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„Sicherheit kommt durch soziale Unterstützung!“

„Sicherheit kommt durch soziale Unterstützung!“ © ISKS
Interviewpartner_innen
Interview mit Hannah und Norah von der Kampagne ISKS

Polizei und Sicherheitsapparate werden massiv aufgerüstet, Polizeigewalt stetig weiter normalisiert. Dieser Entwicklung muss eine gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme entgegengestellt werden.

kritisch-lesen.de: Hallo ihr beiden, schön, dass wir miteinander sprechen können. Fangen wir mit einer kurzen Vorstellung eurer Arbeit an: Wann und warum habt ihr euch zusammengefunden?

NorahIhr Seid keine Sicherheit! ist zunächst als Bündnis gestartet. Es ging um eine Demonstration am 8. Mai 2021 unter dem Titel „Ihr seid keine Sicherheit! Gemeinsam gegen Rassismus und Nazis in den Sicherheitsbehörden“. Den Aufruf dazu hatten 80 zivilgesellschaftliche Akteurinnen unterzeichnet. Daraus ist dann die Kampagne Ihr Seid keine Sicherheit! (ISKS) entstanden. Wir haben das Ziel, unterschiedliche Gruppen, die zu struktureller Gewalt von Polizei und Sicherheitsbehörden arbeiten, zusammenzubringen und gemeinsam Druck auf eine polizeifreundliche Öffentlichkeit auszuüben. Damit wollen wir nicht nur das Polizeiproblem anklagen, sondern auch neue Konzepte von Sicherheit und ein Umdenken bezüglich Strafen und Kontrolle anregen. Im Mai 2023 haben wir gemeinsam mit anderen Initiativen einen Kongress zum Thema „Abolitionismus jetzt“ organisiert; Schwerpunkt war die Fragestellung: Wie kann eine Gesellschaft ohne Polizei aussehen, ohne Strafen, ohne Gefängnisse? Das bedeutet also auch, gegen Migrationskontrolle, Gewalt gegen Menschen, die von Armut und Wohnungslosigkeit betroffen sind und auch ganz konkret gegen die Kriminalisierung von sozialen linken Bewegungen zu arbeiten.

Hannah Ein weiterer, leider immer wieder notwendiger Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Mobilisierung rund um Polizeimorde. Das Jahr 2024 ist erst ein paar Tage alt und schon sind in Deutschland mehrere Menschen in Polizeieinsätzen oder Polizeigewahrsam gestorben, zuletzt in Mühlheim an der Ruhr und Aachen. Zudem haben wir viel zum Thema kbOs, also kriminalitätsbelastete Orte in Berlin, gearbeitet und auch zum Thema rechte Netzwerke in Polizei und Sicherheitsbehörden. Aktuell sind wir etwa an den Verschärfungen des Polizeigesetzes in Berlin dran, dem ASOG, die Mitte Dezember 2023 durchgesetzt wurden. Und wir arbeiten zum Thema organisierte Vernachlässigung. Darunter verstehen wir, dass Kürzungen und zunehmende Repression ineinandergreifen; dass durch Kürzungen im sozialen Bereich und der Vernachlässigung bestimmter Gegenden sowie dem Aufbau eines Gefahrenbildes eine soziale Krise geschürt wird, die dann wieder mehr Investitionen in die Polizei und den Sicherheitsapparat rechtfertigt; deutlich zu sehen in den Debatten rund um Neukölln.

Könnt ihr mehr zu dem aktuellen Verschärfungen des Polizeigesetzes in Berlin sagen?

NorahEs gab in den letzten Jahren in zahlreichen Bundesländern Verschärfungen der Polizeigesetze, so auch in Berlin. Was wir dabei besonders kritisch sehen, ist die verstärkte Bedrohung von Freiheitsrechten. So konnte man zuvor bis zu zwei Tage in sogenannte Präventivhaft genommen werden, nun sind es bis zu fünf Tage. Zum Vergleich: In Bayern wurde es sogar auf bis zu 30 Tage verschärft. Man sieht an der Entwicklung der letzten Jahre insgesamt, dass diese Verschärfungen in den Bundesländern vor allem dazu dienten, Proteste zu kriminalisieren. Ganz massiv zum Beispiel Klimaproteste. Wegen Straßenblockaden saßen Aktivist*innen in Bayern dann 30 Tage lang in Präventivhaft.

