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Vor dem Tod sind alle gleich?

Vor dem Tod sind alle gleich? © Matthias Rude
Thema
Essay von Sara Madjlessi-Roudi

Die Ungleichwertigkeit in der Darstellung von Toten verweist auf Macht- und Ungleichheitsdimensionen unter den Lebenden.

Mitte Januar trauerten Menschen in einer Vielzahl von Ländern um die Toten des Anschlags auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo. Solidaritätsbekundungen aus den unterschiedlichsten politischen Lagern wurden ausgesprochen, Regierungschefs aus ganz Europa führten öffentlichkeitswirksam Demonstrationszüge an, und selbst rechte Bewegungen, wie KÖGIDA, bezogen sich in Teilen positiv auf den Slogan „Je suis Charlie“.

Gleichzeitig versuchen linke Gruppen das Gedenken an den 2005 verstorbenen Laye-Alama Condé wachzuhalten: ein in Deutschland lebender Sierra Leoner, der durch einen Brechmitteleinsatz der Bremer Polizei ums Leben kam. Während der Tod nach Polizeiangaben ein Unfall gewesen sei, gehen antirassistische Gruppen von einem Mord aus rassistischen Motiven aus. In hegemonialen Printmedien haben wir nur wenig über den Fall Condés gelesen - trotz der erdrückenden Beweise für den Mord.

Gemeinsam ist den beiden aufgeführten Fällen, dass es sich um Tote handelt, deren Sterben hätte verhindert werden können. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass bestimmte Tote eher gesehen und betrauert werden als andere. Während manchen Toten in der öffentlichen Debatte noch ein individuelles Gesicht gegeben wird, werden andere Ermordete lediglich als Gruppen benannt. Andere Verstorbene sind in der medialen Darstellung in Deutschland gar nicht oder nicht mehr präsent, beispielsweise die zahlreichen Menschen, die im Sudan im Rahmen des Konflikts der vergangenen Jahre umkamen. Diese Toten existieren im gesellschaftlichen Bewusstsein nicht, werden in politischen Debatten nicht beachtet. Ihr individuelles Leid hat keinen oder nur wenig Einfluss auf gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen. Ausgehend von dieser Überlegung kommen wir als Linke nicht umhin, nach Macht- beziehungsweise Ungleichheitsdimensionen und gesellschaftlichen Strukturen zu fragen, die eine solche Darstellung erst ermöglichen. Wir kommen auch nicht umhin, die Wirkungen der Repräsentation auf aktuelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen in den Blick zu nehmen.

Zur Ungleichwertigkeit von Lebenden und Toten

Festzustellen ist zunächst, dass über die Verhandlung von Toten Politik gemacht wird. Erst wenn das Sterben von Menschen in einen bestimmten Kontext gesetzt und der Tod begründet wird, erschließt sich anscheinend die gesellschaftliche Wertigkeit des Einzelnen. So können Tote zu Märtyrern, Terroristen oder Kämpfern für Freiheit und Demokratie gemacht werden. Auch die Nicht-Benennung von Verstorbenen ist wichtig, um herrschende Politiken zu begründen, umzusetzen oder weiterzuführen. Schließlich könnten zahlreiche wirtschafts-, sozial- oder migrationspolitische Programmatiken nicht durchgesetzt werden, wenn sterbende Menschen als Konsequenz in Entscheidungsfindungsprozesse miteinbezogen würden. Die Tötung von Menschen stünde im Widerspruch zum humanistischen und menschenrechtlichen Selbstbild der Bundesrepublik, welches durch das Sterben von ‚zivilen Opfern‘ brüchig werden würde. Wenn jemand legitimer Weise getötet werden darf, dann nur zur Durchsetzung eben dieser Werte. Als Beispiel ließen sich hier zahlreiche politische Oppositionelle nennen, die in Saudi-Arabien durch die Regierung erschossen wurden. Saudi Arabien ist einer der Hauptabnahmestaaten deutscher Waffenexporte – auch im Feld der Kleinwaffen.

Deutlich wird, dass es eine Ungleichwertigkeit von Toten gibt, die nur durch eine Ungleichwertigkeit der Lebenden erklärt werden kann. Auch nach dem Tod eines Menschen bleiben dabei gesellschaftlich verhandelte Dichotomien, in die der Einzelne eingebunden ist, bestehen, sie manifestieren sich in der öffentlichen Betrauerung. Von dieser hergestellten Ungleichwertigkeit hängt also ab, ob Tote ein Gesicht erhalten oder nicht.

