Zum Inhalt springen
Logo

„Was hab‘ ich denn davon?“

Buchautor_innen
Gertrud Oelerich, Andreas Schaarschuch (Hg.)
Buchtitel
Soziale Dienstleistungen aus Nutzersicht
Buchuntertitel
Zum Gebrauchswert Sozialer Arbeit
Dass die Nutzerperspektive ihren Weg von der Wissenschaft in die Praxis und wieder zurück gefunden hat, hat auch etwas mit der Veröffentlichung dieses Buches zu tun.

Was hat jemand davon, wenn er oder sie an einem bestimmten Angebot Sozialer Arbeit teilnimmt? Persönliche Wirkungsannahmen – wie die Frage nach dem Nutzen oder der Nutzlosigkeit einer Intervention für die Zielgruppe– leiten zwar jedes sozialarbeiterische Tun an, aber eine einigermaßen verlässliche Antwort können nur diejenigen geben, die als Nutzer oder Nutzerin unmittelbar von der Intervention betroffen sind. Das erkannten Gertrud Oelerich und Andreas Schaarschuch um die Jahrtausendwende herum und entwarfen als erste einen Forschungsansatz, der fortan die Nutzerperspektive ins Zentrum stellte: Die sozialpädagogische Nutzerforschung.

Die empirische Sozialarbeitswissenschaft hatte bis dahin nur zaghaft auf die von sozialpädagogischen Theorieentwürfen angestoßenen Paradigmenwechsel in der Praxis hin zur Lebenswelt-, Alltags- und Subjektorientierung einerseits und hin zur dienstleistungstheoretischen Konzeption Sozialer Arbeit andererseits reagiert: Es dominierten die Wirkungsforschung und die Adressatenforschung. Während Erstere die Perspektive der Institutionen einnimmt und an der Optimierung von Ziel-Mittel-Relationen ansetzt, zielt die Zweite auf die Professionalisierung der sozialpädagogischen Handlungspraxis durch die Analyse von Hilfeverläufen und Lebenssituationen der Klientinnen und Klienten ab. Mit dem Sammelband „Soziale Dienstleistungen aus Nutzersicht“ führten Oelerich und Schaarschuch im Jahr 2005 erstmals die bislang vereinzelten Bemühungen zusammen, mit der Nutzerforschung eine dritte Säule in der Wissenschaft zu etablieren, die den Gebrauchswert der Sozialen Arbeit für die Nutzerinnen und Nutzer als zentrale Beurteilungskategorie heranzieht und nutzenfördernde wie nutzenlimitierende Aneignungsbedingungen untersucht.

Dem einführenden Vorspann der Herausgeberin und des Herausgebers zu den theoretischen Grundlagen und Perspektiven der sozialpädagogischen Nutzerforschung folgen die drei Blöcke „Retrospektive Zugänge zur Perspektive der Nutzer“, „Nutzen und Nutzung sozialer Dienstleistungen“ und „Sozialstaat und sozialer Raum als Infrastruktur und Ressource der Nutzung“. Diese Blöcke sind jeweils unterlegt mit insgesamt neun Beiträgen, in denen entweder methodologische Überlegungen grundsätzlicher Art oder Ergebnisse und Erfahrungen aus der konkreten Forschungspraxis präsentiert werden.

Nutzen und Nutzung im Licht der Empirie

Betrachtet man diese Untersuchungen näher, zeigen sich einige interessante Ergebnisse. Wilfried Hellmann zum Beispiel befragte 13 ehemalige Bewohnerinnen eines Eltern-Kind-Hauses, wie sie die verschiedenen Angebote dieser Einrichtung genutzt hatten. Dabei stellte sich heraus: Die oft kontrovers diskutierte Frage, „ob ein Hilfsangebot, welches faktisch erzwungen wird bzw. als alternativlos auferlegt wird, überhaupt positiv wirksam werden kann, […] ist für den Gültigkeitsbereich der hier vorgestellten Studie eindeutig zu bejahen“ (S. 55). Weiterhin konstatiert Hellmann, „dass die deutlich überwiegende Anzahl der ehemaligen KlientInnen die dem Jugendamt obliegenden Grundfunktionen von Hilfe und Kontrolle als zwei zusammengehörige Seiten einer Medaille realisiert und im Grundsatz akzeptiert bzw. ausdrücklich begrüßt“ (S. 56).

