Wichtiger Lückenfüller
- Buchautor_innen
- Rashid Khalidi
- Buchtitel
- Der Hundertjährige Krieg um Palästina
- Buchuntertitel
- Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand
Dieser wichtige und überfällige Beitrag zum deutschen Palästina-Diskurs verbindet historische Analyse und persönliche Perspektive.
2020 erschien Rashid Khalidis Buch „The Hundred Years' War on Palestine“ im englischen Original. Genau einhundert Jahre war es damals her, dass der Völkerbund – der Vorläufer der UNO, der fast ausschließlich aus Kolonialmächten bestand – die britische Kolonialherrschaft über Palästina bestätigte. Drei Jahre zuvor hatte London der zionistischen Bewegung in der Balfour-Deklaration eine „jüdische Heimstätte“ in dem kleinen Land zwischen Jordan und Mittelmeer versprochen. Der Völkerbund übernahm diese Zusage und schrieb sie in Großbritanniens Mandat über Palästina fest. Damit wurde dem palästinensischen Volk erstmals durch eine imperialistische Großmacht und abgesegnet durch die selbsternannte Weltgemeinschaft offiziell ein Recht auf die eigene Heimat abgesprochen.
Eine Kriegserklärung nach der anderen
Für Khalidi war dies die erste von insgesamt sechs „Kriegserklärungen“, wie er sie nennt. Die zweite kam 1947 mit dem UN-Teilungsplan, welcher die Nakba – die ethnische Säuberung, der bis 1949 rund 800.000 PalästinenserInnen zum Opfer fielen – auslöste und die in den Augen vieler BeobachterInnen wie auch der meisten PalästinenserInnen bis heute anhält. Die dritte Kriegserklärung folgte 1967, als die USA zunächst Israel grünes Licht für den Überfall auf seine arabischen Nachbarländer und die Eroberung ganz Palästinas gab. Anschließend setzten sie im UN-Sicherheitsrat die Resolution 242 durch, die es Israel bis heute ermöglicht, die Besetzung der Westbank und des Gazastreifens sowie der syrischen Golanhöhen und der libanesischen Shebaa-Farmen mit seinen Sicherheitsinteressen zu begründen. Auch die vierte Kriegserklärung stammt von Seiten der USA, die 1982 Israels Invasion im Libanon im Vorhinein absegneten und den israelischen Kurs nach der Zerstörung Beiruts und den Massakern von Sabra und Shatila weiterhin unterstützten. Als fünfte Kriegserklärung wertet Khalidi die Vorbereitungen und schließlich die Umsetzung der Osloer Verträge im Zeitraum vom Beginn der Ersten Intifada 1985 bis Unterzeichnung von Oslo II im Jahre 1995 durch die USA und Israel. Die Besonderheit lag jedoch, wie Khalidi betont, darin, dass „sich die palästinensischen Führer dieses Mal auf eine Komplizenschaft ein(ließen)“ (S. 248). Denn mit diesen Verträgen sagte sich die PLO-Führung vom bewaffneten Widerstand los und erkannte Israel als Staat an, ohne dafür verbindliche Zugeständnisse zu erhalten. Vielmehr intensivierten sich seither Besatzung und Landraub in den 67er-Gebieten.