In Berlin soll die Polizei jetzt außerdem großzügig mit Tasern und Bodycams ausgestattet werden, 5,7 Millionen Euro wurden dafür bereitgestellt. Dabei sind Taser als Mittel stark in der Kritik, die Verwendung hat in der Vergangenheit schon vielfach zu Verletzten und Toten geführt. Es fließt hier jedes Mal mehr Geld in die Polizei anstatt in soziale Institutionen. Auch der Blick auf Statistiken zeigt: Was letztlich kriminelle Handlungen von Leuten verhindert, ist nicht ein größerer Sicherheitsapparat, sondern soziale Institutionen und eine sozialere Ressourcenverteilung, damit Menschen überhaupt nicht dazu gebracht werden, Straftaten zu begehen. Die Diskussionen um den Görlitzer Park sind dafür ein Beispiel: Da wird dann nicht zuletzt eine schlimme Vergewaltigung instrumentalisiert, um polizeiliche Sicherheitsmaßnahmen auszubauen und das Budget der Polizei zu erhöhen. Und gleichzeitig sind Institutionen wie Frauenhäuser, die tatsächlich Schutz für Frauen schaffen – ein Großteil sexualisierter Gewalt geschieht im Privaten, der Schutz hier ist imminent wichtig – mit finanziellen Kürzungen konfrontiert.

Das schnelle Durchpeitschen des verschärften Polizeigesetzes in den letzten Monaten passt da leider genau ins Bild.

NorahIch finde es skandalös, wie sang- und klanglos dieses Polizeigesetz verabschiedet wurde. In Bayern zum Beispiel gab es 2018 große Mobilisierungen, da waren rund 40.000 Leute auf der Straße, auch wenn das Gesetz am Ende trotzdem durchgewunken wurde. Wir hier in Berlin haben das Bündnis für Soziale Sicherheit gegründet und Kundgebungen organisiert mit dem Tenor: „Nein zu den ASOG-Verschärfungen! Soziale Lösungen statt Law & Order!“ Wir standen im Dezember 2023 vor dem Abgeordnetenhaus und haben versucht, vor den Abgeordneten Öffentlichkeit für das Thema zu schaffen. Aber das Gesetz ist nun extrem schnell verabschiedet worden. Wir wollen trotzdem weiter dranbleiben, auch bundesweit.

HannahSowohl im Bündnis Soziale Sicherheit als auch in unserer eigenen Gruppe wollen wir einen Zusammenhang klar herausarbeiten: Überall wird eingespart – die Regierung hält unbeirrt an der Schuldenbremse fest und die aktuelle Austeritätspolitik wird als alternativlos verkauft. Der einzige Bereich, in dem das nicht so ist, in den sogar massiv Geld hineinfließt, sind in die Sicherheitsinstitutionen. Kurz gesagt, kann man dies mit „organisierter sozialer Vernachlässigung“ beschreiben. Gezielt werden bestimmte Bevölkerungsgruppen im Stich gelassen. Die sozialen Probleme, die dadurch entstehen, werden individualisiert oder auf Basis von Rassismus bestimmten Gruppen zugeschrieben, die als inhärent gefährlich für Gesellschaft gelabelt werden.

Norah Die Kriminalisierung, die etwa in der Sonnenallee stattgefunden hat, zuletzt die Silvesterdebatte, reiht sich hier ein: So wird Neukölln immer aufs Neue als gefährlicher Ort markiert und weitere Investitionen in die Polizei gerechtfertigt.

Ihr habt die Zuspitzungen der letzten Zeit angesprochen, die auch die Verschiebung eurer Themenschwerpunkte notwendig gemacht haben; mehr hin zu einer ad hoc-Reaktion gegen krasse Übergriffe und Repressionen der Polizei, insbesondere in Berlin-Neukölln, aber auch darüber hinaus. Könnt ihr die Verschärfungen, die da stattgefunden haben, nochmal etwas genauer einordnen? Vieles davon fand zum Beispiel während der Demonstrationen und Kundgebungen gegen den Krieg in Gaza statt – welche Erfahrungen habt ihr dort gesammelt? Wie ordnet ihr ein, dass die Polizeipräsenz auch eine neue Form der gesellschaftlichen Normalisierung erfährt?