Oelerich und Schaarschuch können in ihrer Interviewstudie mit Jugendlichen zeigen, dass deren Nutzung einer Intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung (ISE) vor dem Hintergrund individueller Präferenzen, bestehender Anknüpfungsmöglichkeiten, Vorerfahrungen und Ressourcen sehr unterschiedlich erfolgt (S. 92f.). Interessant an ihrer Studie ist auch, „dass allein die Möglichkeit, im Bedarfsfall bestimmte Elemente des Jugendhilfeangebots potenziell nutzen zu können, bereits aktuell einen Nutzen darstellt“ (S. 90, Herv. i. O.). Romana Dolic und Schaarschuch untersuchten gezielt die Nutzungsstrategien und Aneignungsweisen dieser Jugendlichen und arbeiteten „die Machtposition der Nutzer gegenüber den Professionellen“ heraus, die „in der Verweigerung einer aktiven Rolle im Ko-Produktionsprozess, auf die Professionelle wie Nutzer angewiesen sind, (besteht)“ (S. 103).

Die Auswertung von neun Interviews, die Katja Maar mit Wohnungslosen führte, lieferte unter anderem den Hinweis auf einen schmalen Grat, auf dem sich die Wohnungslosenhilfe im Hinblick auf den Nutzen ihrer Angebote bewegt: Eine „asymmetrische Beziehungsstruktur“ im Erbringungsverhältnis zu Lasten der Nutzerinnen und Nutzer konnte als nutzenlimitierend identifiziert werden, gleichzeitig wurde die „Übernahme eines aktiven Parts im Kontext der Dienstleistungserbringung seitens der Professionellen“ als nutzenfördernd dargelegt (S. 128). An ihrer Untersuchung wird auch deutlich, dass die Nutzerforschung gerade in solchen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit notwendig ist, wo – wie in der Wohnungslosenhilfe – der „dienstleistungstheoretische Idealtypus“, nämlich der „aktiv nachfragende und gut informierte Nutzer“, nicht vorausgesetzt werden kann und außerdem „ein hoher Grad an Nichtinanspruchnahme“ anzutreffen ist (S. 119).

Problemzentrierte Interviews und qualitative Inhaltsanalyse als Königsweg?

Die Nutzerforschung ist nicht mit einem bestimmten Erhebungs- und Auswertungsverfahren empirischer Sozialforschung verknüpft. Schaarschuch und Oelerich verweisen auf die Gegenstandsangemessenheit bei der Auswahl der Methoden. Zwar erfordere die vorrangige Zielsetzung der Nutzerforschung, subjektive Sicht- und Nutzungsweisen zu rekonstruieren, in der Regel „offene Methoden“ der qualitativen Sozialforschung, eher geschlossene Methoden der quantitativen Sozialforschung schließen sie aber keineswegs aus (S. 20).

Nach der Lektüre der empirischen Beiträge des Sammelbandes lässt sich jedoch eine klare Tendenz erkennen: Meistens wurden problemzentrierte Interviews mit Nutzerinnen und Nutzern geführt, die mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet wurden. Entsprechend seines biographischen Ansatzes setzt Hellmann zwar die Variante des narrativen Interviews ein, bei deren Auswertung greift er aber ebenfalls auf die qualitative Inhaltsanalyse zurück. Kerstin Rathgeb verfolgt als einzige einen multimethodischen Ansatz, indem sie – angelehnt an die Methode der Gemeindestudien – Ortsbegehungen, Einzel- und Gruppeninterviews miteinander kombiniert.

