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Zahnlose Erinnyen

Buchautor_innen
Jonathan Littell
Buchtitel
Die Wohlgesinnten

Der amerikanische Autor Jonathan Littell hat ein Riesenwerk in französischer Sprache auf den Markt geworfen, das die einen als Nachschlagewerk zur Geschichte der Shoah im Rahmen des Krieges ansehen, die anderen als Roman der Kriegszeit, in der endlich alles Geschehene als unvergessliche Gegenwart vor uns aufstehen soll.

Roman und historisches Quellenwerk - beide erheben den Anspruch, uns mehr Kenntnisse, ja sogar Erkenntnisse von Neuem zu liefern - Nur auf verschiedene Weise. Vom historischen Quellenwerk erwarten wir Überprüfbarkeit der mitgeteilten Tatsachen, Nachvollziehbarkeit der vermuteten Beweggründe der handelnden Personen, im günstigsten Fall Durchsichtigkeit hin auf Strukturen, die das Geschehen ermöglichten.

Und vom Roman? Er kann, wie Marx und Engels am Beispiel Balzacs gezeigt haben und Lenin an dem Tolstojs, uns eine Vorstellung verschaffen vom wirklichen Ablauf der Geschichte, die über das zielende Bewusstsein des Autors hinausgeht. Wenn wir Balzacs “Goriot” vor uns sehen, entnehmen wir seiner Biographie nicht nur Details über die Entstehung von plötzlichem Reichtum in der Napoleon-Zeit, sondern wir gewinnen ein Bild von dem, was Goriot getan hat in anderen Zeiten und was er tut und tun würde in der nach-napoleonischen Ära. Er macht sich als Gestalt ganz am Ende frei vom Buch. Diese Gestalt auf zwei Beinen setzt einen Markstein für eine ganze Epoche: So wurde man damals reich und- so wenig wusste man mit seinem Reichtum umzugehen über den eigenen Tod hinaus. Die Epochenerkenntnis über den Roman erlaubt also, über das erweckte Mitgefühl des Lesers nicht nur einzelne Fakten wahrzunehmen, sondern ihr Zusammengehen, ihre Verknüpfung in einem Individuum, das von seiner jeweiligen Zeit voll geprägt ist und das doch über diese- über den eigenen Tod in ihr -hinausbegehrt.

Littell hat in seinem Roman “Die Wohlgesinnten” beides liefern wollen: das Geschichtshandbuch über den zweiten Weltkrieg (mit vielen unbekannten Details vor allem für den Leser außerhalb Deutschlands) und zugleich die zur Empathie einladende Gestalt desjenigen, der – wie ein Goriot – von dieser Zeit geprägt ist und sie – angeblich – überwinden will.

Diese Zusammenfügung ist ihm, um es vorwegzunehmen, misslungen. Das wäre im Einzelnen nachzuprüfen. Zunächst zum Titel. Französisch lautet er “Les bienveillantes”. Das ist dort die aus dem Griechischen übernommene Übersetzung des Euphemismus ”Eumeniden”. So wurden die Erinnyen genannt, jene Rachegeister, die aus dem Blut der erschlagenen Verwandten, vor allem der Mutter, aufsteigen, um dem Mörder keine Ruhe zu lassen. Euphemismen- wohlwollende Hüllwörter sind demjenigen am nötigsten, der Angst hat, durch Nennung des wahren Namens die Wut der Bedrohung auf sich zu ziehen.

Im “Marginalienband “ bekennt Littell im Gespräch mit Pierre Nora, dass er 1998 in der Orestie des Aischylos die “grundlegende Struktur” gefunden habe, die ihm erlaubte, das riesige Material der Geschichte gleichsam zu bündeln wie Reisig, zusammenzufassen, zu organisieren, in die Hand zu bekommen.

