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„Es gibt keine Abkürzung der Revolution“

„Es gibt keine Abkürzung der Revolution“ © Kongress Selber Machen Berlin 2017
Interviewpartner_innen
Interview mit kollektiv! aus Bremen
Ihre 11 Thesen zu linksradikaler Politik sorgten vergangenes Jahr für Aufsehen. Wie die Debatte weiterging und wie ihr revolutionärer Ansatz konkret aussieht, erklären sie im Gespräch.

kritisch-lesen.de Im Mai 2016 habt ihr die 11 Thesen über Kritik an linksradikaler Politik, Organisierung und revolutionäre Praxis“ veröffentlicht und zur Debatte gestellt. Was hat Euch dazu motiviert?

kollektiv! Bremen Ende 2014 hat sich in Bremen aufgrund der Angriffe des IS auf die kurdischen Gebiete in Nordsyrien, wie in vielen anderen Städten auch, ein Solidaritätskomitee gegründet. Das Besondere an diesem Solikomitee war die Zusammensetzung. An den Treffen haben sich Genoss_innen der türkischen, kurdischen, iranischen und deutschen Linken beteiligt – Menschen, die seit vielen Jahren in derselben Stadt linke Politik machen, sich aber nicht wirklich kennen. Einige Genoss_innen aus dem Solikomitee hat zunehmend die Frage beschäftigt, wie ein „aktiver“ Internationalismus über die „passive“ Organisierung von Soliaktionen hinaus aussehen kann und was wir von den dortigen Ereignissen für die Entwicklung einer revolutionären Praxis hier lernen können.

Damals haben wir angefangen, uns in einem kleineren Kreis zu treffen und viele Stunden diskutiert. Wir sprachen über unsere politischen Erfahrungen, analysierten die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen, kritisierten unsere bisherige Praxis und Perspektiven. Nach einem Jahr kontinuierlicher Auseinandersetzung haben wir beschlossen, einen Schritt weiter zu gehen und als gemeinsamer Zusammenhang auch eine politische Praxis zu entwickeln.

Gleichzeitig war uns klar, dass die Fragen, die uns bewegen, keine Fragen sind, die eine Gruppe alleine beantworten kann und dass es für eine grundlegende Neuausrichtung der Praxis eine breitere Diskussion innerhalb der linken Bewegung braucht. Wir haben deshalb entschieden, unsere Diskussionen in einem Text zusammenzufassen. Die Thesen waren für uns ein Mittel, um nach außen zu treten und mit anderen Gruppen in Kontakt zu kommen.

KL Ihr sprecht von der Notwendigkeit einer „Neuausrichtung linksradikaler Politik“. Was ist Eure Kritik an linksradikaler Politik und was euer Anspruch an revolutionäre Praxis?

kollektiv! Wir sehen linksradikale Politik in einer Krise oder, so könnte man es auch sagen, in einer Sackgasse. Das hat neben vielen gesellschaftlichen Faktoren auch etwas mit der strategischen Schwerpunktsetzung zu tun. Unsere Kritik bedeutet nicht, dass wir alles an der radikalen Linken oder die Bedeutung der gemachten Erfahrungen und des Wissens komplett ablehnen. Aber wir denken, dass die bestehenden gesellschaftlichen Potenziale mit der jetzigen Politik der radikalen Linken nicht ausreichend genutzt werden.

Eine Kritik ist, dass sich radikale Linke meist außerhalb der Gesellschaft verorten, diese ablehnen oder sich explizit von ihr abgrenzen. Das führt zu einem Rückzug in Szenepolitik und Subkultur. Die Folgen sind Abwehrkämpfe auf der einen und der Verlust einer gesellschaftlichen Verankerung auf der anderen Seite. Szenepolitik und Subkultur sind hilfreich, um („Frei-“)Räume zu schaffen, in denen die eigene Identität ausgelebt, verteidigt und politische Bildung organisiert werden kann. Aber sie sind kein ausreichendes Mittel zur Gesellschaftsveränderung. Denn eine emanzipative Gesellschaftsveränderung kann nur denkbar sein als ein Prozess, der von einer breiten gesellschaftlichen Bewegung getragen wird. Deshalb kann revolutionäre Politik nur innerhalb der Gesellschaft stattfinden und muss offensiv sein.