HannahHier sind mehrere Punkte wichtig. Zunächst sollen die Kriminalisierung und die krassen Repressionen verhindern, dass bestimmte Formen von Solidarität entstehen. Diese ad hoc-Bewältigung von Gewalt und Repression bindet viele Ressourcen. Aber wir erleben hier nichts komplett Neues, sondern eine Verschärfung dessen, was wir in der Vergangenheit schon erlebt haben. Es ist der Aufbau eines rassistischen Feindbilds unter dem Deckmantel von Sicherheit. Beispielsweise im Verbot und der Kriminalisierung von kurdischen Bewegungen und Protesten haben wir das schon seit Jahren gesehen, und eben auch bei palästinensischen Organisationen und propalästinensischen Protesten. Auch im Mai 2023 zum Beispiel wurden die meisten Gedenkveranstaltungen zur Nakba verboten – und die einzige Veranstaltung, die dann stattfinden durfte, wurde von der Polizei zerschlagen.

Für die rassistischen Strukturen, die hier greifen, kann man sich neben den Silvester-Debatten der letzten Jahre, auch die Debatten um Shisha-Bars, „Clans“ oder eben die um die sogenannten kriminalitätsbelasteten Orte ansehen. Wir versuchen zu zeigen, wie die Polizei sich auf dieser Basis immer mehr Ermessensspielräume aneignet.

Die Konsequenz dieser Entwicklung ist eine zunehmende Verschärfung des Polizeistaates. Dieser zeigt sich auch in dem erweiterten Polizieren kritischer Öffentlichkeit unter anderem durch das Entziehen öffentlicher Gelder und Räume. Auch diese Verbannung führt zur Normalisierung von Gewalt.

NorahDiese Feindbild-Konstruktionen werden gerade auch massiv von den Rechten genutzt, gerade in den Palästina-Israel-Debatten. Es ist absurd, dass sich jetzt Nazis und Rechte gegen Antisemitismus aufstellen, gegen einen Grundpfeiler rechter Ideologie. Auf rechten Aufmärschen sind ständig antisemitische Parolen zu hören und zu lesen. Das ist für die Polizei aber selten ein Problem. Und bei den Demos gegen den Gaza-Krieg soll man es dann plötzlich ausschließlich mit Antisemiten zu tun haben.

HannahIch möchte noch mal den Punkt der Normalisierung aufgreifen: An Silvester war es in Berlin entgegen medialen Schreckensvorhersagen weitgehend ruhig. Nun feiert man die Polizei für ihr „gutes“ Sicherheitssystem ab, das zu weniger Gewalt geführt habe. Aber was bedeuten hier Gewalt und Sicherheit – Gewalt gegen wen oder Sicherheit für was? In ganz Neukölln waren 4.000–5.000 Polizisten auf der Straße, 390 Leute wurden verhaftet, es wurden Checkpoints errichtet und Straßenzügen abgesperrt. Ist das Sicherheit? Wir sehen eine krasse Eskalation von rassistischer staatlicher Gewalt, die aber öffentlich als Sicherheit verkauft wird.

Aktuell findet insgesamt eine deutliche Normalisierung von rechten Positionen bis in die politische Mitte statt. Wenn man sich zum Beispiel die Diskussionen um die Reform des europäischen Asylgesetzes (GEAS) anschaut, fällt man aus allen Wolken, weil man so etwas bis vor Kurzem unter der aktuellen Regierung nicht für möglich gehalten hätte. Habt ihr als Kampagne noch andere Beispiele?

HannahEs ist gruselig, wenn auch für viele nicht ganz so überraschend, jetzt diese zunehmende Faschisierung der Gesellschaft zu erleben, angetrieben von staatlicher Politik. Ein elementarer Bestandteil dafür ist die Beschwörung eines gefährlichen oder unwürdigen „Anderen“. Das passiert an den und durch die Grenzen, durch faktische Aufhebung des Asylrechts in Europa und das Befeuern eines Abschieberegimes und es resultiert aus der Versicherheitlichung der Öffentlichkeit. Der Zusammenhang mit der Verschärfung des Grenzregimes ist also extrem wichtig. Damit normalisiert sich das Verständnis von Sicherheit als Abgrenzung noch mal auf anderer Ebene: die vermeintliche Notwendigkeit, allerorts Mauern hochzuziehen und die Bewegung von Menschen zu kontrollieren, innerhalb des eigenen Landes, an den europäischen Außengrenzen und darüber hinaus.

