Vom Wohl und Wehe der Gewerkschaften im Nachkriegsdeutschland
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- Frank Deppe
- Buchtitel
- Gewerkschaften in der Großen Transformation
- Buchuntertitel
- Von den 1970er Jahren bis heute – Eine Einführung
Deppe umreißt den Doppelcharakter der deutschen Gewerkschaften vom Nachkriegsfordismus bis zur gegenwärtigen Krise des neoliberalen Kapitalismus.
Als Marx 1865 seinen später unter dem Titel „Lohn, Preis und Profit“ publizierten Essay in Form einer Rede vor der Internationalen Arbeiterassoziation – der ersten Internationalen – vortrug, lieferte er eine der bis heute besten Bestimmungen von Gewerkschaften in kapitalistischen Gesellschaftsformationen. Er schrieb:
„Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems“ (MEW 16, S. 152).
Marx skizzierte eine Ambivalenz gewerkschaftlicher Organisation, die darin besteht, einen Fokus des antikapitalistischen Widerstands bilden zu können und gleichzeitig permanent Gefahr zu laufen, das Überleben der kapitalistischen Produktionsweise mit zu sichern. Frank Deppes Darstellung der überwiegend deutschen Gewerkschaftsgeschichte dokumentiert diese Zwieschlächtigkeit für die Zeit der Großen Transformation. Der Begriff der Großen Transformation, den Deppe von Klaus Polanyi adaptiert, soll „nicht allein das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Lagers, sondern auch die tiefgreifenden Veränderungen in den Strukturen des kapitalistischen Produktionsprozesses im Verhältnis von Politik (Staat) und Ökonomie (Markt) sowie von Kapital und Arbeit (…) am Ende des 20. Jahrhunderts“ (S. 6) bezeichnen. Es geht kurzum in Frank Deppes Einführung um die – in erster Linie deutsche – Gewerkschaftsgeschichte der letzten knapp 45 Jahre unter den Vorzeichen des Neoliberalismus und seiner derzeitigen Krise.
Gewerkschaften sind dem Autor zufolge „Interessenverbände der Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter“. Sie haben den Zweck, „der durch den individuellen Arbeitsvertrag (…) gesetzten Vereinzelung und Konkurrenz unter den Lohnarbeitern durch die kollektive Interessenvertretung“ zu begegnen. Ihr Ziel besteht darin, „allgemeine und verbindliche Regelungen (für alle Beschäftigten) per Tarifvertrag (‚collective agreement‘) oder per Gesetz durchzusetzen“ (S. 9f.).
„Auf diese Weise soll der Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit, die auf der Verfügungs- und Dispositionsgewalt beruht, die aus dem Privateigentum an Produktionsmitteln sowie aus dem Privatarbeitsvertrag abgeleitet wird, durch die Gegenmacht der organisierten, kollektiven Interessen der Lohnarbeit begegnet werden. Gewerkschaften sind mithin – ob sie es wollen oder nicht – Klassenorganisationen“ (S. 10).
Das Ende der Klassengesellschaft?
Für die Große Transformation vom Fordismus zum Neoliberalismus oder, wie Deppe sagt, zum „globalen Finanzmarktkapitalismus“ (S. 15) ist „eine umfassende Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit“ (S. 25) charakteristisch. Das „Klassenprojekt ,Neoliberalismus‘“ (S. 94) hat weder das Kapitalverhältnis abgeschafft oder befriedet, noch hat es gar zu einem „Ende der Arbeitsgesellschaft“ (S. 14) geführt. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Der Klassengesellschaft ist durch die Formwandlung des Kapitalismus neuer Atem eingehaucht worden.
Dabei haben sich die Koordinaten der Klassengesellschaft im Zuge der Internationalisierung erstens des kapitalistischen Marktes und Wettbewerbs sowie zweitens des Kapitalverhältnisses verschoben. Während vor allem in den sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) neue klassische Industriearbeitsplätze entstanden sind, hat es in den ehemaligen Metropolen einen relativen Zuwachs an Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor gegeben. Die ArbeiterInnenklasse hat sich dementsprechend neu zusammengesetzt „mit einer neuen Unterschicht und einem wachsenden Prekariat auf der einen, einer schrumpfenden Oberschicht der (industriellen) Arbeiterklasse auf der anderen Seite“ (S. 19). Trotz des Überlebens der Klassengesellschaft und „der steigenden Zahl von Arbeitern in der Welt ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder bzw. der Organisationsgrad zurückgegangen“ (S. 20).
Korporatismus wohin das Auge reicht – die Nachkriegsgeschichte der deutschen Gewerkschaften
Die Geschichte der deutschen Gewerkschaften nach 1945 ist eine Geschichte der Zusammenarbeit mit den Kapitalisten, eine Geschichte des Korporatismus – so zumindest kann man Deppes Darstellung zusammenfassen. Auf den „alten Sozialkorporatismus der 60er und 70er Jahre“ (S. 87) und den Wettbewerbskorporatismus der 80er und 90er Jahre“ (S. 87) des letzten Jahrhunderts folgte im neuen Jahrtausend mit der „Großen Krise“ (S. 84) ab 2007 ein „Krisenkorporatismus“ (S. 87). Der Autor definiert also analog zu den regulationstheoretisch bestimmten Formationen des Kapitalismus die Strategien der Gewerkschaften, mit denen sie versuchen, erst im Fordismus, dann im neoliberalen „Finanzmarktkapitalismus“ und schließlich in dessen großer Krise zu agieren.