Eine wichtige Frage ist, ob „die“ radikale Linke überhaupt von der tatsächlichen Möglichkeit einer grundlegenden Überwindung dieser Verhältnisse ausgeht. Wir denken, diese Perspektive und Hoffnung ist weitgehend verloren gegangen, was die politischen Ansätze der vergangenen Jahrzehnte deutlich machen. Im Vordergrund stehen reformistische Politikansätze, die auf abstrakter Ebene ansetzen und sich im Rahmen der bürgerlichen Demokratie bewegen. So gibt es Versuche, in den bürgerlichen Diskurs zu intervenieren und eine kritische Zivilgesellschaft zu schaffen. Es gibt Mobilisierungen zu einzelnen Events oder identitätspolitische Ansätze, die versuchen, unterdrückte Positionen innerhalb des Systems sichtbarer zu machen und zu stärken. Diese politischen Praxen haben sicher dazu beigetragen, dass sich Diskurse (und auch die konkrete Situation) in bestimmten Bereichen der Gesellschaft verändert und auch verbessert haben. Sie werden aber außerhalb des bürgerlichen Spektrums kaum im alltäglichen Leben derjenigen sicht- und spürbar, die von diesen Verhältnissen am meisten unterdrückt werden. Und sie setzen auf eine Veränderung der Diskurse und Machtverhältnisse von oben und nicht auf eine revolutionäre Veränderung von unten. Es gibt unserer Ansicht nach aber keine Abkürzung der Revolution.

Eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung kann nur durch konkrete Veränderungen von Strukturen und Erfahrungen im Alltagsleben stattfinden. Die Entscheidung für eher bürgerliche Politikansätze hat sicher auch mit der Ablehnung beziehungsweise Angst vor der Gesellschaft zu tun. Diese führt dazu, dass die radikale Linke etwa im Kampf gegen Faschismus eher mit dem Staat und der Sozialdemokratie liebäugelt und Bündnisse eingeht, als eine radikale Politik von unten zu führen. Die Folgen dieser Abwesenheit zeigt sich in ärmeren Stadtteilen, wo in den vergangenen Jahren ausschließlich der Staat (Quartiersmanagement, Sozialarbeit, Demokratieprogramme) sowie Faschist_innen (deutsche, türkische und andere) und religiöse Fundamentalist_innen Basisarbeit gemacht haben und darin sehr erfolgreich waren.

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Spaltungen und weit verbreitete Organisierungsfeindlichkeit innerhalb der radikalen Linken. Wenn über die Notwendigkeit einer revolutionären Organisierung gesprochen wird, dann löst das meist Abwehrreflexe sowie den Vorwurf des Autoritarismus aus. Das hat unserer Meinung nach unter anderem mit einem fehlenden Wissen über antiautoritäre Organisierungsansätze zu tun und mit einer Verbreitung von theoretischen Ansätzen, die die Spontaneität der Massen, Identitäts- oder Mikropolitik betonen. Für uns ist Organisiertheit eine Grundlage revolutionärer Politik. Das herrschende System ist in seiner Unterdrückungs- und Herrschaftsweise hoch organisiert und verstärkt darüber hinaus die Individualisierung und Entpolitisierung innerhalb der Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es andere gesellschaftliche Kräfte wie Faschist_innen oder religiöse Fundamentalist_innen, die ihrerseits organisiert vorgehen. Es ist daher widersprüchlich, gegen das System kämpfen zu wollen, Organisierung aber abzulehnen. Die Frage, die wir als revolutionäre Bewegung vielmehr in einem kollektiven Prozess klären müssen, ist, welche Form der Organisierung in der heutigen Zeit notwendig ist und wie das Verhältnis zwischen Organisierten und (noch) Nicht-Organisierten emanzipatorisch und transparent gestaltet werden kann.

KL Welche Faktoren haben eurer Meinung nach dazu beigetragen, revolutionäre Praxis in der Vergangenheit in den Hintergrund zu drängen?

kollektiv! Historisch gesehen gibt es verschiedene, ineinander verwobene Faktoren, die zu einer Krise revolutionärer Politik beigetragen haben. Etwas verkürzt können wir hier folgende nennen, die unserer Meinung nach eine wichtige Rolle gespielt haben: Die Niederlage der linken Bewegungen weltweit ab Ende der 1970er Jahre hat zu einer großen Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit unter Linken geführt. Dazu gehören sowohl der Niedergang der damaligen sozialistischen Versuche als auch die systematische Zerschlagung linker Bewegungen und Organisationen in vielen Ländern der Welt. Bei vielen, die aktiv geblieben sind, hat dies zu einem Bruch mit organisierten Kämpfen und kommunistischen Ansätzen beigetragen – natürlich auch als Reaktion auf die (teilweise großen) Fehler, Defizite und falschen Ansätze der damaligen sozialistischen Projekte. Eine Folge war, dass innerhalb linker Tendenzen in Westeuropa, diejenigen mehr an Gewicht bekommen haben, die sich inhaltlich sowie historisch von kommunistischen Ansätzen abgegrenzt haben. In der BRD zeigt sich dies in der Entstehung und Ausbreitung der Sponti-Bewegung, die aus der 68er-Bewegung entstand, mit dieser aber auch explizit gebrochen hat.