Bei Aischylos empfängt seine Ehefrau Klytämnestra den sich überhebenden, auf dem roten Teppich einherschreitenden Sieger Agamemnon mit dem Opferbeil – mit jenem das der Vater benutzte, um die Tochter Iphigenie auf dem Altar der Göttin Artemis darzubringen, damit sie die Windstille aufhebe. Er hätte ohne das Opfer nie Troja erreichen und besiegen können. Wie Hegel und Bachofen schon erkannten, streiten in diesem Mythos das uralte Mutterecht und das neuere Vaterrecht gegeneinander. Fordert das Vaterrecht umfassende Ordnung durch machtsetzendes Recht, setzt das Mutterrecht auf die unverbrüchliche Heiligkeit der Familienbindung, entgegen allen weiterreichenden Rechtfertigungen und Ausreden der Männer.

Apoll, selbst Vertreter des Vaterrechts, befiehlt dem Sohn der Klytämnestra, den Vater an der Mutter zu rächen. Was dieser tut. Aus dem Blut der Mutter aber steigen die Rachegeister auf und verfolgen den Schuldig-Unschuldigen bis nach Athen. Erst die neue Bürgergesellschaft der Stadt, der Polis, findet die Kraft, eine Ordnung zu schaffen über Vater und Mutter hinaus. Sie befreit den Gejagten mit Hilfe der Göttin Athena im Gericht. Orest wird freigesprochen und damit den zuschauenden Athenern durch seine Dichtung von Aischylos gehuldigt, der insgeheim wusste, dass die Verkettung von Mord und Totschlag keineswegs in Athen aufhörte. Deshalb bei ihm die Umwandlung der Erinnyen in “Wohlgesinnte”, sie ziehen in eine Höhle unter dem Ort der Rechtsprechung – den Areopag – zur steten Erinnerung und Warnung vor Rückfälligkeit.

Manifest findet sich in Littells Roman der Muttermord selbst. Von Aue, die Hauptfigur, früh ins Internat gesteckt, verdächtigt die Mutter, die einen neuen Mann geheiratet hat, am Verschwinden des Vaters, ja vielleicht an seinem Tod schuld zu sein. Ohne dass die Tötung selbst geschildert wird, muss Aue als der Täter angesehen werden. Die verfolgenden Erinnyen werden durch zwei deutsche Polizisten vertreten, die penetrant an die Detektive im Comic “Tim und Struppi“ erinnern (In Frankreich unter dem Titel “Tintin” überaus bekannt). Die Beziehung des Orest zu seiner Schwester Elektra lässt sich in der von Aues zu seiner Zwillingsschwester wiederfinden, der er in inzestuöser Liebe verfallen ist. Wobei diese, im Gegensatz zur klassischen Elektra, seine Mordtat weder unterstützt noch billigt.

All das füllt – hoch gerechnet – aber nur hundert Seiten. Wie verknüpft Littell den Mythos von Orest mit dem Gesamtroman, das heißt mit dem deutschen Schicksal insgesamt? Das lässt sich nur vermuten: Littell, Jahrgang 1967, stößt in seinen Studien immer wieder auf ein Deutschland, das – angeblich – über seine Schuld nicht wegkommt. Das ewig ans Vergangene gekettet, gepeinigt wird und fruchtlos wiederkäut.

Sartre hatte noch im Krieg, unter deutscher Zensur, die Verhüllung unter der Orestie benutzt, um in die “FLIEGEN” seine Landsleute zu ermuntern, sich jetzt nicht in Gewissenbissen zu zerfleischen und zu lähmen, sondern, über alle Phantasien vom ewigen Sein und von Gott und vom Schicksal hinweg ihr Geschick in die eigene Hand zu nehmen und Widerstand gegen die Besatzung zu leisten. In dieser Funktion konnte Littell den Mythos nicht brauchen.

Thomas Mann hatte in seinem “Doktor Faustus” halbwegs die mythische Gestalt mit dem Geschick des ganzen deutschen Volkes verknüpft. Der Wille, zum Ende vorzudringen, den Durchbruch zu schaffen, der im Tonsetzer das Höchste hervorbringt, schafft zugleich im ganzen Volk das schlimmste.

