Über die Freiheit von Menschen
- Thema
- Essay von Johanna Bröse
Die internationalen und nationalen Entwicklungen in der Flüchtlingspolitik des vergangenen Jahres werden mit Blick auf mögliche Anknüpfungspunkte linker Kämpfe unter die Lupe genommen.
Was wurde nicht schon alles geschrieben über den „Sommer der Migration“. Es ist viel passiert und schwer, überhaupt einen Überblick zu behalten. Es war ein Sommer, nein, ein Jahr des Durcheinanders zwischen Willkommenseuphorie und rassistischen Übergriffen, zwischen tödlichen Fluchtrouten und offenen Grenzen, zwischen Solidaritätsbekundungen und rigiden Gesetzesverschärfungen. Das Jahr 2015 war ein Jahr der Toten, der Traumatisierten und der Verlassenen, zugleich ein Jahr der Kämpfer_innen, der Aktivist_innen; kurz gesagt, ein Jahr der Überlebenden einer globalen und nationalen Politik, die aufgrund von ökonomischen, territorialen und politischen Expansions- und Kontrollbestrebungen mit dem Leben und Sterben von Menschen pokern geht. Im Folgenden ein Versuch, mit einem Blick auf europäische Entwicklungen sowie nach Deutschland die Fäden zusammenzuführen.
Internationale Kontrollinstanzen
„Diese Union tötet; sie tötet durch Unterlassen, durch unterlassene Hilfeleistung.“ So kommentierte Heribert Prantl schon Anfang des Jahres 2015 die Flüchtlingspolitik der EU in Bezug auf die Mittelmeertoten in der Süddeutschen Zeitung. Bei aller Zustimmung macht es sich Prantl mit dieser Einschätzung zu leicht: Die EU tötet nicht nur durch Unterlassen an der Grenze; sondern auch, indem sie durch Waffenexporte oder direkte Beteiligung in Konflikten dafür sorgt, dass das Sterben der Menschen auf der Flucht und die weltweiten Fluchtursachen nicht weniger werden. Thomas Gebauer von Medico International spricht mit Blick auf das EU-Grenzregime von einem „Sicherheitsimperialismus“, der auf Exklusion abzielt:
„Dass dabei die globalen Spaltungsverhältnisse weiter verschärft werden, nimmt die Europäische Union billigend in Kauf. Bemerkenswert ist, dass man sich in Brüssel der Gefahren, die aus der voranschreitenden Vernichtung von Lebensgrundlagen resultieren, durchaus bewusst ist, aber sie – wenn überhaupt – nur am Rande mit der eigenen Politik in Beziehung setzt.“
Es scheint also zunächst notwendig, die neoliberale Ordnung der globalen Ungleichheit zu fokussieren. Voraussetzung für die Internationalisierung der Produktion westlicher Länder war die Liberalisierung des internationalen Waren- und Kapitalverkehrs, damit verbunden auch die Zunahme der internationalen Arbeitsteilung und die Industrialisierung der Peripherieländer. Nicht die Freizügigkeit aller Menschen war das Programm der Globalisierung, sondern die Freiheit von Waren und Geldströmen. Damit einher geht die Freiheit, notfalls auch mit militärischen Mitteln Wege für diese Geldströme durchzusetzen und gleichzeitig Mechanismen zu etablieren, welche die eigenen Privilegien sichern.
Für die aktuellen Fluchtbewegungen spielen diese − noch immer kolonialistisch anmutenden – Strategien der Elite des globalen Nordens eine wichtige Rolle. An den Außengrenzen errichtete Europa, unter kräftigem Antrieb von Deutschland, neue und noch schwerer überwindbare Sperrzäune und Grenzanlagen. Mit den Machthabern in den nordafrikanischen Staaten, die bisher den Auftrag der Grenzsicherung für Europa erledigten, wurden durch Aufstände, durch die EU und teilweise auch die USA in den vergangenen Jahren Kriege losgetreten, welche die Lebensgrundlagen der Bevölkerung und auch die Sicherungsfunktionen für die Grenzsicherung ruinieren. Die EU hat beispielsweise an der Erstellung der Höllenzustände in Syrien, Libyen und anderswo fleißig mitgewirkt, denen die Menschen nun zu entkommen suchen.