Parallel dazu haben sich auch neue theoretische Denkweisen entwickelt, wie postmoderne und poststrukturalistische Ansätze, die sich in der linksradikalen Bewegung schnell ausgebreitet haben und als diskursiver Ersatz für kommunistische Ansätze aufgenommen und verinnerlicht wurden.

Hinzu kommt, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Siegeszug des Kapitalismus gesellschaftlich zu einer umfassenden Verinnerlichung kapitalistischer und neoliberaler Denkweisen geführt hat. Das hat sowohl den Raum für revolutionäre Politik innerhalb der Gesellschaft verringert als auch nationalistische Ansätze gestärkt. In dieser Situation sind Abwehrkämpfe in den Mittelpunkt linksradikaler Politik gerückt (zum Beispiel die Antifa-Bewegung) und der Kampf gegen die Gesellschaft hat den Kampf gegen das System ersetzt, was sich theoretisch am deutlichsten in den Ansätzen der Antideutschen widergespiegelt hat. Als Reaktion auf die Fehler von revolutionären Bewegungen und Projekten in der Vergangenheit und die gesellschaftlichen Entwicklungen hat die radikale Linke in der BRD die Verbindung zu ihren revolutionären Wurzeln und Traditionen gekappt.

KL Der Begriff der Selbstorganisation ist in den Thesen zentral. Was versteht ihr unter Selbst- bzw. Basisorganisation? Ihr verwendet zum Beispiel den Begriff der „widerständigen Infrastruktur“, wie kann diese aussehen?

kollektiv! Wir haben in den vergangenen anderthalb Jahren, seit wir die Thesen veröffentlicht haben, die Erfahrung gemacht, dass der Begriff der Selbstorganisierung sehr weit ist und sehr unterschiedlich verstanden werden kann. Differenzen gibt es dabei nicht so sehr in den langfristigen Zielen, also der Überzeugung, dass eine emanzipatorische Gesellschaft maximal dezentral und selbstorganisiert sein muss und nicht von oben regiert werden kann.

Die Unterschiede haben eher mit der Frage zu tun, wer das Subjekt der Selbstorganisierung ist und welche Rolle revolutionäre Kräfte im Prozess der Gesellschaftsveränderung spielen: Geht es uns bei Selbstorganisierung im Wesentlichen darum, selbstorganisierte linksradikale Infrastruktur zu schaffen und zu verteidigen (besetzte Häuser, autonome Zentren, linke Kollektive)? Oder geht es uns darum, Strukturen der Selbstorganisation zu schaffen, in denen wir uns als Betroffene in Bezug auf unsere jeweils eigenen Alltagsprobleme organisieren (als Arbeitslose, als Arbeiter_innen, in Mietkämpfen)? Oder geht es um den Aufbau selbstorganisierter Infrastruktur im eigenen Alltag (solidarische Landwirtschaft, alternative Kliniken, Kommunen)? Oder geht es uns um die Schaffung von Strukturen und politischen Praxen, die neben einer Organisierung von uns selbst darauf ausgerichtet sind, für breite Teile der unterdrückten Gesellschaft relevant zu werden?

Natürlich müssen die Strategien nicht komplett gegeneinander stehen, sondern können sich auch ergänzen. Es ist also eine Frage der Schwerpunktsetzung in den strategischen Überlegungen und Praxen. Unsere eigene Praxis orientiert sich am letzten Verständnis von Selbstorganisierung. Das heißt, wenn wir vom Aufbau „widerständiger Strukturen“ sprechen, dann meinen wir damit Strukturen, die sich an den Bedürfnissen der Mehrheit der Gesellschaft orientieren, das Entstehen und Führen von Kämpfen ermöglichen und einen gemeinsamen Prozess der Politisierung. Letzterer ist für uns zentral, um über eine kleinteilige und lokale Praxis hinaus eine gesamtgesellschaftliche Perspektive und ein Verständnis über die gemeinsamen Ursachen verschiedener Kämpfe zu entwickeln.

