Systemtransformation als Mandat Kritischer Sozialer Arbeit?
- Buchautor_innen
- David Gil
- Buchtitel
- Gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung
- Buchuntertitel
- Konzepte und Strategien für Sozialarbeiter
Mit der Vision einer sozial gerechten Gesellschaft skizziert David G. Gil in seinem Klassiker systemische Transformationsstrategien für Sozialarbeitende, die auch 25 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung dazu ermuntern, kollektiv um ihre praktische Umsetzung zu ringen.
Was tun mit der Erkenntnis, dass die Haltung vermeintlicher politischer Neutralität einer impliziten Mittäter_innenschaft an der Konservierung repressiver Strukturen gleichkommt? Wie handeln als kritische Sozialarbeiter_innen, die sich die Überwindung von Ungerechtigkeit und Unterdrückung zum Ziel gemacht haben und nun vor dem Dilemma stehen, sich einerseits mit der Selbstzuschreibung eines social justice-Mandats „auf Touren gebracht zu haben“ und andererseits mangels hinreichender Theoriekenntnisse und Überwindungsstrategien dann „im Leerlauf zu verharren“?
David G. Gil – selbst jahrzehntelang Sozialarbeiter in Praxis und Lehre, zeitweilig Aktivist im New American Movement und Mitglied der Democratic Socialists of America – nutzte diese verfahrene Ausgangssituation als Gelegenheit für umfassende Überlegungen, wie diese Lücke perspektivisch geschlossen werden könnte. Die Ergebnisse seiner Reflexionen veröffentlichte er 1989 unter dem Titel „Confronting Injustice and Oppression: Concepts and Strategies for Social Workers“ im Verlag Columbia Press, New York. Die von Tilman Lutz übersetzte deutschsprachige Ausgabe erschien 19 Jahre später im Kleine Verlag als Teil der kritischen Buchreihe „Impulse“ und wurde auf Anregung des Redaktionskollektivs der Fachzeitschrift „Widersprüche“ vom Sozialistischen Büro Offenbach vorfinanziert.
Ausgehend von seiner historisch-anthropologischen Grundbedürfnistheorie, die er zuvor in seinem Werk „Unravelling Social Policy“ entwickelt hatte, widmet er sich hier den Entstehungsbedingungen und Wirkungsdynamiken von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, um anschließend für das Aktionsfeld Kritischer Sozialer Arbeit Strategien zu ihrer Überwindung zu skizzieren. Der Kern des Buches gliedert sich in zwei Teile, in denen zunächst theoretische und historische Perspektiven komprimiert dargestellt werden, um diese später zur Entwicklung von Implikationen für Politik, Praxis und Organisation zu nutzen. Der Epilog vertieft schließlich die Frage nach den Bearbeitungsmöglichkeiten jener existentiellen Dilemmata, mit denen sich Menschenrechtsaktivist_innen (im weiteren Sinne) in ihrem Streben unweigerlich konfrontiert sehen werden.
Kritisches Bewusstsein als Achillesferse
Als zentrale Werte kritischer Sozialarbeit nennt der Autor Gleichheit, Freiheit, Kooperation, Gemeinschaft und das Streben nach individueller wie sozialer Weiterentwicklung. Die traditionellen sozialarbeiterischen Aufgaben der Leidenslinderung und Ungerechtigkeitsmilderung scheinen ihm daher nur als kurzfristige Ziele sinnvoll. Seine langfristige Vision ist das Gesellschaftssystem des demokratischen Sozialismus, zu erreichen durch die
„Transformation der Institutionen und Kultur des späten Kapitalismus durch die graduelle Entstehung alternativer ökonomischer Praxen sowie die gleichzeitige Ausbreitung emanzipatorischer philosophischer und ideologischer Systeme […], die den Kapitalismus überwinden“ (S. 87).