So wird beispielsweise in der Debatte um Charlie Hebdo deutlich, dass die Toten als Symbol für Meinungsfreiheit und Demokratie in Europa gesehen werden, die es gegen „Islamismus“ zu verteidigen gilt. Möglich wird diese Symbolisierung erst durch verbreiteten antimuslimischen Rassismus und das Selbstbild des aufgeklärten Abendlandes – Attribute, die mit konkreter politischer Praxis, wie militärischen Interventionen oder institutionellem Rassismus, einhergehen. Ob die Toten selbst Interesse daran hätten, für die unterschiedlichen politischen Positionen genutzt zu werden, sei einmal dahin gestellt.

Auch andere gesellschaftliche Ungleichheitsdimensionen können eine bedeutsame Rolle für die Darstellung spielen. Wie im Fall der Studentin Tuğçe Albayrak, die im November 2014 erschlagen wurde, weil sie sich schützend vor zwei junge Frauen stellte, als diese von einem Mann belästigt wurden. In der Mediendebatte wurde die junge Frau als Sinnbild der gut integrierten Akademikerin dargestellt. Ihr Tod – der ähnlich einem Märtyrertod verhandelt wurde und damit Parallelen zum Tod der Charlie-Hebdo-Mitarbeiter*innen aufweist – stand in direktem Zusammenhang mit Werten gelungener Integration und Zivilcourage: Werte die der Mehrheitsgesellschaft, also dem Eigenen, zugerechnet werden. Die gesellschaftliche Bedeutung ihres Tods erschließt sich auch hier erst über den Kontext. Nicht nur die mediale Betrauerung von Toten hat Einfluss auf vorherrschende Auseinandersetzungen, sondern auch deren Abwesenheit ist maßgeblich, wenn Ungleichheitsdiskurse gewichtig werden oder im Rahmen von Interessenspolitiken Tote verschwiegen werden. Als Beispiel können hier die zahlreichen verstorbenen Arbeiter*innen genannt werden, die im Kongo aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen in Coltan-Mienen umkommen – ein Schwermetall, welches zur Handyproduktion genutzt wird. Um das Jahr 2011 waren die schlechten Arbeitsbedingungen kurzzeitig Thema in deutschen Medien. Anschließend geriet das weiter andauernde Sterben jedoch ins Vergessen. Was wäre gewesen, wenn die Opfer der schlechten Arbeitsbedingungen auch nachhaltig Thema der Debatte hier gewesen wäre? Vielleicht wäre der öffentliche Handlungsdruck, Arbeitsbedingungen zu verbessern, gestiegen? Vielleicht wäre dem Einzelnen jedoch auch die eigene Verwobenheit und das eigene Profitieren von den zugrunde liegenden Ausbeutungsmechanismen deutlicher geworden?

Während also manche Tote gar keine Beachtung finden, wird das Sterben anderer unter bestimmten Voraussetzungen zum medialen oder politischen Ereignis. So fanden die etwa 3500 Toten, die 2014 auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertranken, nur im Rahmen bestimmter Ereignisse in der medialen Debatte Erwähnung, zum Beispiel, als antirassistische Gruppen sich mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen Gehör verschaffen konnten. Wie an diesem Beispiel deutlich wird, werden Tote – oftmals in Gruppen zusammengefasst – als Zahlen wiedergegeben: ein individuelles Gesicht erhalten Ermordete, die „dem Anderen“ – also dem von der Norm abweichenden - zugerechnet werden, nur selten.

Mit der Frage der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern ist auch die Frage nach Tätern und Verantwortlichen für das Umkommen von Menschen verknüpft: Wer ist für das Sterben verantwortlich? Bedeutsam ist hier die Differenz ausgemachter personaler und struktureller Gewalt. Während im Falle Charlie Hebdos ein personalisiertes Täterprofil ausgemacht wurde, der „islamistische Terrorist“, welches in der Debatte große Relevanz erhielt, erscheint die Darstellung im Falle der Geflüchteten unklarer. Nur wenige Debatten befassen sich explizit mit den Verantwortlichen europäischer Asylpolitiken. Vielmehr werden diffuse Strukturen als Grund für die Flucht ausgemacht: Krieg oder Hunger beispielsweise. Nach den strukturellen Ursachen wird weniger gefragt.

