Zombie-Migrationspolitik und der Kampf um Rechte
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- Buchuntertitel
- Geschichten und Bilder von Leuten, die gerne geblieben wären
Militiadis Oulios Untersuchung „Blackbox Abschiebung“ nimmt die deutsche und europäische Abschiebepolitik unter die Lupe. Dabei lässt er auch die zu Wort kommen, die „gerne geblieben wären“.
Als Zombie-Neoliberalismus bezeichnete Jamie Peck einmal das Weiterleben einer neoliberalen Herrschaftslogik trotz (Legitimations-)Krise (Peck 2009). Ein ähnliches Bild zeichnet Miltiadis Oulios von der Abschiebepolitik: In einer Welt der erwünschten Mobilität erscheint es absurd, Menschen das Recht auf Bewegungsfreiheit zu nehmen; Rechtfertigungen wie die territoriale Souveränität des Nationalstaats wirken angesichts transnationaler Verflechtungen antiquiert. „Blackbox Abschiebung“ entstand als Fortführung der 2010 von Ralf Jesse und dem Institute for Studies in Visual Culture e.V. (ISVC) realisierten gleichnamigen Ausstellung.
Militiadis Oulios, Sozialwissenschaftler, Journalist und ehemaliges Mitglied der Gruppe Kanak Attak, erörtert das Thema Abschiebung anhand einer Fülle von Fakten und Fallbeispielen. Dabei zieht er einen weiten Bogen ausgehend von der Geschichte der Abschiebung, ihrer Logistik, Infrastruktur und ihren rechtlichen Rahmenbedingungen bis hin zur Frage des Widerstands gegen Abschiebungen. Das besondere an Oulios Buch ist aber, dass der Autor die Abschiebepolitik aus einer Perspektive der globalen Auseinandersetzung um Bewegungsfreiheit und Bürgerrechte analysiert und dabei Menschen, „die gerne geblieben wären“ (Untertitel) selbst zu Wort kommen lässt.
Die im Buch dokumentierten Interviews (Ausschnitte der Interviews sind online) verdeutlichen die Gnadenlosigkeit der Abschiebepolitik; sie dokumentieren aber auch, wie Menschen um das Recht auf einen Ort zum Leben kämpfen. „Nicht [...] als Opfer widriger Umstände, […] sondern […] als echte Menschen − mit Schwächen, Stärken und Strategien“ (S. 12) . So erzählt Oulios nicht die Geschichte einer Unterwerfung sondern vor allem die Geschichte des Widerstandes gegen die Abschiebepolitik. Denn neben dem Leid steht die „prekäre Normalität“ (S.77), wie Oulios es nennt, hier wie da, steht das sich Einrichten und zurecht Kommen, das Ausweichen und „das Haken schlagen“ (ebd.).
Jenseits der „Perspektive des Leids“
Humanitär argumentierende Forderungen nach einer menschlicheren Abschiebepolitik sind, so Oulios, nicht nur zahnlos, sondern dienen letzten Endes der Modernisierung einer im Grunde unveränderten Politik (S. 64). Vor allem aber entpolitisiert sie den Konflikt um Bewegungsfreiheit.
„Der autonome Slogan ‚Abschiebung ist Folter, Abschiebung ist Mord‘ ist daher verfehlt. Nicht weil er etwas Falsches ausdrückt, sondern weil er zu wenig zur Sprache bringt. Und vor allem weil er den Diskurs des Rassismus wiederholt, ohne einen Begriff von Bürgerrechten, die über das Bestehende hinausweisen, zur Sprache zu bringen“ (S. 77).
Der Fokus auf das Leid droht zu verstellen, wie sich Migrant_innen das Recht auf Mobilität aneignen und damit eine Realität schaffen, die die Abschiebepraxis zu regulieren versucht, woran sie aber letztlich scheitert. „Betroffenheit [reiche vor allem] nicht aus, um einen Politikwechsel herbeizuführen“, da diese die „Dynamik der Migration“, das heißt die Auseinandersetzung um Zugehörigkeit verschleiert. „Nur ein Bürger kann nicht mehr abgeschoben werden und muss nicht begründen, weshalb er an einem Ort bleiben will. Der Begriff der Menschlichkeit erlaubt diesen Zugang nicht, kann ihm sogar im Wege stehen“ (S. 64). So berücksichtige das Ausländergesetz, auf dessen Grundlage Abschiebungen erfolgen, humanitäre Aspekte: So erlaubt es, Abschiebung im Fall einer „erheblichen Bedrohung für Leib und Leben“ auszusetzen (S. 74). Real zeigt sich aber, dass dies nur dann stattfindet, wenn mit Unterstützungskampagnen öffentliche Aufmerksamkeit und Druck erzeugt wird. Die Anerkennung einzelner Härtefälle rechtfertigt außerdem Abschiebungen in allen anderen Fällen.
