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Übergänge ins Totalitäre

Buchautor_innen
Dominik Finkelde
Buchtitel
Phantaschismus
Buchuntertitel
Von der totalitären Versuchung unserer Demokratie

Gewaltvolle Phantasien und irrationale Ausblendungen gibt es auch in „gefestigten" Demokratien.

Dominik Finkeldes neue Veröffentlichung ist eine „philosophiepolitische Untersuchung“ (S. 12). Sie lenkt den Blick auf die – gelegentlich auch in den etablierten Demokratien unserer Gegenwart – phantasmagorischen Grundlagen politischen Bewusstseins oder politischen Engagements. Phantasmagorisch bedeutet dabei dem griechischen Wortsinn nach „von gemeinschaftlich geteilten Trugbildern geleitet“. Laut Finkelde werden solche Phantasmagorien immer dann wirksam, wenn es darum geht, mit schwerwiegenden und schwer lösbaren Problemen auf der gesellschaftlichen Ebene von Gemeinwesen umzugehen beziehungsweise nicht umzugehen, sie auszublenden oder zu verdrängen. Gibt es dazu noch Neues zu sagen? Wird nicht besonders seit dem Vormarsch populistischer Parteien und Persönlichkeiten in westlichen Demokratien intensiv kommentiert, welche irrationalen Motive deren Anhängerschaft treiben mögen und welche irrwitzige Logik dahinterstecken mag, dass diese sich mit Parolen identifizieren, die keiner rationalen Prüfung standhalten? Implizit wird dabei selbstverständlich davon ausgegangen, dass sich ein „gesundes“ politisches Engagement wesentlich durch rationale Begründungsmuster auszeichnet.

Ist der Begriff „Phantaschismus“ (auf dem Buch-Cover zum Teil in Fraktur-Lettern) glücklich oder angemessen? Dient er der Klärung? Finkelde selber bezeichnet ihn als Arbeitsbegriff, „der die Begriffe ‚Phantasie‘ und ‚Faschismus‘ in der Entfaltung einer kritischen Theorie politischer Phantasmagorie zu verknüpfen sucht“ (S. 17). Der Arbeitsbegriff soll „herausstellen, wie Phantasien ein Gemeinwesen nicht nur begeisternd vereinen, sondern dasselbe besonders auch in Form eines obszönen Genusses in der Übertretung ihrer angestammten Normativitätstraditionen konstituieren können“ (ebd). Was der erste Bestandteil des Neologismus bezeichnet, ist nachvollziehbar. Warum und wie genau die sehr präzise beschriebenen Phänomene mit dem Begriff des Faschismus in Verbindung gebracht werden, erschließt sich weniger, zumal dieser selber – außer wenn er die italienische faschistische Bewegung und Herrschaft des vergangenen Jahrhunderts bezeichnet, äußerst vage ist. So schreckt der etwas reißerische Titel eher ab. Der Untertitel des Bändchens ist nicht weniger spannend – und zugleich präziser.

Eine Absage an die Rationalität

Auch in politischen Diskursen und Identitätsbildungsprozessen demokratisch verfasster Staaten, in denen sich kritische Debatten vergleichsweise frei entfalten können, scheint es in Krisenzeiten wirkmächtige Phantasien und Ausblendungen zu geben – mit der Tendenz, ins Totalitäre im Sinne einer einheitlichen unhinterfragbaren Ideologie zu kippen. Die Dynamik solcher Diskurse erläutert Finkelde unter anderem am Beispiel der Anthrax- und Massenvernichtungs-Phantasmen unter der US-amerikanischen Regierung (2001 – 2003), die nach den Anschlägen vom 11. September wesentlich „zur Kollektivkonstruktion eines Wir“ (S. 19) beitrugen, das nicht nur „mit Überzeugung in den Zweiten Irak-Krieg zog“ (ebd.), so wenig schlüssig der auch den eigenen Normen gemäß begründet war, sondern, weit darüber hinaus auch dabei half, eine bisher geltende normative Rechtskultur teilweise über Bord zu werfen. Das, so scheinen diese und andere von Finkelde kommentierte Beispiele der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart nahezulegen, gelingt auch in einer gefestigten rechtsstaatlich verfassten Demokratie mit relativer Leichtigkeit. Dabei spielen kollektive Phantasien normativer Übertretung eine entscheidende Rolle. Diese Phantasien entfalten nicht selten eine überraschende Anziehung – und das beileibe nicht nur bei „bildungsfernen“, gesellschaftlich Marginalisierten. Die Übertretung der alten Rechtskultur zugunsten des „neuen Wir“ (ebd.) ist dann „wie nach einer religiösen Bekehrung die grundlegende Bedingung für die neue Gemeinschaft“ (ebd.). Das „Nicht-mehr so genau-Nehmen normativer Ansprüche“, die eben noch allgemein anerkannt waren, wird, so Finkelde weiter, mit einem „unbewusst auftretenden Genuss“ (ebd.) verbunden.