Als Dreh- und Angelpunkt derlei grundlegender Transformationen erscheint ihm das kritische Bewusstsein möglichst Vieler, denn es sei „die Achillesferse jeder etablierten Sozialordnung und eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Vorbedingung jeglicher Gesellschaftsveränderung“ (S. 75). Entsprechend muss eine emanzipatorische Soziale Arbeit mindestens dieses breitere kritische Bewusstsein beziehungsweise die Mündigkeit der Subjekte zum Zweck ihrer Erziehungs- und Bildungsarbeit machen. Ursprung seines beruflichen Selbstverständnisses ist einerseits die Annahme, dass Gesellschaftsordnungen, Politiken und Institutionen von Menschen geschaffen wurden und daher auch von Menschen verändert werden können; und andererseits, dass Menschen ihre potentielle Fähigkeit zu kritischem, solidarischem und kollektivem Verhalten in gemeinsamen dialogischen Prozessen (wieder)erlernen können, um eine solche Transformation in Richtung gerechter Gesellschaftsstrukturen auch konkret praktisch durchzusetzen.
Arbeits- und Unterstützungskreise als Schutz- und Aktionsraum
Nun stellt aber die gegenwärtige Tatsache eines neoliberal-spätkapitalistischen Gesellschaftssystems kritische Sozialarbeitende vor das Dilemma, sich einerseits dem entschlossenen, ausdauernden und kollektiven Ringen um eine Soziale Arbeit verpflichtet zu fühlen, die dieses Begriffes überhaupt noch würdig ist; und andererseits mit dem Risiko mangelhafter Rückendeckung (durch eine Partei oder Gewerkschaft) umgehen zu müssen. Als wichtiges Element, um diese zwickmühlenartige Situation konstruktiv zu bearbeiten, sieht Gil die Organisationsform von „Arbeits- und Unterstützungskreisen“ (S.160f.).
Da „radikale“ Sozialarbeitende (Gil verwendet diesen kraftvollen Begriff bewusst, um deren Ziel der grundlegenden Gesellschaftstransformation zu unterstreichen) am Arbeitsplatz oft mit Konflikten und Ausschließungsprozessen konfrontiert seien, müssten sie Netzwerke der Solidarität und Zusammenarbeit aufbauen, die für ihre Mitglieder eine duale Funktion übernähmen: Auf eher informeller Ebene kann ein Erfahrungsaustausch über das eigene Leben und Wirken stattfinden, nicht zuletzt um die mehrheitsgesellschaftlich stattfindende Trennung von Beruflichem und Privatem zu transzendieren und Wege zu finden, politische Aktivitäten ins tägliche Leben zu integrieren. In der Funktion eines Schutzraums sollen Arbeits- und Unterstützungskreise Orte „hierarchiefreier, kooperativer [und] von gegenseitiger Sorge gekennzeichneter Beziehungen“ (S. 162) sein, die zudem die Freiheit bieten, nicht nur die unmittelbar konstruktiven Aspekte der eigenen Arbeit zu diskutieren, sondern auch persönliche Schwächen, Ängste und Zweifel zu thematisieren. Gerade solche Sozialarbeitenden, die das Gefühl haben, mit ihrer fachlichen Positionierung in ihrem Kollegium völlig alleine da zu stehen, erhalten hier hoffentlich eine Bestätigung für die Integrität ihrer Perspektiven, ihre „geistige Gesundheit“ im Allgemeinen und ihr radikales sozialarbeiterisches Selbst-Bewusstsein.