Um die Dominanz von Interviews in der Nutzerforschung nicht zu groß werden zu lassen, wäre die Nutzerforschung gut beraten, den Blick für das inzwischen reichhaltige Methodenrepertoire der empirischen Sozialforschung zu öffnen und nicht auf (Einzel-)Interviews zu verengen. Noch vielversprechender wäre es allerdings, nicht nur das Erhebungsverfahren in der Nutzerforschung um andere Methoden zu ergänzen, sondern vor allem auch das Auswertungsverfahren. Denn bislang hat die Nutzerforschung ihren eigenen Anspruch, rekonstruktive Forschung zu betreiben, noch nicht in Gänze eingelöst. Wenn beispielsweise in Interviews mit Nutzerinnen und Nutzern danach gefragt wird, worin für sie der Nutzen des Angebots besteht, wie es Oelerich und Schaarschuch tun (S. 82), gelangt auch nur der Nutzen in den Untersuchungsfokus, der – zum einen – den interviewten Personen tatsächlich bewusst ist und den sie – zum zweiten – auch verbalisieren können oder wollen. Mit dem bisherigen Einsatz von problemzentrierten Interviews und qualitativer Inhaltsanalyse lässt sich dieses kommunikative Wissen über Nutzen und Nutzung zwar relativ gut erschließen, aber nicht das vorreflexive Wissen. Rekonstruktive Zugänge wie die dokumentarische Methode oder die objektive Hermeneutik könnten hier gangbare Alternativen sein, weil sie zu eben jener zweiten Sinnebene vordringen können, die implizit unter dem explizit Geäußerten liegt. Damit könnte man auch die Kritik zumindest teilweise auffangen, dass bei einer allein auf Selbstdeutungen der Nutzerinnen und Nutzer gestützten Analyse gesellschaftliche (Macht-)Strukturen, in die diese subjektiven Deutungsmuster eingelassen sind, ausgeblendet werden. Unabhängig von der methodischen Herangehensweise gilt es weiterhin, insbesondere bei der Untersuchung von sozialarbeiterischen Intervention in Zwangskontexten auch deren Nichtnutzen und nutzenlimitierende Aspekte verstärkt in den Blick zu nehmen.

Die Mischung macht’s…

„Ein wissenschaftliches Wissen darüber, welche Aspekte und Dimensionen professionellen Handelns die Nutzerinnen und Nutzer im Hinblick auf die kompetente Bearbeitung der sich ihnen stellenden Lebensanforderungen als nützlich erachten und wie sie sich professionelles Handeln aneignen, ist derzeit so gut wie nicht verfügbar. (…) Soziale Arbeit als Profession steht und fällt mit der Erschließung dieses Wissens“

schreiben Schaarschuch und Oelerich (S. 21). Sicherlich ist im Vergleich zur Situation vor zehn Jahren sowohl der Fundus von Forschungsergebnissen aus der Nutzerforschung gewachsen, als auch die Einsicht in der Praxis, dass dieses Wissen für eine nutzerorientierte Gestaltung von sozialen Dienstleistungen fortlaufend benötigt wird. Allerdings ist auch zu konstatieren, dass beide Entwicklungsprozesse in Wissenschaft und Praxis weniger dynamisch und expansiv verlaufen sind, als die beiden Protagonisten der Nutzerforschung sich das wahrscheinlich gewünscht hätten.

Ungeachtet dessen kann ihr Sammelband, was die Sozialarbeitsforschung betrifft, als ein wichtiger Meilenstein angesehen werden. Sein Verdienst liegt vor allem darin, auf die in der Sozialarbeitsforschung bis dahin ausgesparte Nutzerperspektive, die Notwendigkeit ihrer Erforschung und ihren Ertrag für Forschung und Praxis aufmerksam zu machen und gleichzeitig Wege für deren wissenschaftliche Analyse mitzuliefern. Diese Mischung aus Theorie und Methodologie einerseits und Anschauungsmaterial aus der Forschungspraxis andererseits bietet für Forschende, die sich mit diesem Ansatz dem Feld nähern möchten, auch heute noch eine gute Einführung und Begleitung.

Gertrud Oelerich, Andreas Schaarschuch (Hg.) 2005:
Soziale Dienstleistungen aus Nutzersicht. Zum Gebrauchswert Sozialer Arbeit.
Ernst Reinhardt, München.
ISBN: 978-3497017508.
182 Seiten. 19,90 Euro.
Zitathinweis: Henning van den Brink: „Was hab‘ ich denn davon?“. Erschienen in: Radikale Soziale Arbeit?. 33/ 2014. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1236. Abgerufen am: 19. 03. 2024 12:15.

Zum Buch
Gertrud Oelerich, Andreas Schaarschuch (Hg.) 2005:
Soziale Dienstleistungen aus Nutzersicht. Zum Gebrauchswert Sozialer Arbeit.
Ernst Reinhardt, München.
ISBN: 978-3497017508.
182 Seiten. 19,90 Euro.