Die bislang letzte Kriegserklärung fällt in den Zeitraum 2000 mit dem Beginn der Zweiten Intifada bis 2014, dem dritten Gaza-Krieg, genauer: in die Jahre 2006/07. Damals gewann die Hamas die Wahlen in den 1967 besetzten Gebieten. Die USA und Israel sabotierten daraufhin die Koalitionsverhandlungen zwischen Fatah und Hamas, belegten Letztere mit Sanktionen und forcierten einen Putsch gegen sie im Gazastreifen – der jedoch scheitern sollte. Nach dem „Gegenputsch“ (S. 265) der Hamas verhängten Israel und die USA eine vollständige Blockade über Gaza. Anschließend überzog Tel Aviv dieses „Freiluftgefängnis“ (S. 266) in den Jahren 2008/09, 2012 und 2014 immer wieder mit Angriffen. Khalidi sieht diese wiederholten israelischen Eingriffe als Offensiven in einem einzigen „permanente(n) Krieg gegen den Gazastreifen“. (S. 261)
Offen bleibt, ob Khalidi auch die aktuelle Gewalt und die anhaltende Unterstützung der USA für Israel als eine neue, siebte Kriegserklärung wertet. Neu an der aktuellen Lage ist in jedem Fall, dass die PalästinenserInnen derzeit direkte militärische Unterstützung verschiedener internationaler Akteure erhalten, und dass es mit der Westbank, dem Südlibanon/Nordisrael und dem Roten Meer neben dem Gazastreifen weitere Fronten gibt. Weniger neu ist die genozidale Gewalt, mit der Israel seit mittlerweile einem Jahr in Gaza wütet. Auch wenn in diesem Zeitraum bereits mehr Menschen in Palästina getötet und auch mehr aus ihren Häusern vertrieben wurden als während irgendeiner anderen Phase dieses hundertjährigen Krieges, wie Khalidi in seinem Nachwort für die deutsche Ausgabe betont.
Klar ist: Der Autor sieht den aktuellen Genozid als „eine der grausamsten Phasen dieses langen Krieges“ (S. 309) und betont, dass man sowohl den Angriff vom 7. Oktober als auch den darauffolgenden israelischen Vernichtungskrieg „nur im Kontext des Jahrhundertkriegs um Palästina“ (S. 310) verstehen kann. Weder das eine noch das andere stehe „außerhalb der Geschichte“ (ebd.).
Neue Allianzen
Khalidi tut gar nicht erst so, als spreche er von einem neutralen Standpunkt aus. Ebenso wenig versucht er, „einen umfassenden Überblick über die palästinensische Geschichte“ (S. 23) zu geben. Er hat auch keine „Leidensgeschichte“ verfasst, sondern ein Buch, das die palästinensische „Widerstandsfähigkeit widerspiegelt“ (S. 24). Der 1948 in New York geborene Historiker, der aus einer zur traditionellen palästinensischen Elite gehörenden Familie stammt, selbst politisch aktiv ist und unter anderem während des Libanon-Kriegs 1982 in Beirut gelebt hat, bezieht neben wissenschaftlicher Literatur und Archivquellen immer wieder eigene Erlebnisse, mündliche Berichte sowie private Quellen heran.
Mit seiner Meinung hält er nicht hinterm Berg, gerade auch was die palästinensische und arabische Seite angeht: Seine politische und moralische Kritik trifft gleichermaßen palästinensische Organisationen (darunter Fatah, PLO, PFLP, Hamas und Islamischen Jihad) und Persönlichkeiten (vor allem Arafat, Abu Nidal und Abbas) wie arabische Regierungen (insbesondere Jordanien, Ägypten, Syrien, Irak und Saudi-Arabien).
Sowohl Hamas als auch Fatah wirft er vor, „ideologisch bankrott“ (S. 303) zu sein: Weder der bewaffnete Kampf noch die Hoffnung in die USA als „ehrlichem Makler“ hätten in den letzten Jahrzehnten Erfolge gebracht. Dennoch hält er eine Aussöhnung beider Parteien für notwendig. Allerdings betont Khalidi in seinem Nachwort vom März 2024 auch, dass die Hamas nicht vernichtet werden könne und das Konzept „vom bewaffneten Kampf wohl kaum verschwinden“ werde, „solange keine Perspektive für ein Ende der militärischen Besetzung, Kolonisierung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes auftaucht“ (S. 317). Der Palästinensischen Autonomiebehörde unter dem autokratischen Regime der Fatah-Führung attestiert er zugleich, „keinerlei Legitimation mehr“ zu haben und von der palästinensischen Bevölkerung „als Erfüllungsgehilfin der verhassten israelischen Besatzungsmacht verachtet“ (S. 318) zu werden.