NorahIch denke auch hier an das Sondervermögen für die Bundeswehr und die Debatten um eine neue Wehrpflicht in der letzten Zeit. Auch Krieg ist wieder normal geworden. Globale Konflikte werden dazu genutzt, Aufrüstung zu rechtfertigen. Die Nähe des Ukraine-Kriegs etwa zu Mitteleuropa hat definitiv dazu beigetragen, den Sicherheitsdiskurs und insgesamt die Militarisierung der Gesellschaft zu normalisieren.

Die Polizei ist, auch historisch gesehen eben kein Freund und Helfer sondern ein Instrument zur Kontrolle, zur Disziplinierung, zur gewaltvollen Einhegung von Menschen. Versucht ihr auch solche historische Kontinuitäten mit in eure Arbeiten aufzunehmen?

HannahSo alternativlos die Polizei oft dargestellt wird, ihre Geschichte ist noch nicht sehr alt. Zudem ist ihre Funktion durch die Geschichte hinweg inhärent gewaltvoll. Das zu verstehen, ist ein Grund mehr zu sagen: Diese Institution ist nicht von der Geschichte zu befreien und dadurch auch nicht zu reformieren. Es braucht grundsätzliche Alternativen.

Für viele Leute ist es schon mal ein Schritt, polizeikritisch zu sein oder ACAB zu rufen – also ich rede ich jetzt nicht nur über unsere Gruppe, sondern generell über Linke oder die Gegenkultur. Es ist aber auch wichtig, in einem zweiten Schritt die Funktion der Polizei historisch und aktuell nachzuvollziehen. Dass wir etwa die koloniale und imperiale Geschichte der Polizei mit der Art und Weise verbinden, wie diese sich auch heute zeigt: In der Externalisierung der Grenzen, in der Art und Weise, wie die deutsche Polizei die Polizei und das Militär in anderen Ländern weiterbildet und so weiter und so fort. Darauf achten wir auch, wenn wir Themenbereiche für unsere Arbeit als Kampagne auswählen. Wir fragen uns: Geht es nur darum, zu sagen, diese Form von Polizeigewalt ist gerade geschehen, oder geht es darum, zu zeigen, warum sie geschehen ist?

NorahDie Polizei wurde unter anderem gezielt dafür geschaffen, Arbeiter:innen zu disziplinieren und Aufstände von Arbeiter:innen sowie generell als fremd und besitzlos markierte Menschen zu kontrollieren und einzuhegen. Das war und ist bis heute eine ganz klare Funktion der Polizei: Fortschritt, soziale Bewegung, Veränderung zu verhindern. Und dass sie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nie entnazifiziert wurde, ist da wenig überraschend. Die Alliierten haben sich entschieden, den Polizeiapparat samt seiner Funktionäre einfach zu übernehmen. Und bis heute existieren diese rechten Netzwerke. Es ist immer wieder erschreckend, wenn rassistische Polizei-Chats öffentlich werden; wenn rauskommt, wie viel Munition und Waffen irgendwie „verschwinden“; wenn sichtbar wird, dass Polizist:innen sich zusammentun und sich auf den Tag X vorbereiten – denn sie sind es, die die Waffen in der Hand haben. Diese Kontinuität der Nazigeschichte bis heute treibt den Rechtsruck und die Normalisierung der Sicherheitsdebatten stark mit an.

Wie kann man dagegen arbeiten? Was habt ihr für Ansatzpunkte als ISKS?

