie und Kontrolle“ verstanden wissen und den Blick erweitern von einer bloßen Fokussierung der Kontrollmechanismen hin zu einem Verständnis, dass Migration eine autonome Bewegung von Menschen darstellt. Zugleich eröffnet sich hier die Perspektive einer sozialen Bewegung, die um Teilhabe kämpft und Kapital und Nation herausfordert. Movements will also dazu beitragen, die vielseitigen Realitäten von Migration zu beleuchten und eine Kritik an den Formen, wie Migration regiert wird, zu formulieren. Dass das Magazin dabei nicht im schwer zugänglichen wissenschaftlichen Kontext verharrt, sondern das Format der open access-Publikation gewählt hat, unterstreicht die Bewegungsnähe. Der Schwerpunkt der ersten Ausgabe widmet sich dem „Europäischen Grenzregime“. Darin finden sich unter anderem Beiträge von Ceren Türkmen, Bernd Kasparek und ein Interview mit Etiènne Balibar. Die Artikel erscheinen in englischer oder deutscher Sprache. Wir freuen uns, eine weitere Online-Publikation begrüßen zu dürfen. Und natürlich wünschen wir gutes Gelingen! (A. S.)

Einmal Flüchtling sein

Teller, Janne (2011): Krieg. Stell dir vor, er wäre hier. Hanser, München. 59 S., 6.90 Euro

Eine Freundin drückte mir neulich ganz begeistert das Buch „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“ von Janne Teller in die Hand. Das Büchlein im Reisepass-Format müsse ich lesen, gerade heute, weil: die Aktualität! Gesagt, getan. Man fliegt nur so durch das als „Gedankenexperiment“ bezeichnete Essay der dänischen Schriftstellerin, die darin den Lesenden zu einem jugendlichen Kriegsflüchtling macht. Sie selbst war UN-Konfliktberaterin, bevor sie Anfang der Jahrtausendwende als Autorin von Jugendliteratur schlagartig bekannt wurde – sie scheint also zu wissen, worüber sie spricht. In der jüngeren Zeit sorgte sie vor allem aufgrund ihres Buches „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ (Hanser 2010) für Aufregung. Die Geschichte „Krieg“ schrieb sie schon 2001, als in Dänemark die Diskussion um Einwanderung hohe Wellen schlug: „Die meisten Leute haben nicht verstanden, dass Flüchtlinge und Einwanderer nicht aus Spaß nach Dänemark kommen. Wie wäre es, selbst in einer solchen Situation zu sein“, erklärte Teller der dpa. 2010 übersetzte sie das Buch ins Deutsche. In dem Band wird nicht nach Emotionen geheischt, Teller packt die Themen Krieg, Flucht und Vertreibung zunächst nüchtern und eindringlich an. Der Einstieg findet über einen „Was wäre, wenn...“-Perspektivwechsel statt: „Wenn bei uns Krieg wäre. Wohin würdest du gehen?“ Es geht um dich, den_die konsequent mit „Du“ angesprochenen Leser_in, um dich herum wird (leider ein wenig zu fantastisch) der Untergang der Europäischen Union inszeniert, samt militärischer Auseinandersetzungen zwischen den ehemaligen Verbündeten. Du bist Zeuge, wie deine Mutter Bronchitis bekommt, dein Bruder einige Finger verliert und in den militanten Untergrund geht, deine Schwester mit einer Kopfverletzung in einem unterversorgten Krankenhaus liegt, deine Großeltern beim Bombenangriff ums Leben kommen. Und dein Vater ist untergetaucht. Du lebst bei Minusgraden in einem Keller und stellst dir den ganzen Tag bohrende Fragen. „Auf 'wohin?' gibt es keine Antwort. Eure Familie ist zu einer Zahl geworden. Fünf! Es gibt kein Land, das weitere fünf Flüchtlinge haben will.“ Europäer_innen sind als Flüchtlinge nicht gerade beliebt. Du schaffst, gemeinsam mit der Familie, dennoch die teure Flucht nach Ägypten, wo man euch widerwillig in einem Lager aufnimmt. Zwei Jahre später bekommt ihr Asyl. „Du gewöhnst dich daran, Kuchen zu verkaufen. Du gewöhnst dich an die Armut. Und du gewöhnst dich an die extreme Hitze. Daran, als Mensch dritter Klasse betrachtet zu werden, gewöhnst du dich nie.“ Du kehrst am Ende des Buches nach Deutschland zurück. Der Krieg ist aus, aber Zerstörung und Fremdherrschaft erwarten dich. Du giltst für viele der im Krieg Zurückgebliebenen als Verräter. Also gehst du zurück nach Ägypten, wo du dir inzwischen, trotz aller Widrigkeiten, irgendwie ein Leben aufgebaut hast. Dein Heimweh nach Deutschland bleibt: „Jemand kam und stahl dein Leben und machte es zu etwas anderem. Zu etwas, was weder hier noch dort ist.“ Leider driftet das Buch am Ende in eine etwas beliebige, teils auch kulturalisierende und aufgesetzte Geschichte ab: So wird die Schwester, gerade noch kurz vor der Konvertierung zum Islam, nach einer Schwangerschaft und der Verbannung nach Deutschland drogenabhängige Punkerin, ihr ägyptischer Mann entführt aus Sorge das Kind. Du selbst heiratest brav eine andere Deutsche, mit der du „keine kulturellen Probleme bekommen wirst“. Diese Stellen brechen mit der in Teilen recht gesellschafts- und politikkritischen Ausrichtung des Buches – schade. (J. B.)