KL Wer ist also das Subjekt der Selbstorganisierung? Seid ihr der Meinung, dass Kämpfe nur aus Betroffenheiten in jeweiligen Interessenskonflikten heraus stattfinden können („die eigene Situation“) oder kann es auch eine solidarische gemeinsame Praxis von „Betroffenen“ und „Nicht-Betroffenen“ geben?

kollektiv! Das Subjekt der Selbstorganisierung sind für uns nicht nur radikale Linke, sondern ein Großteil derjenigen, die von den herrschenden Verhältnissen unterdrückt werden. Wir als radikale Linke sind Teil der Gesellschaft und werden von diesem System unterdrückt, sind also betroffen. Betroffenheit ist jedoch etwas Vielfältiges, nicht alle werden gleichzeitig von allen Mechanismen direkt unterdrückt. Und auch kritische Denkweisen über die gesellschaftlichen Ursachen dieser Mechanismen sind nicht gleich verteilt. Wir könnten es so formulieren: Revolutionär_innen hatten in ihrem Leben „das Privileg“ oder irgendwann die Chance, ein politisches Bewusstsein und kritische Denkweisen zu entwickeln und dadurch auch die Motivation diese Verhältnisse zu verändern. Diese Möglichkeit, die eigene Subjektivität zu entwickeln, ist in der aktuellen Gesellschaft sehr ungleich verteilt. Insofern geht es uns bei der Entwicklung unserer Praxis um die Frage, wie man diese Lücke überbrücken kann.

Eine der Kritiken, die wir häufig hören, ist, dass Basisarbeit und jeder Versuch, Menschen zu „politisieren“ oder zu „organisieren“ per se autoritär, manipulierend oder instrumentalisierend sei. In dieser Logik bleibt nur noch die Möglichkeit, sich als Betroffene selbst zu organisieren und zu hoffen, dass sich andere auch irgendwann organisieren oder spontan emanzipative Erhebungen auftauchen. Wir teilen diese Auffassung nicht. Wir sind (auch wenn unterschiedlich) betroffen und haben als Revolutionär_innen ein konkretes Interesse daran, diese Verhältnisse zu überwinden. Das können wir nicht alleine. Deshalb geht es uns darum, Praxen zu entwickeln, die mehr Menschen die Möglichkeit geben, sich kritische Denkweisen und kollektive widerständige Praxen anzueignen, sich aus ihrer Ohnmacht zu befreien und ihre Subjektivität zu entwickeln. Ein Beispiel dafür kommt von uns selbst: Genoss_innen von uns aus der Türkei haben sich politisiert, weil damals Revolutionär_innen in ihren Stadtteil gekommen sind und Jugendarbeit gemacht haben.

In einer Situation, in der das herrschende System hegemonial ist und aktiv versucht, jeden Funken Widerständigkeit in jedem Bereich des Lebens systematisch zu brechen oder in andere Bahnen zu lenken und auf der anderen Seite reaktionäre Kräfte stehen, die ihrerseits die Unzufriedenheit und Ausbeutung von Leuten ideologisch für sich nutzen, reichen Ansätze der ersten Person nicht aus. Es braucht daher eine revolutionäre Organisierung, die in der Lage ist, an vielen unterschiedlichen Orten eine Politik von unten zu entfalten, die am Alltag anknüpft und auch politische Bildung beinhaltet. Revolutionär_innen agieren darin als Betroffene und Initiativkräfte zugleich. Wenn es um die Frage von Instrumentalisierung und Manipulation geht, dann ist unserer Meinung nach eher wichtig, wie das Verhältnis zwischen denjenigen gestaltet werden kann, die schon jetzt die Motivation haben, gegen die Verhältnisse zu kämpfen und denjenigen, die diese Motivation noch nicht haben, alleine kämpfen oder die Gründe für ihre Misere in nationalistischen bis rassistischen Erklärungsversuchen suchen. Wir denken, es ist möglich, eine Praxis zu entwickeln, die auf Augenhöhe stattfindet und darum weiß, dass es ein gegenseitiger Lernprozess ist.

Es gibt aktuell aber auch historisch viele Erfahrungen, die zeigen, dass ein konstruktiver gemeinsamer Kampf möglich ist, wie zum Beispiel in Brasilien, Argentinien, Chiapas, Kurdistan aber auch Organisierungs-Modelle gegenseitiger Solidarität auf lokaler Ebene zwischen Menschen, die von unterschiedlichen Aspekten des Systems unterdrückt werden, wie zum Beispiel die Solidarity Networks oder Stadtteilgewerkschaften.