Man findet in Littells Riesenwerk nichts Vergleichbares. Welche Mutter sollen die Deutschen ermordet haben? Die eigene edlere Vergangenheit? Das wäre an den Haaren herbeigezogen. Die Gleichung zwischen dem individuellen Weg des von Aue und dem des ganzen deutschen Volkes geht an keinem Punkt auf.

Theweleit, einer der feurigsten Verteidiger des Romans, hat es als Vorzug empfunden, dass von Aue überall dabei war. Das heißt, wo es in der Geschichte des Krieges etwas Schreckliches gab, war von Aue zur Stelle. Bei den ersten Massen-Erschießungen nach Überschreitung der polnisch-russischen Grenze, in Stalingrad, im besetzten Paris, um die Kollaboration mit ins Spiel zu bringen, bei Himmlers Rede in Posen, im von den Russen schon umzingelten Berlin – um nur einige Orte seines Wirkens zu nennen.

Das Verfahren erinnert etwas an bessere Geschichtsromane für die reifere Jugend: Barbarossa wird da beispielsweise der Einfühlung nicht dargeboten, wohl aber ein junger Knappe, der als Erlebnis-Prothese dem Leser angeschnallt wird. Schwäche des Verfahrens: eine solche Erlebnishilfe kann von vornherein nicht zu der plastischen Präsenz eines “Vater Goriot” kommen. Er bleibt immer Anhängsel. Tatsächlich wirkt in der Figur des von Aue das Zusammenhanglose, das Inkohärente verdrießlich.

Um nur ein Beispiel aus den Schlusskapiteln zu nehmen: von Aue zieht sich in ein verlassenes Gutshaus zurück, sehr nahe vor der russischen Front. Er gibt sich sexuellen Exerzitien hin und der Erinnerung an die Zwillingsschwester. Kein Gedanke an ein immer mögliches plötzliches Auftauchen der Russen. Bis ihn sein Freund Thomas aufstöbert. Jetzt auf einmal ist die leidige Situation des Kriegsendes wieder da. Bis dahin nicht unmöglich - als krampfhaftes Augenschließen vor dem Ende, mit plötzlichem Erwachen. Auf der mühsamen Flucht treffen die beiden in einer Gutskapelle auf einen Alten, der an der Orgel Bach spielt. Den Bach, den können uns die Untermenschen nicht nehmen! Der sich bisher immer als mehr oder weniger zynischer Beobachter gebende Aue empört sich:

”Seine langen aristokratischen Finger flogen über die Klaviatur, zogen und schoben die Register. Als er sie am Ende der Fuge mit einem trockenen Stoß schloss, zog ich meine Pistole und schoss ihm eine Kugel in den Kopf. Er fiel nach vorn über die Tasten und öffnete einige Pfeifen zu einem traurigen und misstönenden Aufheulen. Ich steckte meine Pistole ein, trat näher und zog ihn am Kragen nach hinten; der Ton erstarb, es war nur noch zu hören, wie das Blut aus seinem Kopf auf die Steinplatten tropfte. 'Bist Du vollkommen verrückt geworden?' zischte Thomas. 'Was fällt Dir ein?' Ich blickte ihn kalt an, ich war bleich, aber meine Stimme zitterte nicht, als ich abgehackt hervorstieß. 'Wegen dieser korrupten Junker verliert Deutschland den Krieg. Der Nationalsozialismus geht zugrunde, und sie spielen Bach. Das darf doch nicht sein!'” (S. 1299)

Kurz danach ist er wieder der Egotist im Sinne Stendhals, der Selbstgenießer, dem es nur um die Rettung seiner kostbaren Haut geht.

Auf der letzten Seite wird dann auch der treue Freund Thomas erschlagen, nur damit von Aue an den Ausweis eines französischen Fremdarbeiters gelangt und so fliehen kann. Denselben Ausweis hatte ihm sein Freund zu Lebzeiten praktisch zur Beschaffung angeboten.

