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Ungehorsame Mikropolitiken

Buchautor_innen
Jens Kastner, Elisabeth Bettina Spoerr (Hg.)
Buchtitel
nicht alles tun
Buchuntertitel
cannot do everything

Der Ausstellungsband widmet sich der Strategie des Zivilen Ungehorsams im Verlauf der Protestkultur des 19. und 20. Jahrhunderts und präsentiert künstlerische Positionen an der Schnittstelle von Kunst und Aktivismus.

Am 30. August 2011 versammeln sich rund 250 Menschen, um die Ausfahrt der Großbaustelle Stuttgart 21 zu blockieren. Dazu aufgerufen hatte die „Jugendoffensive gegen Stuttgart 21“ via Facebook. Mit Aufklebern in den Händen, die Ortsausfahrtschilder imitieren, stehen die Demonstrierenden in der Kälte. Sie tauschen sich über ihren Unmut gegenüber den Bebauungsplänen der Bahn aus und lauschen skandierten Parolen aus dem Lautsprecher. Einige lassen sich zu einer Sitzblockade nieder und werden nach wenigen Stunden von eifrigen PolizistInnen weggetragen. Einige JournalistInnen sind gekommen, um Fotos von genau diesem Moment zu machen. Es klickt und blitzt, „Wir sind friedlich, was seid ihr?“ wird gerufen. Nach wenigen Minuten ist alles vorbei und auch die letzten treten schlendernd den Heimweg an. Nun ist alles wieder ruhig, die Ausfahrt wieder frei und der Nachmittag neigt sich dem Ende entgegen.

Die Pflicht zum Ungehorsam

Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt wegen unbezahlter Steuern schrieb 1894 Henry David Thoreau den Text „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Darin entwickelte er den Gedanken des Zivilen Ungehorsams, der gewaltfreien Verweigerung gegenüber ungerechten Gesetzen und des aktiven Bruchs mit ihnen. Beide Aspekte, die passive Verweigerung und der aktive Gesetzesbruch, fanden in den sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts in unterschiedlicher Gewichtung Ausdruck. Während Ghandi im anti-kolonialen Widerstand massenhafte Verweigerungshaltungen initiierte, betonte die Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 1950er und -60er Jahren die aktive Komponente des Zivilen Ungehorsams durch die Besetzung von rassistisch getrennten Bereichen des öffentlichen Lebens. 1968 in Europa waren gewaltfreie Widerstandsformen oftmals weiter verbreitet und wirkungsvoller als militante Aktionen. Dreißig Jahre später entwickelte sich aus dem Sozialen Ungehorsam der Straße das Konzept des „Elektronischen Zivilen Ungehorsams“ in der Sphäre des Cyberspace. In Anlehnung an die Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 1950er Jahren treffen sich InternetnutzerInnen zu Sit-Ins auf Servern, um diese lahm zu legen. Mittlerweile existieren zahlreiche Spielformen nebeneinander, eine schriftliche Aufarbeitung fehlte jedoch. Genau hier setzt das bereits 2008 erschienene Buch „nicht alles tun. cannot do everything“ von Jens Kastner und Bettina Spörr an, denn seit dem Mauerfall widmete sich kein Buch im deutschsprachigen Raum mehr der Thematik des Zivilen Ungehorsams. Höchste Zeit also Abhilfe zu schaffen – zusätzlich dokumentiert das Buch die in Wien und Berlin gezeigte Ausstellung „nicht alles tun. Ziviler und Sozialer Ungehorsam an den Schnittstellen von Kunst, radikaler Politik und Technologie“ und bietet den theoretischen und geschichtlichen Rahmen der. gezeigten Arbeiten, die sich im kleinen Überschneidungsbereich der Felder Kunst und politischer Aktivismus verorten; ihre Kurzbeschreibungen finden sich nach insgesamt sieben Textbeiträgen und liefern anschauliche Beispiele für die in den Texten verhandelten Thesen.