Die Zustände, die wesentliche Ursache für die Fluchtbewegungen sind, werden durch die Geflüchteten nun endlich auch in Europa sichtbar. Der Widerstand gegen das europäische Grenzregime zeigt, wie sehr die Situation weltweit in Schieflage ist und wie wenig erfolgreich das Bemühen der Politiker_innen und Eliten auf Dauer aufrechterhalten werden kann, das weltweite Elend von den eigenen Haustüren fernzuhalten. Dafür hat nicht zuletzt auch die europäische Finanzkrise gesorgt, indem Länder wie Griechenland und Italien ihre Puffer-Funktion für die zentralen EU-Länder nicht mehr „zufriedenstellend“ ausüben (konnten) und somit die Dublin-Vereinbarungen und Einreiseverbote heute nur mehr Makulatur sind.
Kontrollinstanzen, welche das europäische Grenzregime schnell wieder auf seine stacheldrahtumzäunten Beine stellen wollen, gibt es allerdings zu Genüge. Die globalen Player der Grenzverschärfung sind dabei eng miteinander verflochten. Mitte Dezember 2015 fand der Gipfel des Europäischen Rates zur Flüchtlingspolitik statt. Die Mitgliedsstaaten konnten sich sehr schnell auf wichtige Punkte des verstärkten Schutzes der Außengrenzen einigen. Maßnahmen, die das Wohl der Schutzsuchenden in den Mittelpunkt stellen, wurden indes nur am Rande behandelt. Vor allem wurde über die Kontrolle der Außengrenzen und die Arbeitsweise der sogenannten „Hotspots“ in Italien und Griechenland diskutiert. Einig waren sich die Anwesenden, dass die Grenzsicherungsagentur Frontex („Unser Mandat ist der Grenzschutz“) erheblich ausgebaut und zusätzlich gemeinsam mit nationalen Grenzschützern ein neuer und effektiver europäischer Grenz- und Küstenschutz entwickelt werden soll. Es ist dabei einerlei, ob diese Hotspots, Auffanglager zur Konzentration und Registrierung von Flüchtlingen, nun in Südeuropa entstehen sollen oder vorgelagert in die Peripherie, zum Beispiel in der Türkei. Menschenverachtend sind sie überall. Aber zusätzlich soll die Türkei als Belohnung für Sultan Erdogans Bereitschaft, die Grenzen nach Europa dicht zu machen und diese Lager einzurichten, selbst zeitnah zu einem sicheren Herkunftsland erklärt werden. Kurdinnen und Kurden, die in der Türkei derzeit eine neue Welle der Repressionen erleiden müssen und in großer Zahl verfolgt, gefangengenommen und hingerichtet werden, können auf der Flucht vor diesen Zuständen damit künftig kein Asyl mehr in Europa beantragen.
Deutschland: Ausnahmezustand als Normalität?
Durch die militärische Abschottung der europäischen Außengrenzen, die Implementierung der Dublin-Abkommen und die Verschärfung der Asylgesetze Anfang der 1990er Jahre wurden Flucht und Zwangsmigration in den letzten Jahrzehnten in Deutschland weitgehend unsichtbar gemacht. Die Lebensumstände geflüchteter Menschen und ihre ordnungspolitische „Bearbeitung“ durch den bundesdeutschen Asylrechtsapparat wurden allenfalls in einigen linken Flüchtlingsinitiativen und antirassistischen Gruppen thematisiert.