Manche Rezensenten haben diese letzten Taten als Symptome ausbrechenden Wahnsinns gedeutet, zusammen mit dem finalen Biss in Hitlers Nase (Der Autor ist auf diesen Einfall so stolz, dass er den Übersetzern befiehlt, diesen ja zu übernehmen- ein bloßes Nasenkneifen reicht für den Führer nicht). Oder andere als Anzeichen der wachsenden Gewöhnung an das Morden. Das überzeugt nicht, denn von Aue bleibt bis zum Ende durchaus überlegt, aber unverändert der sprunghafte Zuschauer, seltener Mittäter, immer im Sekundenmüll begraben, obwohl er – was ganz gegen momentanen Irrsinn spricht – all diese Handlungen kommentarlos in seinen Erinnerungen in der französischen Provinz schildert.

Theweleit würde vielleicht argumentieren, dieses Auseinanderfallen der Person entspreche genau dem schütteren Ich-Zustand, den er in “Männerphantasien” einmal mit vielen überzeugenden Beispielen geschildert hatte. Nur, dass bei Theweleit der nur durch den immer neu gefährdeten Außenpanzer zusammengehaltene Mann sich immer neu durch Explosivstöße gegen das gefährliche, als weiblich empfundene Umfeld behaupten kann – und, wo solche Entlastung nicht möglich ist, selbst explosiv auf ihn eindringenden Zerstörungen erliegt. Eben dies Auseinanderfallen müsste aber als solches thematisiert werden. Vielleich so, wie es Musil im Kapitel “Mossbrugger tanzt” getan hat (Im “Mann ohne Eigenschaften").

Bei Littell ist von einem Auseinanderfahren der Glieder, einer Umstülpung seiner selbst keine Rede. Es bleibt beim körperlichen Erbrechen zusammen mit Verstopfung. Ein Morden im Vorbeigehen, kommentarlos berichtet in den Erinnerungen, kann nicht als explosives Eindringen in den fremden Leib verstanden werden. Übrig bleibt bloßes Nebeneinander, eben dem, das dem Dasein als Erzählprothese geschuldet ist. Zerlegung des Kontinuums in Pakete reicht nicht aus, um Zerfall, Explosion vor Augen zu führen. Von daher entsteht eben nicht der Eindruck einer geschlossenen Figur, von der wir uns auch das noch vorstellen könnten, was sie außerhalb des Buches tut, das sie hervorbrachte.

Es ist keineswegs wahr, dass Littell als erster Judenmord und Krieg aus der Sicht des Täters dargestellt hätte. Öfter wurde von Rezensenten an “La mort est mon métier” (Töten ist mein Geschäft) erinnert, ein Buch, in dem Merle ziemlich bald nach dem Krieg das Tagebuch von Höss verarbeitet hatte. In ihrer Mickrigkeit und Gehemmtheit wird da durchaus eine in sich geschlossene, wenn auch nichtige Gestalt vorgeführt, die nur einmal empört erschauert, als der Reichsführer sich per Zyankali-Kapsel der Verantwortung entzog und ihn mit den Richtern allein lässt. Oder Tourniers “Erlkönig”, in dem das mythologische Wabern der Nazis weitergesponnen wurde. Oder Célines bittere Bücher vom Kriegsende “D’ un Château l’ altre” und “Nord”, in welchem vor allem das Delirium der Auflösung des Nazi-Systems vernichtend beschrieben wurde. In der deutschen Produktion gewiss seltener. Immerhin sei an Kipphardts “Bruder Eichmann” erinnert. Von Heinrich und seinem “Geduldigen Fleisch“ später “Eisernes Kreuz" genannt und verfilmt - und von Konsaliks Russland-Romanfabrik gar nicht zu reden.