Auf die Krise des großen fordistischen Klassenkompromisses der Nachkriegsära in den Metropolen, der häufig als „Goldenes Zeitalter“ beschönigt und dadurch verharmlost wird, reagierten die Gewerkschaften nicht mit einer Ausweitung des Klassenkampfes, wie die KapitalistInnen es mit ihrer neoliberalen Offensive taten. So konnte die herrschende Klasse ihren Kreuzzug für noch größere Profite antreten. Sie straffte das Fabrikregime, machte das klassische fordistische Lohnverhältnis durch die Etablierung des Niedriglohnsektors von der Regel zur Ausnahme, hob die Kontrollen für das Bankenkapital auf, zerschlug den Sozialstaat, implementierte eine radikal-individualistische Ideologie und forcierte schließlich den internationalen Wettbewerb und Klassenkampf. Während also insbesondere seit dem Epochenbruch 1989/90 die originären Interessen der LohnarbeiterInnen und der Gewerkschaften massiv verletzt wurden, hielten deren SpitzenvertreterInnen in der Bundesrepublik es für geboten, sich den Attacken der Gegenseite zu fügen und durch „Co-Management“ (S. 70) „eine subalterne Rolle für die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen auf dem Weltmarkt“ (S. 66) einzunehmen. Diese „Politik der Anpassung“ (S. 66) bezeichnet Deppe als „Wettbewerbskorporatismus“ (S. 62).
Tarifpolitisch zeichnet sich dieser dadurch aus, dass Gewerkschaften nicht mehr prioritär auf die Teilhabe der arbeitenden Bevölkerung am wirtschaftlichen Wachstum hinwirken, sondern auf „die Beschäftigungssicherung unter dem Vorzeichen von Wachstumsschwäche und Rationalisierung“ (S. 62) sowie auf die flexible Abstimmung der Lohnforderungen der Gewerkschaften auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und Betriebe. Dieser Kurs geht einher mit einer „Politik der Konzentration auf das ‚Kerngeschäft‘“ (S. 75), das heißt auf die Gewerkschaftsarbeit im einzelnen Betrieb, und mit einem „Abschied vom Traditionalismus der sozialistischen Kapitalismuskritik und der Klassenkampforientierung“ (S. 68) der Gewerkschaften. Dieser Prozess der Entpolitisierung gewerkschaftlicher Organisation und gewerkschaftlichen Handelns wird von seinen BefürworterInnen als „Entideologisierung“ (S. 66) begrüßt. „Die führenden Köpfe dieser Politik“ waren pikanterweise
„in der Regel in den 70er Jahren mit kommunistischen Organisationen verbunden oder sie gehörten zum linken Flügel der SPD und kooperierten in den Gewerkschaften mit Kommunisten. (…) Sie hatten sich aber inzwischen zu vorsichtigen Pragmatikern gewendet, die jetzt die Existenz des Kapitalismus als unveränderte Naturkonstante und dessen soziale Ausgestaltung als Ziel (und Weg) anerkannten“ (S. 75f.).
Der lange Marsch durch die Institutionen beschränkte sich also keineswegs auf die Parteipolitik. Als sich seit der Mitte des vergangenen Jahrzehnts abzeichnete, dass der deutsche Kapitalismus, der von den Exportindustrien dominiert wird, durch „die Große Krise“ ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen werden würde, fielen die Krisenstrategien des personifizierten Kapitals und den Gewerkschaftseliten zwar nicht zusammen. Aber als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Schulterschluss mit den deutschen Banken und Konzernen den Standortwettbewerb in der EU verschärfte, mit mehreren Konjunkturpaketen für angeschlagene Unternehmen und mit der „Politik im Zeichen der ‚Schuldenbremse‘“ (S. 91) und „der Austerität“ (S. 92) die Krise auf die Schultern der arbeitenden Bevölkerung abwälzte, boten sich die Gewerkschaftsführungen einmal mehr als zuverlässige Vasallen an. Sie optierten für einen „neuen Typus des ‚Krisenkorporatismus‘, der durch das gemeinsame Handeln von Betriebsleitungen, Belegschaften sowie Betriebsräten und Gewerkschaften (vor Ort) zur Rettung des Betriebs und eines Großteils der Arbeitsplätze charakterisiert“ (S. 87) werden kann. Diese „betrieblichen Strategien der Krisenbewältigung“ (S. 86) basieren vor allem auf dem Ausbau von Leiharbeit, auf betriebsinterner Flexibilisierung mittels Arbeitszeitpolitik, auf interner Reorganisation – also auf Instrumenten, „die auch schon in den Jahren vor der Krise mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und Kosten zu senken, angewandt worden“ (S. 86) sind. Ergänzt wird diese wie auch jede andere Form des Korporatismus durch die Domestizierung der „radikalen Kräfte in den eigenen Reihen“ und den Verzicht „auf systemoppositionellen Widerstand sowie auf soziale und politische Militanz“ (S. 94). Damit begeben sich die Gewerkschaften einerseits „in die Rolle des ‚Juniorpartners‘ deutscher Hegemonialpolitik in der EU“ (S. 94). Andererseits treten sie den „gewerkschaftlichen Internationalismus“ (S. 132) mit Füßen und liefern einen Großteil der arbeitenden Klasse in Deutschland dem Klassenkampf von oben aus. Dass die deutschen Gewerkschaften vergleichbare Prozesse auf der europäischen Ebene mitgetragen haben, überrascht angesichts der deutschen Historie und ihrer Bilanz kaum.