HannahWir beziehen uns auf Konzepte des Abolitionismus. Eine Tradition der Theorie und Praxis, die aus der Abschaffung der Sklaverei kommt. Aus diesen Kontinuitäten heraus kämpfen heutige Abolitionist:innen für die Überwindung von Strafregimen. Das bedeutet nicht nur zu sagen, dass wir die Polizei, das Militär und Grenzen abschaffen müssen – auch wenn all dies notwendig ist. Vielmehr geht es darum, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die beschriebene Durchsetzung von Sicherheit überhaupt nicht mehr nötig oder möglich ist. Das klingt vielleicht utopisch, aber dann in einem positiven Sinne: eine Gesellschaft ohne Polizei wächst aus dieser jetzt bestehenden Gesellschaft heraus und stellt nicht eine ganz entfernte, unerreichbare Situation dar. Kleine Schritte, die aus dieser Tradition herauskommen, wären zum Beispiel „nicht-reformistische Reformen“: Also das transformative Potenzial bestimmter Reformen ernst zu nehmen und von den Reformen abzugrenzen, die Unterdrückung nur in anderer Form weiterführen. Beispiele dafür sind Reformen rund um „Defund the Police“, also sich genau anzuschauen, welche Schritte dazu führen, dass weniger Geld in Polizei und andere Sicherheitsbehörden fließt; und dieses Geld dann in jene Gemeinschaften investieren, die von der Polizei drangsaliert werden. Also nicht-polizeiliche Alternativen schaffen für sogenannte Probleme der öffentlichen Ordnung. Wir wollen an einen Punkt kommen, an dem wir sagen können: Cops raus aus unseren Kiezen. Konzepte wie „Kotti für alle!“ statt der Polizeiwache am Kottbusser Tor wäre eine solche Alternative.

Ein anderes Beispiel ist, Entkriminalisierung zu stärken, etwa durch das Bündnis Ersatzfreiheitsstrafen abschaffen. Keine Kürzung der Länge der Strafe wie kürzlich vom Bundestag beschlossen, sondern deren Abschaffung; ein Ende dieser Form der Bestrafung von Armen, die sich in eine generelle Klassenjustiz einreiht; oder auch Zwangsräumungen zu stoppen. Die abolitionistische Perspektive unterstreicht hier auch, Bagatelldelikte nicht von anderen Formen von Kriminalisierungzu trennen. Auch wenn deren Entkriminalisierung ein guter Anfang ist, kann es nicht das Ende darstellen.

Wir müssen der Gewalt der Polizei eine gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme entgegenstellen. Orte, in denen Menschen lernen, sich für einander einzusetzen und von bestimmten Straflogiken loszulassen. Wenn man so etwas wie soziale Sicherheit einer repressiven, strafenden, staatlichen Sicherheit gegenüberstellt, wird deutlich, was benötigt wird: Dann spielen sichere Wohnungen, Möglichkeiten für psychischen Support, öffentliche Räume, in denen Leute zusammenkommen können, wie Schwimmbäder oder Jugendzentren, eine sichere Gesundheitsversorgung und so weiter eine ganz wichtige Rolle. Wenn man Leute fragen würde, was für sie Sicherheit bedeutet, würden die wenigsten sagen: „Ein Cop vor meiner Haustür!“

Diese Form von Sicherheit, die auf Aufrüstung basiert, ist eine Scheinsicherheit. Sie stellt keine Sicherheit für alle her und sie wendet sich nicht nur gegen diejenigen, die kriminalisiert, unterdrückt, ein- oder ausgesperrt werden, sondern auch gegen diejenigen, die sich auf der „guten Seite“ wähnen. Sicherheit kommt nicht durch komplette Versicherheitlichung sondern durch soziale Unterstützung zustande.

NorahAn der abolitionistischen Perspektive und den transformative justice und restorative justice-Debatten ist auch der Betroffenen-zentrierte Ansatz wichtig. Man muss als Gesellschaft aushandeln, was für eine wirkliche Wiedergutmachung benötigt wird: Soll es Rache, Bestrafung, Gefängnis für den oder die Täter:innen sein, oder brauchen wir ein Umdenken, das sich stärker an den Betroffenen von Gewalt oder ähnlichem orientiert? Braucht die Person vielleicht einen Therapieplatz? Gibt es irgendetwas Sinnvolles, was die Person, die geschädigt wurde, erhalten kann, was eine Alternative zur Bestrafung der Täter:innen und eine andere Form von Gerechtigkeit anbietet? Wenn wir wirklich Gerechtigkeit schaffen wollen, dann funktioniert das nicht durch ein Strafsystem, sondern indem wir die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse verändern.