KL Ihr schreibt in eurem Thesenpapier von einem Verlust an Klassenbewusstsein in der deutschen radikalen Linken. Welche Faktoren spielen hier eine Rolle? Und wie müsste eurer Meinung nach eine Wiederbelebung von Klassenpolitik aussehen?

kollektiv! Die Gründe für den Verlust einer Klassenperspektive innerhalb der radikalen Linken liegen zum einen sicherlich in der spezifischen historischen Situation der BRD, die dazu geführt hat, dass es hierzulande − im Vergleich zu den meisten anderen westlichen Ländern – auch innerhalb der Arbeiter_innenklasse kaum noch ein Klassenbewusstsein gibt. Das hat unter anderem mit der Zerschlagung von kämpferischen Arbeiter_innen-Organisationen im Faschismus und dem systematischen Zurückdrängen von kommunistischen und anarchistischen Einflüssen während des Wiederaufbaus der Gewerkschaften und politischen Organisationen durch die Siegermächte in Westdeutschland nach 1945 zu tun. Aus diesem Prozess ist ein Gewerkschaftsapparat entstanden, der sich in erster Linie an den Bedürfnissen des Kapitals und Staates orientiert. Mit der Sozialpartnerschaft wurde eines der besten Mittel geschaffen, um die Entwicklung von Klassenkämpfen und Klassenbewusstsein zu zerstören und Interessengegensätze zu verschleiern. Mit anderen Worten: Der Staat trägt in der BRD wesentlich dazu bei, dass der soziale Antagonismus verborgen und in eine neutrale Form von Parlamentarismus und Parteipolitik gelenkt wird.

Das fehlende Klassenbewusstsein innerhalb der Gesellschaft spiegelt sich natürlich auch in der radikalen Linken wieder. Allerdings hat sich die radikale Linke ab Ende der 1970er Jahre und nochmal verstärkt Anfang der 1990er Jahre gezielt von der Arbeiter_innenklasse abgewendet und damit nach und nach jeglichen Kontakt zur Lebensrealität eines Teiles der Gesellschaft verloren.

Zu dieser Abwendung haben dieselben Entwicklungen beigetragen, die wir weiter oben schon beschrieben haben: die Krise sozialistischer Bewegungen und das Bedürfnis sich vom real existierenden Sozialismus abzugrenzen, der Bedeutungsverlust (und die Krise) marxistischer Ansätze, die Verbreitung von postmodernen und poststrukturalistischen Theorieansätzen sowie der Siegeszug des Kapitalismus und die nationalistischen Mobilisierungen innerhalb der Arbeiter_innenklasse.

Die Wiederaneignung marxistischer Theorie ab den 2000er Jahren durch linke Gruppen fand in einem (bewusst) von der Klasse getrennten Raum statt und begriff Marxismus nur noch als Theorie zur abstrakten und ökonomistischen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise. Kapitalismus wurde darin also nicht mehr in erster Linie als soziales Unterdrückungsverhältnis zwischen Klassen betrachtet. Das spiegelt sich in den daraus folgenden Politikansätzen wider, die nicht den Klassenkampf von unten, sondern Vertretung, Intervention und Diskursanalyse ins Zentrum setzten.

Eine Wiederbelebung von Klassenpolitik braucht zum einen eine Theorie, die auf historischen Erkenntnissen zum Beispiel des Marxismus und Anarchismus fußt, darüber hinaus aber eine Analyse der veränderten aktuellen Situation zum Beispiel in Bezug auf die Zusammensetzung der Arbeiter_innenklasse umfasst. Zum anderen geht es darum, sich selbst wieder als Teil der Gesellschaft und Klasse zu begreifen, die Szenepolitik und Subkultur zu verlassen, selbst Kämpfe zu führen, Erfahrungen damit zu sammeln und zu verbreiten.

KL Initiativen wie Quartiersmanagement und Bürgerbeteiligungsforen bieten den neoliberalen Gegenentwurf zu radikaler Organisierung von unten. Was sind aus eurer Sicht effektive Werkzeuge gegen eine Vereinnahmung „von oben“, also von staatlicher Seite?

kollektiv! Diese (sozial-)staatlichen Organe sind im Stadtteil das, was die reformistischen Gewerkschaften in den Betrieben sind: Sie vereinnahmen und kanalisieren widerständiges Potenzial in vorgegebene Bahnen und verhindern so eine Radikalisierung von Protesten oder Organisierung jenseits der offiziellen Strukturen. In der Bundesrepublik fehlt es an Erfahrung mit und Wissen über revolutionäre Bewegungen − über das Potenzial von Selbstorganisierung und Kämpfe, die außerhalb von Parlamenten oder Beteiligungsverfahren geführt werden können. Deshalb ist einer der wichtigsten Aufgaben einer Politik von unten, das Wissen um die Stärke von direkten kollektiven Aktionen und Kämpfen wieder zu verbreiten. Das ist nicht einfach, denn natürlich ist Stellvertretung auch bequem und der Grad der Verwaltung des gesamten Alltags durch staatliche und zivilgesellschaftliche Instanzen weit fortgeschritten. Da ist es schwierig, einen Bereich zu finden, in dem ein Freiraum für selbstorganisierte Prozesse entstehen kann.