Es lässt sich nicht behaupten, dass Littell das Wesentliche einer alltäglichen Nazi-und Mörderexistenz uns näher gebracht hätte. In seiner Belehrung der Übersetzer rühmt er sich der Vorbilder. Flaubert und Stendhal. Vor allem Flauberts “Impassibilité” hat es ihm angetan, sein Stil der mitleidlosen Betrachtung des Schrecklichsten. Nur dass Flaubert zu seinen Exerzitien der Kälte keine außergewöhnlichen Schrecklichkeiten benötigt (außer allenfalls in dem Karthago-Roman Salammbo). Um die Liebesleere und Unerbittlichkeit des Lebens fruchtbar nahezubringen, genügt ihm zum Beispiel der eisige Blick der gläsernen Augen eines ausgestopften Papageis auf eine sterbende Dienstmagd, die sich von diesem Blick nicht losreißen kann („Un coeur simple“).

Kommen wir zur anderen Seite von Littells Corpus: der Sammlung von Geschichtsdokumenten. Hier hat der Autor wirklich Bewundernswertes geleistet, wenn er natürlich nirgends über seine Quellen hinauskommt.

So hat er offenbar Götz Alys ”Vordenker der Vernichtung” gründlich studiert, nebst allen Aufsätzen, die sich in den von ihm herausgegebenen Jahrbüchern zum bürokratischen Vollzug der Vernichtung finden. Das ausgezeichnete Werk von Herbert über “Best”-Schöpfer des Reichssicherheitshauptamts und Gouverneur Dänemarks wurde gründlich ausgewertet. Zum andern die Memoiren, zum Beispiel Speers, ebenso wie Himmlers Reden. Dann für die Internatszeit von Aues werden fast wörtlich Beispiele aus Theweleit, beziehungsweise aus Ernst von Salomons ”Kadetten” recycelt. Schließlich wohl auch Prozessberichte, zum Beispiel den Oberländers. Dieser, nach dem Krieg im Adenauerkabinett Minister, hatte die Unverfrorenheit, bis zu seinem Tod im hohen Alter Rehabilitation einzufordern. Dabei war er, wie Littell richtig beschreibt, als Kommandeur des ukrainischen Bataillons NACHTIGALL nachweislich an der Organisation eines der ersten Pogrome gegen Juden beteiligt. Ich bin sicher, dass sich ein ganzer Katalog aufstellen ließe – nur wozu? Sicher ließen sich manche Einzelfehler finden (So, mitten im Praaseln von militärischen Rängen in den Anreden immer die falsche an Himmler “Mein Reichsführer”. Schon im ersten Band Klemperer wird aus der frühesten Zeit der Naziherrschaft berichtet, dass nur Hitler allein die Anrede mit “mein” zukam - “mein Führer”. Gerade Himmler legte Wert auf knappe und barsche Anreden, ohne Herr oder mein hart und ehrlich - "Reichsführer”).

Nur an einer Stelle leistet sich Littell die peinliche Umdeutung einer Vorlage. Offenbar lag ihm Grossmans Riesenepos zum Krieg vor. Dort findet sich ein SS-Offizier, der einen gefangenen Kommunisten zum Verhör befiehlt. Während Grossmans Kommunist sich seinen Teil denkt und schweigt, muss der Littells genau das zum Besten geben, was dieser selbst im Begleittext als eigenes Hirngewächs ausgibt, allerdings nicht merkt, dass es das von mindestens drei Generationen Politologen ist.