Im Anschluss an Georgio Agambens Theorie des Homo Sacer analysiert Oulios die Rechtlosigkeit der Nicht-Zugehörigen, als Vorbedingung der Bürgerrechte. Die Existenz von „Menschenrechten“ erlaube demnach erst das Vorenthalten von Bürgerrechten; mit der Abspaltung des einen vom anderen erfolgt eine „Trennung zwischen Humanitärem und Politischem“ (Agamben 2002, S. 142). „Im Begriff der Menschenrechte ist neben dem positiven Bezug auf den Menschen als Rechtsträger auch dieses negative Erbe – die Idee des Menschen als rechtloser bloßer Körper – enthalten“ (S. 57). Wenn Migrant_innen allerdings für sich Menschenrechte einfordern, und erfolgreich einklagen, dann erweitern sie damit faktisch den Geltungsbereich von Bürger_innenrechten. Genau darin zeigt sich die politische Bedeutung der Auseinandersetzung um Mobilität und ihre Verbindung zu einer Auseinandersetzung um Bürger_innenrechte.
Abschiebung in der „Integrationsrepublik Deutschland“
Auch die Abschiebung von in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen aus Einwandererfamilien wird aus humanitärer Sicht selten problematisiert. Kriminelle Jugendliche abzuschieben erscheint legitim, obgleich diese Praxis das rechtsstaatliche Verbot der Doppelbestrafung verletzt. Wer ohne deutsche Staatsbürgerschaft zu einer Strafe von mehr als zwei beziehungsweise drei Jahren ohne Bewährung verurteilt wird, muss mit der Ausweisung rechnen. Wie Oulios Fallbeispiele zeigen, genügt es dafür im ungünstigsten Fall, zweimal beim Ladendiebstahl erwischt zu werden oder die falschen Freunde zu haben. Dass für die meisten hier aufgewachsenen Jugendlichen Deutschland ihre Heimat und ihr „Herkunftsland“ fremd ist, wird in Kauf genommen.
Seit der Jahrtausendwende sieht sich Deutschland ganz offiziell als Einwanderungsland. Die Thematisierung der Einwanderung wurde verschoben, nicht mehr die Migration an sich ist suspekt, sondern es wird zwischen guten, „integrationswilligen“ und schlechten „Integrationsverweigerern“ unterschieden. Der Integrationsdiskurs gibt sich formal antidiskriminierend, während er faktisch demokratische Rechte einschränkt, denn diese gelten unter Vorbehalt (vgl. Bojadzijev 2008, S. 237-245). Oulios fasst zusammen:
„Abschiebungen sind das schmutzige Geheimnis der Integrationsrepublik: Gerade weil sie ihre Integrationsbereitschaft zur Schau stellen möchte, benötigt diese Republik Abschiebungen als eines der letzten verbleibenden Instrumente, mit dem Migranten noch eindeutig als Fremde, als ‚Andere‘ markiert werden können“ (S. 406).
Abschiebung und Widerstand
Öfter als bekannt scheitern Abschiebungen. Migrant_innen leisten Widerstand, indem sie ihre Pässe vernichten und ihre Herkunft, Reiseroute und Identität für sich behalten. 80 Prozent der Asylanträge erfolgen ohne Vorlage eines Passes, wodurch die Abschiebung mittelfristig nicht durchführbar ist. Als „Ökonomie der Lüge“ bezeichnet Militiadis Oulios diese Praxen. Aufgrund der individualisierten Migrationspolitik sind viele Widerstandsformen gegen Abschiebung zunächst individuell.
Noch in den 1960er und 1970er Jahren richteten sich Abschiebungen meistens gegen Gruppen von Migrant_innen, die aufgrund ihrer politischen Aktivitäten ins Visier des Staates gerieten: iranische und arabische Student_innen, später „‚aufsässige' migrantische Arbeiter_innen“, die für bessere Arbeitsbedingungen streikten (S. 211).