Antimuslimischer Rassismus

Shooman, Yasemin (2014): „...weil ihre Kultur so ist“. Narrative des antimuslimischen Rassismus. Transcript, Bielefeld. 256 S., 29,99 Euro

Nicht erst seit den Anschlägen am 11. September 2001 steht in Deutschland „der Islam“ im Fokus, wenn es um die Themen Einwanderung und Integration geht. Welche Facetten das vorherrschende negative Bild von vermeintlichen oder tatsächlichen Muslim_innen hat, zeigt Yasemin Shooman in ihrer als Buch erschienenen Dissertation „...weil ihre Kultur so ist“. Die Historikerin hat damit die bisher umfassendste Arbeit zu den gegenwärtigen Ausprägungen des Antimuslimischen Rassismus in Deutschland vorgelegt. In acht gut lesbaren Fallstudien geht sie etwa auf historische Traditionslinien, die theoretische Einordnung antimuslimischer Diskurse und Geschlechterbilder ein. Die Studien zeigen: Antimuslimischer Rassismus beschränkt sich keineswegs auf die extreme Rechte oder offene Islamfeinde im Internet, sondern ist auch in „Qualitätsmedien“ und zuweilen unter Linken verbreitet. Historische Zusammenhänge sowie die zahllosen Bausteine der unterschiedlichen, sich stets wandelnden konkreten religiösen Praktiken von über einer Milliarde Menschen werden ignoriert. Stattdessen wird im Antimuslimischen Rassismus „die“ Kultur des Islams als Monolith imaginiert. Ein solch essentialistischer Kultur-Begriff kommt dem klassischen Rasse-Begriff sehr nahe. Praktischerweise lässt sich damit von den Ursachen sozialer Probleme ablenken, etwa wenn „die sozioökonomische Marginalisierung von Menschen, die als Muslime markiert sind, auf eine Verweigerungshaltung der Minderheit selbst zurückgeführt [wird], die wiederum in ihrer Religion wurzele“ (S. 74). Über Rassismus und Klassenverhältnisse kann dann getrost hinweg gesehen werden. (S. F.)

Ein durchschaubares Buch über düstere Zeiten

Eggers, Dave (2014): Der Circle. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 560 S., 22, 99 Euro