In filmischen Beiträgen, wie etwa die Dokumentation von widerständigen Aktionen (Videogruppe Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Mujeres Creando, Oliver Ressler/Dario Azzellini) und tiefer gehenden Reflexionen über Video-Überwachung (Surveillance Camera Players NYC, fran meana) bis zu Formen des Zivilen Ungehorsams, die die Verweigerungshaltung im Entstehungsprozess selbst verorten werden die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Handlungsraums deutlich, den künstlerische Ausdrucksformen bieten. Dazu findet sich etwa die Fotoserie von Allan Sekula, der durch den Verzicht auf den konventionellen fotojournalistischen Blick auf die Protestierenden als „teilnehmender Beobachter“ fungiert: „kein Blitz, kein Zoomteleobjektiv, keine Gasmaske, kein Autofokus, kein Presseausweis und kein Druck, auf-Teufel-komm-raus das eine definitive Bild dramatischer Gewalt einzufangen“ (S. 184). Das Schweizer Künstlerduo Christoph Wachter/Mathias Jud intervenierte in das WorldWideWeb, um aufzuzeigen, das es sich um einen politisch und militärisch umkämpften und geprägten Raum handelt. „Picidae“ ist ein Server und eine Software, mit der man Textdateien in Bilddateien umwandeln kann, und so die Internetzensur in einigen Ländern umgehen kann, wie beispielsweise in China. Ein gutes Beispiel für das Diktum Thoreaus 1894:

„wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz“ (S. 9).

Die Computerrevolution in den frühen 1980er Jahren eröffnete den Denkraum für die Utopie eines diskriminierungsfreien Raums, welche nach kurzer Zeit jedoch enttäuscht wurde. Wie so oft in der Mediengeschichte – man denke etwa an die euphorisch gefeierte Erfindung des Radios – stellte sich das Versprechen der Freiheit des Mediums als Geißel, als Mittel zur Disziplinierung heraus. Dem zum Trotz bildeten sich seit der Geburt des Internets Initiativen, die politisch-aktivistisch im Netz agierten. So riefen im Frühjahr 2001 AktivistInnen des Netzwerks „kein mensch ist illegal“ und „Libertad!“ dazu auf, die Seite lufthansa.com durch massenhafte Besuche lahm zu legen. Diese Aktion markierte das Netz als Kampfzone der Öffentlichkeit, des Sozialen und als potentielles Medium der Solidarität.

Einen historischen Blick auf die Wandlungen und Entwicklungen des Zivilen Ungehorsams bietet Lou Marin in „Ein Jahrhundert des Revolutionären Zivilen Ungehorsams“. Marins geschichtlicher Überblick macht deutlich, dass Thoreaus Imperativ von jeder Bewegung unterschiedlich aufgefasst wurde und sich auch auf Staatsseite Veränderungen einstellten. Man lernte voneinander. Der Zivile Ungehorsam wandelte sich zum „Bürgerlichen Ungehorsam“, zur gelegentlichen demokratischen Pflicht eineR jeden StaatsbürgerIn, die Konfliktgegenstände dramatisiert, um die rechtsstaatlichen Organe zur Veränderung und zum Hinschauen zu bewegen. Die illegale Aktion wurde legal, das Auflösen von Sitzblockaden hielt Einzug in die Polizeiausbildung. Im Rückblick wird offenbar, dass Widerständigkeit nur innerhalb der jeweils gegebenen Umstände zu denken ist. Längst werden gewaltlose Revolutions-Kampagnen zum Ziele eines Regierungswechsels gezielt unterstützt und finanziert, wie Marin am Beispiel der serbischen Oppositionsgruppe „Otpor“ aufzeigt, die Hilfen aus den USA erhielt. Protestbewegungen der Straße finden in seiner Beschreibung ausreichend Eingang, neuere Protestmedien werden dagegen nur angeschnitten.