Wenn Finkelde mit Bezugnahme auf Slavoj Žižek von der „unbewussten Phantasie, welche die Realität selbst strukturiert“ (S. 14) und von der „politischen Funktion der Kanalisierung von Genuss“ (S. 13) spricht, die durch Phantasien geleistet wird, so redet er damit ausdrücklich nicht einem postmodernen Skeptizismus das Wort. Denn seine Überlegungen helfen gerade, die Mechanismen der Ausblendung besser zu verstehen und mit ihnen zu rechnen, auch was die eigenen politischen Grundannahmen betrifft. Es geht also nicht nur um die politischen Phantasmagorien und die Blindheit anderer, sondern auch darum, sich ernsthaft mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit die eigene Wirklichkeitswahrnehmung und -konstitution und somit unser Handeln, auch das politische, nicht nur vernunftgeleitet ist.

Auch wohlfeile, sich besonders rational gebende Erklärungsmuster sind es häufig nicht. So bezeichnet der Autor den weitverbreiteten Vorwurf als „einfältig“ (S. 42), die US-Administration unter Bush jr. habe „das amerikanische Volk getäuscht“ (ebd.), um es zu einem weiteren Krieg gegen den Irak bereit zu machen. Die Prozesse der Einschwörung auf ein neues „Wir“ sind komplexer, und es spielt sich mehr hinter dem Rücken der Akteur*innen ab als gängige Erklärungsversuche darzustellen vermögen. Eine berüchtigte Aussage von Donald Rumsfeld veranschaulicht dies: Er schien am 12.02.2002 in Bezug auf die angeblichen Massenvernichtungswaffen, über die Saddam Hussein verfüge, von „bekannten Bekanntheiten“ und „unbekannten Unbekanntheiten“ mehr zu delirieren als zu reden. Es ging irgendwie um die Angriffe auf das World Trade Center, irgendwie um Anthrax und irgendwie um das irakische Regime. Letzteres konnte kaum mit dem 11. September in Verbindung gebracht werden, und irakische Massenvernichtungswaffen waren ebenso wenig nachgewiesen (später würde sich vielmehr ihr Nichtvorhandensein herausstellen). Zugleich gab es da die sogenannten „Anthraxbriefe“, die das Phantasma eines nicht greifbaren Feindes nährten. Die wirren Äußerungen des US-Verteidigungsministers legen laut Finkelde nahe, „dass der Mangel der empirischen Verifizierung von Vermutungen dieselben nicht entwertet, sondern gegenüber einem Angst machenden ‚x‘, das man nicht einmal vermuten kann, exponentiell verstärkt“ (S. 44, Herv. i. O.). Genau auf dieser Grundlage gelang es dem Anthraxphantasma, das US-amerikanische Gemeinwesen mittels einer unbekannten Gefahr, die mit Schaudern genossen werden konnte, so zu vereinen, dass ein Verweis auf Tatsachen nur störte, sogar als Angriff empfunden wurde. Schließlich wähnte sich die Nation in einer existentiellen Bedrohungslage.

Bestimmende Narrative

Wie in einem anderen Fall eine phantasmagorische Wirklichkeitskonstruktion funktioniert, bei der es um die Ausblendung schwerwiegender Aporien geht, zeigt Finkelde am Beispiel Israels. Dessen andauernde Völkerrechtsverletzungen und menschenrechtliche Vergehen an den Palästinenser*innen liegen offen zutage, nicht nur für die Betroffenen, auch für Israelis und viele andere. Der Widerspruch zwischen dem Anspruch Israels und der Wirklichkeit ist zu eklatant, als dass er übersehen werden könnte. Schließlich wurde dieser Staat als Konsequenz aus einem Antisemitismus gegründet, der im Projekt der Vernichtung der europäischen Juden gipfelte, und steht folglich erklärtermaßen für die Unantastbarkeit der Würde des Menschen und ihrer grundlegenden Rechte. Wie sich den offenkundigen Widerspruch erklären – und wie sich erklären, dass er eben doch übersehen werden kann: von den meisten Israelis und vielen anderen, die sich mit dessen nationalem Narrativ identifizieren? Mit dem israelischen Geographen Oren Yiftachel, der sein Land als Ethnokratie bezeichnet, legt Finkelde dar, wie in Israel Menschenrechte zwar anerkannt werden, aber nicht für diejenigen gelten können, „auf deren rechtlicher Nicht-Anerkennung die eigene Überzeugung aufruht, ein jüdisch-nationalstaatliches Wir zu sein“ (S. 20): „Der Genuss des Gemeinwesens an einem obszönen ethnokratischen Wir“ sei „strukturell unantastbar“ (ebd.), weil grundlegende Bedingung. Diejenigen, die an diesem kollektiven Genuss teilhaben, sind sich dessen oftmals nicht bewusst und können und wollen nicht davon ablassen. Daher sind sie in den meisten Fällen auf den Widerspruch nicht ansprechbar.