Ein weiteres wichtiges Mittel gegen die Vereinnahmung ist, die eigene Praxis im Stadtteil aus einer klaren Klassenperspektive heraus zu entwickeln und die unterschiedlichen Interessen der jeweiligen Akteure herauszuarbeiten. Denn die staatlichen Institutionen versuchen ihrerseits, das Modell einer vermeintlich klassenlosen Gesellschaft ohne Interessengegensätze zu vermitteln, in der Bürger_innen gleichberechtigt miteinander und mit dem Staat verhandeln und Lösungen finden können. Hier ist es auch wichtig, die vielen negativen Erfahrungen mit staatlichen Vermittlungsverfahren et cetera von Anfang an in die politische Arbeit mit einfließen zu lassen.

In Bezug auf revolutionäre Stadtteilarbeit ist es zudem wichtig, sich klar von offiziellen Akteuren und Strukturen abzugrenzen und auf eigenen Beinen zu stehen − inhaltlich, strukturell und finanziell.

KL Welche Rolle spielen hierbei Orte der Bildung? Können Universitäten heute noch als Bildungsfreiräume gesehen werden oder muss Basisorganisierung eigene Bildungsangebote jenseits der Uni schaffen?

kollektiv! Für uns spielt politische (Selbst-)Bildung sowohl innerhalb einer revolutionären Bewegung als auch in der politischen Praxis eine zentrale Rolle. Die konkrete Erfahrung von Solidarität und Kollektivität in Kämpfen und sozialen Bewegungen ist eines der wirksamsten Mittel der Politisierung. Unsere Erfahrungen zeigen aber, dass dies häufig nicht ausreichend ist, wenn nicht gleichzeitig über einen Prozess der politischen Bildung Möglichkeiten geschaffen werden, kritische Denkweisen und die eigene Subjektivität weiter zu entwickeln. Es gibt viele Erfahrungen mit widerständigen Bildungsmethoden von unten, vom Theater der Unterdrückten, den Schulen des Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST – Bewegung der Landarbeiter_innen ohne Boden) in Brasilien bis zu den Akademien in Kurdistan. (Selbst-)Bildung ist einer der wichtigsten Bestandteile für die Kontinuität, Weiterentwicklung und Ausbreitung revolutionären Denkens und Handelns.

Universitäten sind zunehmend auf die Erfordernisse des Kapitals zurecht gestutzt worden. Sie sind immer weniger ein Ort, an dem widerständiges Denken gelehrt und gelernt werden kann. Linke Theorie an Universitäten ist häufig sehr akademisch und von den realen Kämpfen und Bewegungen entfremdet. Universitäre Forschung und Theorieentwicklung folgt einer Eigendynamik, die mehr an die Erfordernisse des Wissenschaftsbetriebes als an die der Bewegung auf der Straße angepasst ist und aufgrund finanzieller Abhängigkeiten zunehmend seine Unabhängigkeit verliert. Revolutionäre Theorie und Bildung kann aber nie getrennt werden von den Kämpfen, aus denen die Fragen entstehen und in die die Antworten zurückfließen müssen. Insofern ist es wichtig, Räume für politische Bildung jenseits offizieller Institutionen aufzubauen.

KL Eine große Zahl der Widersprüche des Kapitalismus spielen sich heute nicht mehr auf nationaler Ebene, sondern auf globaler Ebene ab. Was bedeutet das für linke Basisorganisierung und die Frage einer internationalen Solidarität und Vernetzung zwischen verschiedenen Organisationen, die sich mit ganz unterschiedlichen Problemen konfrontiert sehen?