Und nun? Willkürlich zusammengepferchte Menschen an europäischen Bahnhöfen, auf den Seitenstreifen der Autobahnen, in stacheldrahtumzäunten Camps und in eilig aufgebauten Lagern in Turnhallen und Kasernen scheinen den sonst so hochbejubelten Organisationsweltmeister Deutschland an seine Grenzen zu bringen. Das Bürokratiemonster ächzt und spuckt lauter leidende politische Hampelmännchen aus, die davon jammern, dass diese „Krise“ nicht zu schaffen und alles nicht zu lösen wäre. Zahllose rechte „besorgte Bürger“ plappern es ihnen hinterher. Die Journalistin Mely Kiyak rechnet nach:
„Die deutsche Bürokratie funktionierte in den Wirren des 2. Weltkrieges tadellos. Sie funktionierte in den Deportationslagern. Sie funktionierte als Millionen Vertriebene kamen. Sie funktionierte als Millionen Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Sie funktionierte als 20 Millionen DDR Bürger in die Westbürokratie integriert werden musste. Und jetzt klappt das nicht wegen ein paar Hunderttausend Menschen, die nach Deutschland kommen? Wegen Computerproblemen und so? Wegen zu weniger Mitarbeiter in Registrierungsstellen?“
In der Tat: Es wurden im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte Institutionen und Personalstellen des vermeintlichen Wohlfahrtsstaats und der darin verankerten sozialen Sicherungssysteme massiv abgebaut oder privatisiert und die nun behäbig in Bewegung gesetzten Veränderungen und Neuordnungen in den Institutionen reichen bei weitem nicht aus. Die Grenzen des Föderalismus werden dabei sichtbar: Während der Bund Milliarden an Überschuss erzielt, sind die Kommunen größtenteils hoffnungslos verschuldet. Und so stehen tatsächlich viele Gemeinden, Bildungsinstitutionen und Sozialeinrichtungen vor den eilig hingeklatschten neuen Verordnungen und fühlen sich mit der Zahl der neu ankommenden Asylsuchenden schlichtweg alleingelassen und überfordert. Ihnen ist schleierhaft, wie sie ihre Arbeit überhaupt noch leisten können, wenn umkämpfte Standards immer weiter abgesenkt werden und deutlich wird, dass ihre Arbeit seit Jahren immer mehr einer durchökonomisierten Dienstleistung für die Interessen des neoliberalen Staates gewichen ist.
Dieser wendet sich nun denjenigen zu, welche die dringend notwendigen Aufgaben im Sinne einer menschlichen Verpflichtung ohne Entgelt erledigen wollen: den Ehrenamtlichen. Denn beim Ehrenamt handelt es sich nach dem Willen einiger Politiker_innen um weit mehr als um eine vorübergehende Hilfeleistung. Es handelt sich vielmehr um den Versuch der zunehmenden Neoliberalisierung der Flüchtlingspolitik, die Abwälzung eines staatlichen Verantwortungsbereichs ins Private. Ohne große Umwege sollen die behördlichen Stellen aus ihrer Verantwortung entlassen werden, angemessen für die Unterbringung und Versorgung von Hilfesuchenden zu sorgen. Es wird suggeriert, dass der Staat ganz „plötzlich“ mit einem unerwarteten Problem – den Geflüchteten – konfrontiert sei, dabei ist die missliche Lage Folge einer (auch globalen) Politik, die nicht willens ist, ausreichend Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Ein kalkulierter Ausnahmezustand also. Zeitgleich läuft (politisch und in sich formierenden gesellschaftlichen Allianzen) nun auch wieder in Deutschland die EU-weit erprobte berechnende Nummer ab: Willkommen war gestern. Draußenbleiben ist angesagt.
Deutschland brennt
Die politischen Anstrengungen der vergangenen Wochen zielen darauf ab, nun zuletzt auch den syrischen Geflüchteten den Flüchtlingsstatus zu verweigern und das Recht auf Familiennachzug zu beschränken. Weitere Gegenreaktionen: die Aussetzung des Schengen-Abkommens, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, Neujustierung der Residenzpflicht und der Sachleistungen und so weiter. Mit den staatlichen Maßnahmen einher gehen zunehmende gesellschaftliche Konflikte, leider ein typisches Merkmal für unsichere Zeiten. Und es blüht jene Art von Populismus auf, der auf Abgrenzung setzt und Feindbilder schürt – und den wir heute deutschland- und europaweit mit Pegida oder AfD, Front National, FPÖ und zahllosen anderen auf dem Vormarsch sehen.