Für welche Alternative und wie weiter mit den Gewerkschaften?
Eine alternative, progressive Gewerkschaftspolitik in der Bundesrepublik und in Europa setzt hingegen einen grundlegenden Kurswechsel voraus, denn „die pragmatische Orientierung auf das Alltagsgeschäft“ verfestigt „letztlich die Abhängigkeit und Unterordnung im bestehenden Herrschaftssystem“ (S. 107). Warum Deppe die mit Bezug auf Lessenich geforderte offene Debatte über „‚Systemalternativen‘“, eine „,entschlossene, offen antikapitalistische Strategie‘“ (S. 98) nennt, die Rolle der Gewerkschaften darin dann allerdings auf die Frage zuspitzt, entweder die Finanzmärkte zu regulieren und die Politik des Schuldenabbaus fortzusetzen oder „ein neues Wachstums- und Akkumulationsregime jenseits des Finanzmarktkapitalismus“ (S. 98) zu installieren, bleibt sein Geheimnis. Für die ArbeiterInnenklasse und die Natur ist die Implementierung einer neuen kapitalistischen Formation keineswegs eine „glückliche Fundsache“ (Lipietz 1998, S. 104). Nicht nur der Finanzmarktkapitalismus, sondern die kapitalistischen Produktionsverhältnisse müssen sowohl von den Gewerkschaften als auch von anderen sozialen Kräften zur Disposition gestellt werden. Rosa Luxemburgs Losung von 1915 ist heute vielleicht aktueller denn je: „Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei“ (RL GW 4, S. 62). Die Erkenntnis, dass der neue französische Präsident Hollande, anders als Deppe während der Niederschrift seines Essays vielleicht noch hoffte (S. 136), wahrlich kein Garant für eine weniger deutsche, das heißt kapitalhörige Entwicklung der EU ist, dürfte mittlerweile auch dem größten Optimisten klar sein.
Schließlich kann der Autor – das ist das größte Defizit des Buches – den Widerspruch zwischen seiner Theoretisierung der Gewerkschaften als „(objektiver) Klassenorganisationen“ (S. 105) und seiner kleinen Geschichte der gewerkschaftlichen Praxis in der Bundesrepublik und in Europa seit dem Ende des Fordismus nicht überzeugend erklären. Wenn sie Klassenorganisationen sind, müssten sie dann nicht auch gemäß ihrer Klasseninteressen handeln? Wenn die Praxis vor allem der deutschen Gewerkschaften seit mehreren Jahrzehnten durch eine Serie variierender Korporatismen geprägt ist, sind sie dann wirklich Klassenorganisationen, „nur“ weil sie ihren Statuten zufolge ArbeiterInnen organisiert? Oder mit Marx gefragt: Sind die deutschen Gewerkschaften in ihrer gegenwärtigen Verfassung „Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals“ oder verfehlen sie ihren Zweck, weil „sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen“ (MEW 16, S. 152)?
Um eines jedenfalls, so muss man nach der Lektüre konstatieren, werden die Gewerkschaften auch heute nicht umhin kommen, wenn sie Teil einer wirklichen Bewegung sein wollen, die den jetzigen Zustand aufhebt: Sie müssen „[s]tatt des konservativen Mottos: ‚Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!‘‘“ (wieder) „auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: ‚Nieder mit dem Lohnsystem!‘“ (MEW 16, S. 152, Herv. i.O.).
Zusätzlich verwendete Literatur
Lipietz, Alain (1998): Nach dem Ende des ‚Goldenen Zeitalters‘. Regulation und Transformation kapitalistischer Gesellschaften. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von Hans-Peter Krebs. Argument Verlag, Berlin/Hamburg. RL GW 4 – Luxemburg, Rosa (1916/1990): Die Krise der Sozialdemokratie. In: Rosa-Luxemburg Gesammelte Werke. Band 4. 5. Auflage. Dietz Verlag, Berlin. Online hier. MEW 16 – Marx, Karl (1898/1973): Lohn, Preis und Profit. In: Marx-Engels-Werke. Band 16. Dietz Verlag, Berlin. S. 103-152.
Gewerkschaften in der Großen Transformation. Von den 1970er Jahren bis heute – Eine Einführung.
PapyRossa, Köln.
ISBN: 978-3-89438-497-5.
148 Seiten. 11,90 Euro.