HannahAber wir müssen auch unsere Vorstellungen von Schuld und Unschuld loslassen. Wir sind alle fähig, gewaltvoll zu sein. Davon ausgehend ist es wichtig, nicht nur mit dem Finger auf Andere zu zeigen. Menschen müssen nicht komplett gewaltfrei und „rein“ sein, damit sie es verdienen, nicht eingesperrt, misshandelt, abgeschoben zu werden. Wir müssen lernen, anders damit umzugehen, gewaltvoll zu sein oder selbst Gewalt zu erfahren.

Was haltet ihr von Strategien, aus dem Polizeiapparat selbst heraus Kritik an der eigenen Struktur zu üben?

NorahDieser interne Blick und die Informationen sind natürlich interessant. Wir glauben aber, dass die Institution Polizei an sich nicht reformierbar ist. „Wir müssen nur diverser werden!“ und „es braucht nur Antirassismus-Trainings, dann wird es eine bessere Polizei geben!“ – diese ganzen Ideen sind Quatsch. Wir setzen als Gruppe auf eine Defund-Strategie. Das bedeutet, davon auszugehen, dass immer, wenn mehr Geld in die Polizei hineingeht – und sei es, um diese zu reformieren – dass dies dann eigentlich verlorengegangenes Geld ist.

Sollte man stattdessen also versuchen, in die Politik zu kommen und die Sicherheitsbehörden von dort aus zu reformieren? Oder seht ihr die Potenziale zur Veränderung eher auf zivilgesellschaftlicher Ebene?

HannahDas politische System ist nicht komplett vom zivilgesellschaftlichen zu trennen. Wir arbeiten auf verschiedenen Ebenen, aber sparen dabei die zwischenmenschlichen Beziehungen eben nicht aus. Klar, wenn ich jetzt auf der Straße Leute anspreche, dann können vermutlich nur wenige mit dem Begriff transformative justice etwas anfangen. Aber sobald wir darüber sprechen, dass das ein Versuch ist, Konflikte anders zu lösen als nur durch Strafen beziehungsweise durch das staatliche Justizsystem, dann können viele Menschen plötzlich doch etwas damit anfangen. Schließlich versucht man auch innerhalb von Freundschaften, Familien, Kollektiven und so weiter, im besten Falle auch in Arbeitskontexten, Konflikte nicht mit der Polizei zu lösen. Man sollte sich also vergegenwärtigen, dass es diese Alternativen im Alltag sowieso schon gibt. Insbesondere marginalisierte Personen haben oft gar keine andere Chance, als sich ohne den staatlichen Sicherheitsapparat zu organisieren, da er für sie schon immer Unsicherheit bedeutet.

Zu der Frage nach dem konkreten Einmischen in Politik und Staat: Wir als Kampagne fungieren hauptsächlich auf der Straße und in der Zusammenarbeit mit anderen linken und antirassistischen Gruppen. Aber wir haben auch Veranstaltungen mit Sozialarbeiter:innen organisiert und Gespräche geführt mit Menschen, die in psychosozialen Diensten arbeiten. Das läuft neben der nachbarschaftlichen Zusammenarbeit, etwa mit Mieter:innenkämpfen wie bei „Deutsche Wohnen enteignen“ oder ähnlichem. Über die Zusammenarbeit mit Parteien oder staatlichen Akteur:innen gibt es aber auch bei uns in der Gruppe unterschiedliche Ansichten. Das kommt auf den jeweiligen Kontext an.

NorahEs ist unsere langfristige Vision, Staatlichkeit abzuschaffen. Weil wir Staatlichkeit als repressiv verstehen. Ein Staat tut alles, um den Status quo aufrecht zu erhalten, also Eigentumsverhältnisse nicht anzugreifen. „Change everything!“ nach der Abolitionistin Ruth Gilmore ist das Motto der Stunde. Für uns heißt das aktuell, an der Basis anzufangen, in unseren Communities, an den Orten, an denen wir aktiv sind, leben und arbeiten. Wir verfolgen dabei eher eine Idee von Transformation und nicht von einem abrupten revolutionären Ereignis, nachdem alles anders ist. Es muss Schritt für Schritt geschehen und nicht von heute auf morgen.

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Das Gespräch führten Johanna Bröse und Sascha Kellermann.

Zitathinweis: kritisch-lesen.de Redaktion: „Sicherheit kommt durch soziale Unterstützung!“. Erschienen in: Wer braucht eigentlich die Polizei? 70/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/W7GVC. Abgerufen am: 13. 10. 2024 02:46.