Littells Kommunist muss nach dem Willen des Autors dem SS-Mann folgendes erklären:

”Selbst wenn die Analyse der Kategorien, die eine Rolle spielen, unterschiedlich ist, so haben unsere Weltanschauungen doch etwas Grundsätzliches gemeinsam: Sie sind beide im Wesentlichen deterministisch, zwar rassischer Determinismus bei euch, wirtschaftlicher Determinismus bei uns, aber eben doch Determinismus. Beide glauben wir, dass der Mensch sein Schicksal nicht frei wählt, sondern dass es ihm von der Natur o d e r der Geschichte auferlegt wird. Und beide schließen wir daraus, dass es objektive Feinde gibt, dass bestimmte Kategorien von Menschen legitimerweise beseitigt werden können und müssen, nicht aufgrund dessen, was sie tun oder sogar denken, sondern aufgrund dessen, was sie sind. Für euch sind es die Juden, die Zigeuner, die Polen und, wenn ich mich nicht täusche, sogar die Geisteskranken; für uns die Kulaken, die Bourgeoisie, die Parteiabweichler. Im Grunde ist es ein und dasselbe, beide lehnen wir den Homo oeconomicus der Kapitalisten ab - den egoistischen, individualistischen Menschen, der in seiner Illusion von Freiheit gefangen ist und propagieren statt dessen den Homo faber: Not a self-made man but a made man, eher den Menschen, den es zu machen gilt, denn der kommunistische Mensch muss noch geschaffen und erzogen werden, genau wie euer vollkommener Nationalsozialist.” (S. 552/553)

Determiniert durch Natur o d e r Geschichte! Wo hat dieser Kommunist das her? Jedenfalls nicht von Grossman, wo der Kommunist, wie gesagt, eisern schweigt. Oder: Parteiabweichler sind für diesen Kommunisten eine Menschensorte, von vornherein zur Ausmerzung bestimmt. Das weitergedacht hätte es einen Trotzki, einen Bucharin gar nie geben dürfen. Soweit ist selbst Stalin in seinen tiefsten Verirrungen nicht gegangen. Er hätte sonst die Geschichte im “Kleinen Lehrgang” noch ärger umschreiben müssen, als er es ohnedies tat. Hier predigt ein Kommunist im Auftrag Littells die unverwässerte Totalitarismustheorie in einer Einfältigkeit, wie Hannah Arendt sie nie über die Lippen gebracht hätte.

Das führt uns zum Schluss auf die Absicht des Autors. Hier -und im Gesamttenor des Buchs geht er davon aus, dass die “Totalitarismen” beide gleich grässlich waren, aber Gott sei Dank vorbei. Und wir sollten uns keine Gedanken mehr darüber machen. Aber nicht wie bei Sartre, um endlich Befreiung zu erkämpfen. Sondern um in mümmelnder Kontemplation zu versinken, in bienenemsiger Historiographie, aber eher, um die leere Zeit zu füllen als für neuen Aufbruch.

Allerdings: Littells letzter Satz lautet: ”Die Wohlgesinnten hatten meine Spur wieder aufgenommen.“ (S. 1359). Also sollte uns trotzdem noch Schuldgefühl und schlechtes Gewissen plagen?

Was soll gelten: die mehrere Säcke Erde, die Littell auf die Vergangenheit wirft, oder der Aufruf zur Gewissensforschung?

In der Gesamtanlage des Buchs schlägt der eine Appell den anderen tot. Der Leser rumpelt als übervoller Lastwagen davon, beladen mit allem Schutt der Geschichte. Und sucht nur noch einen Ort, wo er ihn abladen kann.

Zusätzlich verwendete Literatur:

Jonathan Littell (2008): Die Wohlgesinnten. Marginalienband. Berlin Verlag, Berlin.

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Die Rezension erschien zuerst im Juni 2008 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, ast, 12/2010)

Jonathan Littell 2008:
Die Wohlgesinnten.
Berlin Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-8333-0628-0.
1383 Seiten. 18,00 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Zahnlose Erinnyen. Erschienen in: . URL: https://kritisch-lesen.de/s/J74XV. Abgerufen am: 26. 12. 2024 16:28.

Zur Rezension
Rezensiert von
Fritz Güde
Veröffentlicht am
01. Juni 2008
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Zum Buch
Jonathan Littell 2008:
Die Wohlgesinnten.
Berlin Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-8333-0628-0.
1383 Seiten. 18,00 Euro.