kollektiv! Die Probleme, gegen die verschiedene linke Gruppen in verschiedenen Ländern kämpfen, sind sehr unterschiedlich. Aber bei den Ursachen gibt es viele Überschneidungen, wie zum Beispiel den Kampf gegen staatliche Unterdrückung, Kapitalverhältnisse in Form von Neoliberalismus, Prozesse der Individualisierung und Entpolitisierung, umfassend wirkende Unterdrückungsmechanismen wie Patriarchat und Rassismus et cetera. Bewegungen an unterschiedlichen Orten der Welt haben sich über die Zeit viel Wissen und wichtige Erfahrungen im emanzipatorischen Kampf und Widerstand gegen diese Strukturen angeeignet. Deshalb ist es notwendig, sich über solche Erfahrungen auszutauschen und sich gegebenenfalls gegenseitig zu unterstützen. Das sind auch unsere Erfahrungen im Austausch mit Gruppen aus anderen Ländern. Wir sind erstaunt, wie ähnlich die offenen Fragen und strategischen Debatten trotz der lokalen und nationalen Unterschiede sind. Bei der Frage der Organisierung geht es uns nicht um die Entwicklung gemeinsamer Kampagnen oder Aktionen, die einer lokalen Praxis übergestülpt werden, sondern zu Beginn vor allem um einen verbindlichen und kollektiven Austausch über Erfahrungen und Strategien für die (Weiter-)Entwicklung der lokalen Praxis. Gleichzeitig kann eine überregionale bis internationale Organisierung bei lokalen Kämpfen konkret hilfreich sein, wenn es zum Beispiel darum geht, die Verlagerung der Produktion während eines Streiks an einen anderen Standort zu verhindern, eine überregional agierende Wohnungsbaugesellschaft in einem Mietkonflikt über den lokalen Rahmen hinaus unter Druck zu setzen oder auf Angriffe und Unterdrückung koordinierter reagieren zu können.

Lokale Basisorganisierung ohne überregionale Organisierung mit internationaler Perspektive ist zum Scheitern verurteilt. Sie wird sich im Kleinteiligen verlieren, vom System vereinnahmt werden oder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Deshalb betonen wir immer wieder die beiden Beine unserer Strategie: lokale Politik von unten und überregionale Organisierung von revolutionären Gruppen. Die vielen linken Aktivist_innen, die in der BRD im Exil leben, können eine wichtige Rolle beim Aufbau internationaler Kontakte spielen. Deshalb sind wir neben der lokalen Stadtteilarbeit dabei, eine internationalistische Plattform aufzubauen, als Anlaufpunkt und Diskussionsplattform für Linke aus anderen Ländern.

KL In der Vorbereitung auf dieses Interview sind wir häufiger auf die Kritik gestoßen, dass ihr tatsächliche praktische Ansätze der Selbst- oder Basisorganisierung nicht berücksichtigt habt. Tatsächlich lesen sich eure Thesen auch sehr abstrakt und es fällt schwer, sich die Ideen in der Praxis vorzustellen. Könnt ihr Beispiele nennen, die euren Vorstellungen in der Praxis entsprechen?

kollektiv! Die Thesen waren – wie gesagt – eine Zusammenfassung unseres Diskussionsstandes und für uns eine Möglichkeit, um mit anderen Gruppen in Diskussion zu kommen und kein fertiges Manifest oder so etwas. Vieles ist noch nicht konkret und vieles fehlt darin. Aber wir denken, alles andere muss sich in einem kollektiven, breiteren Prozess entwickeln. Praktische Beispiele gibt es viele. Da die meisten von uns nicht aus Deutschland und der radikalen Linken kommen, sind unsere Bezugspunkte vor allem Bewegungen in anderen Ländern wie etwa die Selbstverwaltung von Fatsa Ende der 1970er in der Türkei, Iran vor und am Anfang der Revolution, Entwicklungen in den kurdischen Gebieten aber auch Selbstorganisierungsansätze in Spanien und Griechenland, der MST in Brasilien, die FOL in Argentinien. Aber auch hierzulande gab und gibt es positive Beispiele und sicher auch viele, von denen wir nichts wissen, die wir aber gerne kennenlernen würden.

Wir selbst haben vor einem halben Jahr in einem Stadtteil in Bremen mit unserer lokalen Praxis begonnen, die wir etwas großspurig als revolutionäre Stadtteilpraxis bezeichnen. Wir machen das mit einem etwas größeren Zusammenhang, der sich nach der Veröffentlichung der Thesen gefunden hat. Unser Ziel ist zum einen der Aufbau einer kämpferischen Struktur innerhalb des Stadtteils im Sinne einer Stadtteilgewerkschaft oder eines Solidarity Networks, die auf gegenseitiger Solidarität basiert und von der aus kollektive Kämpfe gegen unterschiedliche Angriffe im Alltagsleben geführt werden können – etwa nach einer Kündigung von Leiharbeitsfirma, nach Leistungskürzungen vom Amt, Mieterhöhungen oder rassistischer Polizeigewalt.