Für ihn steht außer Frage, dass die Osloer Abkommen verworfen werden müssen. Seine Hoffnung setzt er dabei in studentischen Aktivismus und in die weltweite BDS-Bewegung. Statt in den USA müssten die PalästinenserInnen Unterstützung außerdem „in Europa, Russland, Indien, China, Brasilien und den blockfreien Staaten“ (S. 304) suchen. Entsprechend positiv sieht er in diesem Zusammenhang den Aufstieg Chinas und Indiens.
Publizistische Lücken
Es gibt durchaus gute Einführungen und Überblickswerke zum Palästinakonflikt, auch auf Deutsch. Allerdings ist es bezeichnend, dass zwar die meisten der so genannten Neuen israelischen HistorikerInnen, wie Simha Flapan, Baruch Kimmerling, Ilan Pappe, Shlomo Sand, Tom Segev, Idith Zertal und der mittlerweile rechtsgewendete Benny Morris ins Deutsche übersetzt wurden; Avi Shlaim fehlt bisher leider. Während man palästinensische AutorInnen kaum auf dem deutschsprachigen Büchermarkt antrifft. Wenn, dann handelt es sich meist nicht um HistorikerInnen oder GesellschaftswissenschaftlerInnen, sondern um LiteratInnen wie Ghassan Kanafani, Mahmud Darwisch und Adania Shibli oder LiteraturwissenschaftlerInnen wie Edward Said. Tatsächlich wurden die meisten deutschsprachigen Monografien zum Thema Palästina, die aus den Federn palästinensischer AutorInnen stammen, in den 1970er und 80er Jahren verlegt. Wichtige Ausnahmen bilden Khaled Hroubs „Hamas“, das 2010 übersetzt wurde, Aref Hajjajs „Ein Land ohne Hoffnung?“ aus dem Jahr 2017 und ganz frisch Raja Shehadehs „Was befürchtet Israel von Palästina?“
Diese Leerstelle kann nicht darauf zurückgeführt werden, dass es nicht genügend palästinensische HistorikerInnen gäbe, und auch nicht auf einen Mangel an Arabisch-ÜbersetzerInnen: Denn allein Khalidi hat neben dem hier vorgestellten Buch ein halbes Dutzend weitere Monografien auf Englisch veröffentlicht und mehrere Sammelbände herausgegeben.
Ilan Pappe stellt im Vorwort seiner 2006 erstmals veröffentlichten Untersuchung „Die ethnische Säuberung Palästinas“ klar, dass die meisten der von ihm geschilderten Fakten über die Nakba von 1947 bis 1949 zuvor bereits vielfach von palästinensischen AutorInnen zusammengetragen und bekannt gemacht worden waren. Sie wurden allerdings in Israel ignoriert beziehungsweise übertönt. Was Pappe damals mit Blick auf Israel beschrieb, gilt letztlich auch für Deutschland – bis heute. Daher entbehrt es nicht einer gewissen bitteren Ironie, wenn man bei Khalidi liest, die PalästinenserInnen hätten mit dem Wiedererstarken ihrer Nationalbewegung nach 1967 auch die von Edward Said so genannte „Erlaubnis zum Erzählen“ (S. 144) ihrer eigenen Geschichte errungen. Gerade in Deutschland gilt diese Erlaubnis heute weniger denn je.
Das Buch ist allein deshalb lesenswert, weil endlich wieder ein palästinensischer Autor und Wissenschaftler ohne Zensur, Distanzierungs- oder Rechtfertigungsdruck zu Wort kommen kann. Khalidis Buch eignet sich sowohl als Einstieg ins Thema, wartet aber auch mit Details, Hinweisen und Meinungen auf, die für LeserInnen mit Vorwissen interessant sind. Die persönlichen Anekdoten des Autors lockern die ansonsten sehr dichte Aneinanderreihung historischer Darstellungen, Ausführungen und Argumentationen auf.
Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand. Übersetzt von: Lucien Leitess.
Unionsverlag, Zürich.
ISBN: 978-3-293-00603-4.
384 Seiten. 26,80 Euro.