Bekanntlich ist das bundesdeutsche Narrativ eng mit dem israelischen verwoben. Auch auf die „phantaschistischen“ Implikationen dieses Gewebes geht Finkelde ein. Die Auseinandersetzung mit der Schuld gegenüber den Millionen Opfern der NS-Verbrechen stand als konstitutive gesellschaftliche und politische Aufgabe am Anfang des neuen Gemeinwesens der Bundesrepublik. Dass es sich dabei vor allem, fast ausschließlich, um die Schuld gegenüber den jüdischen Opfern handle, ist eine Grundannahme, die die Diskurse und Narrative seit Jahrzehnten bestimmt. Diese erfuhren im Laufe der Zeit eine weitere Verengung: Die einzige oder entscheidende angemessene Form, Verantwortung zu übernehmen, sei die bedingungslose Unterstützung Israels. Dafür mag es pragmatische politische Gründe wie die für beide Seiten profitable militärische, diplomatische und wirtschaftliche Zusammenarbeit geben – Roma und Sinti etwa haben nichts dergleichen anzubieten.

Ausblendungen und Abblendungen

Doch um die Ebene politischer Rationalität (und der sie verbrämenden Ideologie) geht es Finkelde gerade nicht. Er beleuchtet vielmehr die dieser vorgeschalteten phantasmagorischen, Genuss-orientierten und -sichernden Mechanismen, die im komplexen Verhältnis von Deutschland zu Israel wirksam sind und dafür sorgen, dass etwa auf die Nennung des Begriffs „Apartheid“ (auf Israel bezogen), „Nakba“ oder „Rückkehrrecht der Palästinenser*innen“ (immerhin von Israel als Bedingung für seine Aufnahme in die UN grundsätzlich anerkannt) geradezu hysterische (Abwehr-)Reaktionen erfolgen – als könnte man nicht darüber reden und möglicherweise unterschiedliche Auffassungen feststellen. Nein, man kann darüber so wenig reden wie über die Nacktheit des Kaisers in Andersens Märchen, wie Finkelde erläutert:

„Weil das ideologische Feld des politischen Narrativs das Evidente abblendet, so wie die Nacktheit des Kaisers bei Andersen strukturell vom versammelten Hofstaat nicht wahrgenommen werden darf. Das Abblenden hat ein bestimmtes politisches Genießen des bundesrepublikanischen Gemeinwesens in seiner Genugtuung an der Aussöhnung mit Israel affektiv konstituiert.“ (S. 62)

Hier wird die Schuld selber ungehörigerweise genossen und oben drauf auch noch die Aussöhnung – die Pflege dieses Genusses ist zentral für das deutsche Wir. Die faktische Politik des israelischen Verbündeten, unterschiedliche Rechte je nach ethnischer Zugehörigkeit zuzumessen, darf von einem deutschen Wir, das sich auf der Grundlage einer Bearbeitung des deutschen Rassismus und der damit verbundenen Verbrechen der NS-Zeit konstituiert hat, nicht ins Auge gefasst werden – sonst funktioniert die ganze zugrundeliegende Genuss-Ökonomie nicht mehr.

Dominik Finkelde 2016:
Phantaschismus. Von der totalitären Versuchung unserer Demokratie.
Vorwerk 8, Berlin.
ISBN: 978-3-940384-83-6.
102 Seiten. 19,00 Euro.
Zitathinweis: Sophia Deeg: Übergänge ins Totalitäre. Erschienen in: Antiimperialismus global. 43/ 2017. URL: https://kritisch-lesen.de/s/n4egN. Abgerufen am: 30. 10. 2024 22:23.

Zum Buch
Dominik Finkelde 2016:
Phantaschismus. Von der totalitären Versuchung unserer Demokratie.
Vorwerk 8, Berlin.
ISBN: 978-3-940384-83-6.
102 Seiten. 19,00 Euro.