Cyberspace

Vor diesem Hintergrund entwickelt Inke Arns, die künstlerische Leiterin des Hartware MedienKunstVereins Dortmund, in ihrem Beitrag „Die Windungen der Schlange – Minoritäre Taktiken im Zeitalter der Transparenz“ zwei mögliche Arten des elektronischen Widerstands innerhalb der Panoptik des Internetzeitalters. Sie fragt nach den aktivistischen Möglichkeiten zu einer Zeit der „Dataveillance“, der Überwachung durch Datenspeicherung und -verfügbarkeit. Gegen wen oder was kann man sich im Netz überhaupt ungehorsam verhalten? Schon Walter Benjamin sah in der damaligen Glasarchitektur „das Zeitalter der Transparenz“ aufscheinen, welches sich nicht erst seit der Enthüllung der weltweit agierenden Spionageorganisation NSA als zutiefst ambivalent darstellt. Die Selbstbefragung in Arns Text liefert dazu folgende, handlungspraktische Möglichkeiten: Zum einen könne man selbst unzugängliche, geschützte Bereiche – bewusst geschaffene Nicht-Sichtbarkeits-Zonen, wie das Fehlen von Satellitenbildern von Militärgebieten – sichtbar werden lassen. Durch das Intervenieren und Sichtbarmachen sollen so die zugrunde liegenden verborgenen Strukturen zutage treten. Dabei argumentiert sie mit der Medientheoretikerin Margaret Morse:

„Die Vorzüge einer Kunst, die elektronische Versammlungen und Netzwerke in den Blick nimmt, liegen nicht in der Repräsentation des Sichtbaren, sondern im Sichtbarmachen dessen, was sich ansonsten aufgrund seiner mikroskopischen und kosmologischen Dimension der Wahrnehmung und der Vorstellung entzieht - von inneren Körperlichkeiten, dem Atom, oder der Black Box, bis zum Äußersten unserer Galaxie und unseres Universums.“ (S. 122).

Ein Beispiel hierfür findet sich in der Arbeit „Bit Plane“ des Bureau of Inverse Technology, das ein mit einer Spionagekamera ausgerüstetes Modellflugzeug über den Silicon Valley fliegen ließ, in dem absolutes Film- und Fotoverbot herrscht. Die entstehenden Bilder zeigen die Firmensitze von Intel, Google, AMD, Adobe, Symantec, Yahoo, eBay, Nvidia, Hewlett-Packard, Oracle, Cisco Systems, Facebook Inc, amazon.com, Dell und Apple. Zum anderen schreibt sie über die sogenannte „Überidentifizierung“, die versucht, Personen durch maximale Sichtbarkeit, durch größtmögliche dargebotene Transparenz, verschwinden zu lassen. Dies kann zum Beispiel dadurch vonstatten gehen, dass man sein Leben nahtlos dokumentiert und alle Informationen für jeden verfügbar ins Netz stellt. So geschehen bei 0100101110101101.org, dessen ProtagonistInnen sich einem Selbstüberwachungssystem unterziehen, das unentwegt Informationen über Klogänge, Aufenthaltsorte und -zeiten öffentlich zugänglich macht.

Kritik

Die Kritik an Thoreaus Konzept liefern Jens Kastner und Gerald Raunig im letzten Kapitel. Zurecht monieren sie die Fixierung auf das juridische Dispositiv des Staates (sprich: das Gesetz), leider in abgehobener Wort- und Zitatwahl. Mit dem von Michel Foucault eingeführten Begriff der Gouvernmentalität (weiter greifendes Macht- und Herrschaftsgefüge, welches das Verhalten von Individuen und ihre Selbstführungen hervorbringt und regiert) zeigen die beiden Autoren, dass die Machtmonopolvorstellung des Staates zu kurz greift und schlagen im Gegensatz zum „Ungehorsam“ den Begriff „Gegen-Verhalten“ vor. Auch den unproduktiven Gegensatz von Gewalt und Gewaltlosigkeit, der in vielen Argumentationslinien zu finden ist, stellen sie infrage. Sie problematisieren, dass die gewaltfreie Aktion ihre Legitimität häufig aus einer Politik der Viktimisierung bezieht, frei nach dem Motto: Wer vom Staat abtransportiert wird, kann nicht im Unrecht sein. Auch Stellvertretersprechen im Namen von unterdrückten Gruppen scheint in vielerlei Hinsicht diskussionswürdig. Klar ist eigentlich: Gewaltfreie Standpunkte kann es nicht geben, ebenso wenig wie gleiche Ausgangsvoraussetzungen:

„Von den Konsequenzen allerdings sind die verschiedenen potenziellen TeilnehmerInnen immer unterschiedlich betroffen: Was heute für bürgerliche Mittelstandssubjekte eine Gewissenstat mit heroischem Ausgang sein kann, würde für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in einer lebensbedrohlichen Situation münden. Ungehorsam wird so mitunter zu einem Privileg“ (S. 148).

Insgesamt wird das Buch dem selbstgesetzten Anspruch gerecht, die Diskussion um Erscheinungsformen des Ungehorsams in die Gegenwart zu transformieren. Auch das knappe Werkverzeichnis gibt einen kleinen Einblick in aktivistisch-künstlerische Ausdrucksformen der Verweigerung. Wer hier mehr wissen will, wird unter den angegebenen Internetadressen fündig. Alle versammelten, zeitgenössischen Positionen zeichnen sich durch ihre dezidierte Nähe zur politischen Aktion aus, deren Strategien sie verfremden, um neue Sichtbarkeiten zu produzieren. Die Grenze zwischen Kunst und Aktivismus wird undeutlich, so undeutlich, dass stellenweise künstlerische Verklärung und reine Illustration von Verweigerungshaltungen nicht mehr differenzierbar sind (vgl. Videogruppe Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg). Die Auswahl lässt widerständige Positionen innerhalb des Kunstfeldes vermissen, die einen Bruch mit den Eigengesetzlichkeiten des Systems Kunst evozieren wollen. Zum Beispiel die Künstlerin Lee Lozano, die in ihrem „Drop Out Piece“ 1970 radikal aus der Kunstwelt ausstieg, oder Mladen Stilinović, der sich 1977 in seiner Serie „Artist at work“ im Bett liegend der künstlerischen Produktion verweigert. Kunst ist immer politisch. Und wird als neutralisierendes, als apolitisierendes Attribut verwendet. Gerade im Feld der Kunst böte sich eine Analyse des „Ungehorsams“ und seiner Verwertung an. Der im Subtext des Buches anklingende Vorteil von künstlerischem, sozialen Engagement liegt in der Annahme, dass im partikularen und temporären Abrücken von der Norm, subversives Potential stecke und dieses, z.B. auf der Straße entfaltet werden könne. Die Möglichkeiten und Probleme der institutionellen Umstände, die ein Ausstellen ebenjener Strategien mit sich bringt, werden im Textteil des Buches nicht behandelt, sie können nur in Form des Abbildungsteils erahnt werden. Der Zivile und künstlerische Ungehorsam kann in jeder Hinsicht auf eine lange Geschichte zurückblicken – und ist doch von ungebrochener Aktualität.

Zusätzlich verwendete Literatur:

Thoreau, Henry David (1849): Resistance to Civil Government [Civil Disobedience]. In: Peabody, Elizabeth ( Hg.): Aesthetic Papers, Boston/New York. Morse, Margaret (1998): Virtualities. Television, Media Art and Cyberculture. Indiana University Press, Indiana.

Jens Kastner, Elisabeth Bettina Spoerr (Hg.) 2008:
nicht alles tun. cannot do everything.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-481-6.
195 Seiten. 16,00 Euro.
Zitathinweis: Lennart Krauß: Ungehorsame Mikropolitiken. Erschienen in: Kunst in Ketten. 31/ 2014. URL: https://kritisch-lesen.de/s/B7jvR. Abgerufen am: 21. 11. 2024 16:48.

Zum Buch
Jens Kastner, Elisabeth Bettina Spoerr (Hg.) 2008:
nicht alles tun. cannot do everything.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-481-6.
195 Seiten. 16,00 Euro.