An Vorschusslorbeeren mangelte es nicht: Als „1984 des Internetzeitalters“ (ZEIT) wurde Dave Eggers’ „The Circle“ bereits Anfang 2014 vom deutschen Feuilleton gefeiert. Da war der Roman noch gar nicht übersetzt. Mittlerweile liegt Eggers‘ Bestseller längst auf Deutsch vor. Und überzeugt nur leidlich. Dabei hat die Idee etwas: Eggers’ Dystopie spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der der „Circle“ regiert. Google, facebook, Twitter und Apple: Das hippe Unternehmen mit Stammsitz in Kalifornien hat sie alle geschluckt und das Internet revolutioniert – unter anderem mit TruYou, einem System, das diverse Nutzerkonten und Passwörter, vor allem aber verschiedene Netzidentitäten überflüssig macht. Pöbeln und pussy86 waren gestern, denn mit dem Klarnamen kehren Anstand und Transparenz zurück in die Community. Anonymität gibt es nicht mehr. Das weiß auch die 24-jährige Mae zu schätzen, deren kometenhafter Aufstieg beim Circle im Mittelpunkt der Geschichte steht. Wie alle anderen ultrajungen und ultrakreativen Mitarbeiter_innen postet, followed, verlinkt, teilt und liked Mae, bis die Synapsen knacksen. „Der Circle“ ist ein gar nicht mal so unrealistischer Roman über eine schöne neue, virtuelle Welt, in der der ‚gläserne Mensch‘ zum role model und das ‚Teilen‘ zum kategorischen Imperativ geworden sind: „Geheimnisse sind Lügen. Teilen ist Heilen. Alles Private ist Diebstahl“ (S. 361). Der Detail- und Einfallsreichtum, mit denen Eggers vom ‚ChildTrack‘ bis zur Online-Wahlpflicht das Spektrum technologischer Daumenschrauben auslotet, sind beeindruckend. Einigermaßen windschief dazu steht jedoch die konservativ „gängelnde“ Erzählweise. Wenig subtil, mitunter regelrecht plump beschwört Eggers das Bild einer totalen und totalitären Demokratie herauf und lässt nichts ungesagt. Entmündigt werden im „Circle“ somit letztlich vor allem die Leser_innen. (S. B.)

Blasphemischer Krimi-Karneval

Urban, Simon (2014): Gondwana. Schöffling & Co., Frankfurt/M. 394 S., 22,95 Euro

Erstickt am eigenen Penis: Der neueste Fall von Platon Ahorn hat es wahrlich in sich. Er verschlägt ihn nach Gondwana, einer kleinen Insel irgendwo in der Südsee, wo ein bestialischer Kastrationsmord ohne Leiche nur eine von vielen Ungereimtheiten ist, an denen der markige Inspector zu knabbern hat. Denn Gondwana ist nicht bloß irgendeine Insel, sondern das „Paradies auf Erden“ – zumindest für die Glaubenselite am Ende des 21. Jahrhunderts, die das ehemalige Bespaßungs-Resort für geistig Beeinträchtigte („Spitzname Kap Handicapped“) aufgekauft und als Sitz der neuen „Weltkirche“ auserkoren hat. In trautem Synkretismus wird auf Gondwana nun allen Ge- und Verboten der großen monotheistischen Weltreligionen gleichermaßen gehuldigt. Für den abgebrühten Überzeugungsatheisten Platon, dem der Himmel nur „babyblauer Bullshit auf Watte“ ist, natürlich die reinste Provokation – nicht zuletzt weil im idyllischen Refugium der „Unsterblichkeitsstreber“ und „Geistesblitzableiter“ neben weiblicher Ganzkörperverhüllung auch konsequente Alkoholabstinenz angesagt ist. Kann Platon trotz fleischlicher Entsagung Licht ins Dunkle bringen? Auf fröhlich-dreiste Weise jongliert Simon Urban in seinem neuen Roman mit Genre-Klischees und rechnet mit männlichen Allmachtsfantasien und religiösem Fanatismus ab. Zusammen mit den kongenialen Pulp-Comics von Ralph Niese, die als eigenständige erzählerische Elemente in den Fließtext eingewoben sind, bietet „Gondwana“ dem Leser einen gut gelaunten Krimi-Karneval, der nicht nur zahlreiche blasphemische Bonmots („Gott hat Burnout“; „Engel sind auch nur Geflügel“), sondern auch einige erzähltechnische und intertextuelle Finessen sowie überraschende Wendungen in petto hat. (S. B.)

Zu den Notizen
Von
Redaktion
Veröffentlicht am
07. Juli 2015
Erschienen in
Ausgabe 36, „Neue Bürgerlichkeit” vom 07. Juli 2015