Tod im globalen Süden: Zwischen Betroffenheit und Ignoranz

Gerade im Falle des globalen Nord-Süd-Gefälles wird die krasse Differenz der Ungleichwertigkeit von Toten deutlich. Afrika beispielsweise erscheint in der Debatte in Deutschland als ein Kontinent, in dem das Bild des Todes prägend ist. Wenn über Sterben in Afrika im Zusammenhang mit Armut, Krieg oder Krankheit gesprochen wird, dann spielt der einzelne Verstorbene in der hiesigen Debatte keine Rolle mehr. Zu groß wäre vielleicht auch die Zahl der Toten. Sie würde uns das Ausmaß des globalen Sterbens deutlich machen, vielleicht auch stärker zum solidarischen Handeln zwingen. Interessant erscheint auch hier, dass selten über strukturelle Ursachen des Sterbens im globalen Süden gesprochen wird. Soweit dies noch möglich erscheint, wird über ein Problemmanagement versucht, in die Konflikte der jeweiligen Regionen einzugreifen. Dabei wird die eigene Verwobenheit in globale Interessenspolitiken und Afrikabilder kaum beachtet. Auch hier ist die zentrale Frage: Wer profitiert vom Tod?

Beispielhaft kann die Auseinandersetzung mit Ebola genannt werden. Wie viele Tote derweilen an der Krankheit gestorben sind, wird in der Mainstream-Presse höchstens in Tausenderzahlen zusammengefasst. Langsam verschwindet das Thema von den Titelseiten der Tageszeitungen, wobei innerhalb der Auseinandersetzung bisher die strukturellen Ursachen, die zu einer derartig rasanten Verbreitung der Krankheit führten, mehrheitlich ausgespart wurden. Kaum ein Wort zu der mangelhaften Forschung zu den Krankheiten, die im globalen Norden nicht verbreitet sind, weil sie schlichtweg nicht profitabel für die Pharmaindustrie ist. Gleichzeitig werden Einzelschicksale von Ärzt*innen aus Europa oder den USA, die an Ebola erkrankt sind, weitreichend in den Fokus gerückt. In der medialen Darstellung erscheint die Ausbreitung der Krankheit ähnlich einem unvorhersehbaren, naturgegebenen Schicksalsschlag, der mit den desolaten politischen Systemen in den betroffenen Ländern einhergeht. Demgegenüber wird dem globalen Norden eine positive Rolle zugewiesen. Er ist aktiv im „Kampf gegen das Sterben“ beteiligt. Dem Einzelnen ist es möglich, durch Spenden an aktive NGOs Verantwortung zu übernehmen und gegen das Sterben vorzugehen. Dies ist sicherlich moralisch löblich, jedoch trifft es nicht den Kern der strukturell verankerten globalen Ungleichheit, welche ein Ausbreiten von Ebola erst ermöglichte, wie beispielsweise Verarmungsprozesse aufgrund einer export- und weltmarktorientierten Wirtschaftspolitik, die mit einer mangelhaften medizinischen Versorgung einhergeht oder auch der Landgrabbing-Prozesse, die der Bevölkerung ihre Ernährungsgrundlage entziehen.

Und die Linke?

Eine Auseinandersetzung mit der Darstellung von Toten in hiesigen Diskursen verdeutlicht die Notwendigkeit linker Politiken. Es muss darum gehen, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse aufzuzeigen, um der Ungleichwertigkeit von Toten entgegenzutreten – etwa, indem Toten ein Gesicht gegeben wird. Wir sollten uns zunehmend nach den Toten umschauen, deren Sterben keinen Platz in der allgemeinen Darstellung findet. Dies sind in der Regel die Betroffenen von Massensterben. Hier geht es darum die strukturelle Gewalt sowie deren Verwobenheit in herrschende Politik transparent zu machen und anzugreifen, um so dem Normallfall des menschengemachten Sterbens und deren Profiteuren den Boden zu entziehen.

Zitathinweis: Sara Madjlessi-Roudi: Vor dem Tod sind alle gleich? Erschienen in: Leben und Sterben. 35/ 2015. URL: https://kritisch-lesen.de/s/wnsoE. Abgerufen am: 21. 12. 2024 15:26.