Ein Blick in die Nachrichtenspalten dieser Tage verdeutlicht: Deutschland brennt. Im Jahr 2015 wurden bis Mitte November 1.610 überwiegend rechtsradikal motivierte Delikte gezählt, die im Zusammenhang mit der Unterbringung von Asylbewerbern stehen. Das geht aus einer Antwort auf einer kleinen Anfrage der Grünen im Bundestag hervor. Es geht heiß her in den Debatten rund um die Begrenzung der Flüchtlingszahlen, der Einteilung in der monetären Hilfe und der Konstruktion verschiedener „Flüchtlingsgruppen“ nach Nützlichkeit und Hilfsbedürftigkeit. Letzteres ist eine moralische Bankrotterklärung, welche Teile der Geflüchteten denunziert und gegeneinander ausspielt. Wer so argumentiert, setzt allein darauf, die vermeintliche Krise bürokratisch zu verwalten und die Kontrolle über wirtschaftlich genehme Migrationsabläufe wieder herzustellen.
Die altbekannte Frage: Was tun? Klar ist, dass praktische Solidarität alternativlos ist. Helferstrukturen müssen vernetzt und politisiert werden. Ermutigend ist ohne Frage die von so vielen Engagierten gezeigte Bereitschaft, sich schützend vor die oder an die Seite der geflüchteten Menschen zu stellen. Dies passiert bei Hilfsaktionen, etwa von Sea Watch oder Watch the Med, an den mediterranen Außengrenzen oder bei den zahllosen Fluchthilfekonvois und Kampagnen bei der Unterstützung auf dem Landweg bis in die Zielländer. Und nicht zuletzt auch bei den konkreten Hilfen in Unterkünften, Sprachkursen und Alltagssituationen in der Bundesrepublik. Solidaritätsstrukturen dürfen dabei nicht innerhalb einer Einzelfallhilfe verharren, sondern müssen zu gemeinsamen Aktionsformen finden. Es gilt, politisch Haltung zu beziehen, sich solidarisch für menschenwürdige Lebensbedingungen für alle einzusetzen und dabei auch Ambivalenzen der kleinen und großen Kämpfe auszuhalten. Auch Kämpfe um soziale Fragen, welche Geflüchtete gegen andere prekarisierte Personengruppen ausspielen (etwa in den Mindestlohndebatten oder Fragen nach sozialem Wohnungsbau) sind dabei grundlegend einzubeziehen. Die endlich stärker wahrgenommenen eigenen Stimmen der Geflüchteten, die Sichtbarkeit ihrer Kämpfe, die Solidaritätsaktionen, Leerstandsbesetzungen und neuen Koordinierungsformen deutschland- und europaweit, auch mit verschiedenen linken Gruppierungen, können dafür Mut machen. Sie zeigen, wie wichtig es ist, gemeinsam als internationalistische und antiimperialistische Bewegung einen Weg zu finden, die herrschenden Verhältnisse zu verändern und dabei die Freiheit von Menschen, nicht von Profiten, in den Vordergrund zu stellen. Die Geflüchteten sind nicht nur Opfer; sie sind auch politisch Handelnde, die eine Reaktion von unten auf die repressive und vernichtende Strategie der Globalisierung sichtbar machen. Sie halten unseren zersplitterten Strukturen auch einen Spiegel vor: einen Spiegel, der zeigt, wie unsicher die Verhältnisse in der Welt sind, und wie eng Reichtum mit Verlust und Zerstörung einhergeht. Denn solange das Anhäufen von Wohlstand auf der unerbittlichen Ausbeutung anderer beruht und die Sicherung eigener Privilegien mit massiver Ausgrenzung und Abschottung einhergeht, werden sich die globalen Spaltungsverhältnisse weiter zuspitzen.
Verwendete Literatur
Thomas Gebauer (2015) „Zerstörung der Lebensgrundlagen als Fluchtursachen“. Vortrag, Herrenberg. Redescript hier. Mely Kiyak (2015): Krasse Krise. Kolumne. Online hier.