Mit dem Ende der Anwerbephase Anfang 1973 entwickelten sich Familiennachzug und Asylverfahren zu den Haupteinreisemöglichkeiten in die BRD. Das Bleiberecht ist damit an individuelle Fallentscheidungen geknüpft. Und obgleich Geflüchtete in ihren Kämpfen immer wieder ein kollektives Bleiberecht fordern, werden kollektive Kämpfe seitens der staatlichen Behörden immer wieder auf Einzelfallprüfungen verengt.
Diese Logik unterläuft nicht nur kollektive Organisierungen, sondern verwischt auch die politische Dimension antirassistischer Kämpfe. Denn
„je stärker das Argument ins Zentrum gestellt werden musste, wie viel Leid eine Abschiebung für die jeweils Betroffenen verursachen würde, um die Behörden zu überzeugen, aus moralischen Gründen doch noch von ihr abzulassen, desto mehr geriet dabei die Frage eines kollektiven Rechts auf Migration aus dem Blick“ (S. 323f).
Abschiebung – ein Auslaufmodell?
Oulios entlarvt mit seiner Analyse, wozu die Abschiebepolitik tatsächlich dient: Sie baut eine Drohkulisse auf, vor deren Hintergrund Migrant_innen entrechtet werden. Die Drohung der Abschiebung ermöglicht, Druck aufzubauen und „Integrationsleistungen“ einzufordern. Das Besondere an Oulios Perspektive ist, dass er dabei die unterschiedlichen von Abschiebung Betroffenen nicht entlang der Kategorisierungen des Ausländerrechts auseinanderdividiert. Indem er die innere Grenze Abschiebung zum Ausgangspunkt seiner Analyse macht, gelingt ihm eine übergreifende Perspektive antirassistischer Kämpfe.
Oulios bietet zahlreiche Argumente für ein Ende der Abschiebepolitik. „Wie lange wollen wir denn noch Menschen im Mittelmeer jagen oder Familien aus Deutschland abschieben, die schon längst hier heimisch geworden sind?“ (S. 429), fragt er am Ende seines Buches. Nicht nur aus der Perspektive der Betroffenen erscheint sie unmenschlich. Angesichts des Unvermögens, Einwanderung zu kontrollieren und der Realität einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft drängt sich der Eindruck auf, der Staat handele absurd und anachronistisch. Letztlich werde die Abschiebepolitik sich selbst überleben, argumentiert der Autor in seinem Fazit, denn:
„Die Mobilität der Migranten, durch welche die Staaten sich gezwungen sehen, eine Politik und eine Infrastruktur zu ihrer Abschiebung zu entwickeln, [...] trägt dazu bei, dass sich die Institutionen auf diesem Gebiet einerseits globalisieren, andererseits aber auch an ihre Grenzen stoßen. Denn mit der fortschreitenden Globalisierung dürfte es immer schwieriger werden, den Wunsch nach einem Recht auf Freizügigkeit abzuwehren“ (S. 408).
Das mag stimmen; gleichwohl kann vermutet werden, dass neben dieser Ausweitungen der Bewegungsfreiheit, auf die Oulios zu Recht verweist, auch in Zukunft immer neue (ebenfalls) umkämpfte Einhegungen stattfinden werden.
Wie Oulios selbst darstellt, zeigen die politischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, dass gerade in Zeiten flexibilisierter Zugehörigkeitspolitiken repressive Ausschlüsse fortbestehen und sich immer wieder anderen Notwendigkeiten anpassen konnten. Absurdität und Irrationalität sind notwendig Teil dieser Politiken, die, wie Oulios selbst herausarbeitet, grundsätzlich widersprüchlich sind. Im Anschluss an Jamie Peck wird deshalb möglicherweise auch diese Zombie-Politik noch länger von Bedeutung bleiben: „Tot, aber herrschend“ (Peck 2009, S. 644).
Auf die Notwendigkeit ihres Untergang zu verweisen und die Auseinandersetzung um Abschiebung und die Kämpfe der Migration zu re-politisieren, bleibt angesichts dessen umso wichtiger.
Zusätzlich verwendete Literatur
Agamben, Georgio (2002): Homo Sacer. Die souverände Macht und das nackte Leben. Suhrkamp, Frankfurt/Main. Bojadzijev, Manuela (2008): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Westfälisches Dampfboot, Münster. Peck, Jamie (2009): Zombie-Neoliberalismus und der beidhändige Staat. In: Das Argument Jg. 51, H. 4. S. 644-650.
Blackbox Abschiebung. Geschichten und Bilder von Leuten, die gerne geblieben wären.
Suhrkamp, Berlin.
ISBN: 978-3-518-12644-8.
482 Seiten. 20,00 Euro.