Auf der anderen Seite wollen wir über soziale und kulturelle Aktivitäten Räume schaffen, in denen Nachbar_innen sich treffen und in Diskussion kommen und politische Bildung stattfinden kann. Wir wollen eine lebendige, widerständige Praxis und zugleich eine politische Atmosphäre schaffen – eine revolutionäre Gegenkultur gegen Individualisierung, Entpolitisierung und Spaltungen.

Angefangen haben wir mit regelmäßigen Umfragen auf den Straßen, um die Lebensrealität, Probleme und Perspektiven besser kennen zu lernen. Auch heute sind wir noch viel auf den Straßen unterwegs, reden mit Leuten und verteilen Flyer. Außerdem organisieren wir regelmäßig Filmabende auf öffentlichen Plätzen, machen alle zwei Wochen ein offenes Café und ein Treffen, das für uns der Kern der zukünftigen Stadtteilgewerkschaft ist. Wir versuchen, präsent zu sein und Leute sowohl über konkrete materielle Bedürfnisse anzusprechen als auch diejenigen zu finden, die uns politisch nahe sind und ähnliche Ideen teilen.

Aber wir sind noch total am Anfang. Wie das läuft und ob wir damit Erfolg haben, wird sich zeigen. Aber eines ist klar: In den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen, der Vereinzelung, Entfremdung und Entpolitisierung ist diese Praxis keine kurzfristige Angelegenheit. Wir werden einen langen Atem brauchen.

KL Wie ist die Debatte um eure Thesen in den Monaten nach Veröffentlichung gelaufen? Welche Kritik gab es, welche konstruktiven Debatten? Wie denkt ihr eure Ideen weiter?

kollektiv! Nach der Veröffentlichung der Thesen haben wir unglaublich viele positive Rückmeldungen bekommen und viele Diskussionen mit unterschiedlichsten Gruppen geführt. Das war für uns sehr wichtig, um uns theoretisch aber auch praktisch weiterzuentwickeln. Gleichzeitig hat es uns gezeigt, dass wir mit unseren Fragen nicht alleine stehen, sondern es einen breiteren Suchprozess innerhalb der radikalen Linken in der BRD (und darüber hinaus) gibt. Das ist genau der Grund warum die Thesen so viel Aufmerksamkeit bekommen haben.

Kritik gab es natürlich auch, sowohl inhaltlich als auch an der Form. Neben der Tatsache, dass die Thesen teilweise für zu lang und abstrakt gehalten wurden, gab es die Kritik, dass die Thesen keine neuen Überlegungen enthalten und dass sie keine konkreten Alternativen formulieren würden. Einige haben in den Thesen leninistische Aspekte vermutet und kritisiert, andere fanden sie zu anarchistisch beeinflusst. Auch wurde uns − wie schon gesagt − vorgeworfen, dass unsere Ansätze manipulierend und instrumentalisierend seien, was uns mit traditionellen kommunistischen Ansätzen verbinden würde. Teilweise gab es die Reaktion, dass linksradikale Politik nicht in einer Sackgasse sei, die Kritik an Subkultur und Szenepolitik nicht nachvollzogen werden könne und eine Trennung von der Gesellschaft auch für notwendig empfunden werde. Einige fanden die Zusammenarbeit mit Parteien, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft notwendig und hilfreich und unsere Abgrenzung an diesem Punkt nicht gut. Und es gab auch einige Kritik von feministischer Seite, weil unsere Thesen die Rolle des Patriarchats und damit feministischer Kämpfe nicht ausreichend betont haben.

Einige Kritiken (aber auch einige positive Rückmeldungen) basieren unserer Ansicht nach auf einem falschen Verständnis dessen, was wir eigentlich ausdrücken wollten. Andere sind sehr treffend und haben uns geholfen, Lücken oder bestimmte Aspekte zu hinterfragen oder weiter zu entwickeln. Was uns sehr hoffnungsvoll stimmt ist, dass es innerhalb der linksradikalen Szene momentan ein großes Bedürfnis an einer ernsthaften und respektvollen inhaltlichen Auseinandersetzung und Diskussion um Strategien und Praxen gibt und auch einige Versuche der praktischen Umsetzung. Wie sich dieser Prozess entwickelt, werden wir sehen. Fragend schreiten wir voran.

Zitathinweis: kritisch-lesen.de Redaktion: „Es gibt keine Abkürzung der Revolution“. Erschienen in: ...können wir nur selber tun!. 45/ 2017. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1434. Abgerufen am: 28. 03. 2024 23:24.