Auf der formellen Ebene ist ein solches Netzwerk vor allem ein gemeinsamer Aktionsraum. Im Einklang mit dem zu Grunde gelegten Ethik-Kodex (im deutschen Raum ist dies meist das „Statement of Ethical Principles“ der International Federation of Social Workers, Gil bezieht sich für den U.S.-amerikanischen Raum auf den „Code of Ethics“ der dort aktiven National Association of Social Workers) sollen alternative Analysen, Theorien und Praxen entwickelt werden, die ganz konkret in den Berufsalltag der Mitglieder einfließen und idealerweise auch mit den Strategien und Aktivitäten ähnlich gesinnter sozialer Bewegungen koordiniert werden. Diesem kollektiven Lernprozess dient auch die gemeinsame Evaluation der bisherigen Versuche einzelner Mitstreiter_innen, transformative Elemente in Berufspraxis und sonstigem sozialpolitischem Engagement unterzubringen. Letztendlich gilt es aber, vom gemeinsamen Reflektieren und Analysieren in ein gemeinsames Experimentieren überzugehen: Vermeintliche Grenzen müssten behutsam ausgetestet werden, um festzustellen, ob sie überhaupt real wirksam oder nur selbstauferlegt sind. Nur so können Sozialarbeitende langsam den nötigen Mut und die entsprechenden Fähigkeiten entwickeln, eine auf langfristige Verbesserungen angelegte Konfliktorientierung und Widerständigkeit zum festen Bestandteil des eigenen Berufsalltags zu machen. Um bei diesem Vorhaben nicht fahrlässig die „rote Linie“ zu überschreiten und als Kleingruppe hart sanktioniert zu werden, bietet es sich an, die Unterstützungsmöglichkeiten der Gewerkschaften (im deutschen Rechtsraum gibt es neben GEW und ver.di den sozialarbeitsspezifischen DBSH als tariffähige Fachgewerkschaft/Berufsverband) und der ähnlich gesinnten sozialen Bewegungen zumindest auszuloten.
Zeigt euch! Vernetzt euch! Und ändert den Alltag!
Obwohl Gil die Arbeits- und Unterstützungskreise als zentrale Bezugsgruppe kritischer Sozialarbeitender konstruiert, macht er darauf aufmerksam, dass das in diesem Rahmen durch gemeinsame Tätigkeiten prozesshaft entstehende kritische Bewusstsein aber keinesfalls in diesen Kleingruppen konzentriert und isoliert bleiben soll. Vielmehr müsse es möglichst vielen potenziellen akademischen und nicht-akademischen Querdenker_innen, einschließlich Klient_innen, zugänglich gemacht werden – in Form von Kundgebungen, Zeitungskolumnen, Internetseiten, Fachzeitschriften, Kongressen, Tagungen, niedrigschwelligen Bildungsveranstaltungen und ähnlichem. So kann nicht nur der eigene Schutz- und Aktionsraum erhalten werden, es können auch weitere untereinander vernetzte Arbeits- und Unterstützungskreise gegründet, der gemeinsame politische Aktionsgrad erhöht und eine Zusammenarbeit mit Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen entwickelt werden. Sobald ein solches Netz langsam eine gewisse Spannweite und Feinmaschigkeit erlangt hat, besteht Gil zufolge die Hoffnung, auch den bisher neutral oder ablehnend Gestimmten die „Validität und Durchsetzbarkeit der Integration eines konsequenten Eintretens […] gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung“ zu demonstrieren (S. 165). Eine für den deutschen Sprachraum wertvolle aktuelle Veröffentlichung ist die Karte sozialarbeiterischen Widerstands von Jenny Kaiser und Martina Westrich, auf der über 20 bereits existierende Gruppierungen kritischer Sozialarbeit in Deutschland, Schweiz und Österreich lokalisiert und kurz vorgestellt werden (die Karte siehe hier).
Sobald die einzelnen Bündnisse – etwa durch eine weiträumige Verbreitung dieser erst seit kurzem zur Verfügung stehenden Kartographie – einander in ihrem Existieren und Wirken stärker bewusst sind und eine engere Vernetzung als bisher stattfindet, kann diese Organisationsform Kritischer Sozialer Arbeit den einzelnen Sozialarbeiter_innen sicher auch ein stärkeres Rückgrat als bisher sein.
Für den langen Weg hin zu breiten solidarischen Strukturen gibt Gil schließlich auch einige Hinweise für den gewöhnlichen Berufsalltag vor dem „Tag X“, also für die Zeit ab dem „kommenden Montag“. Denn radikale Sozialarbeitende sollten nach Gil ihre Gestaltungsspielräume nutzen, um berufliche Beziehungen auch jetzt schon soweit möglich in egalitäre, partizipatorisch-demokratische Muster zu überführen. Bei der Zusammenarbeit mit Klient_innen gehe es darum, möglichst jede Form verbaler oder institutioneller Repression zu vermeiden, um diesen zu ermöglichen, eine defensive oder antagonistische Haltung zu verlassen, die sich bloß auf die Person der_des Sozialarbeitenden richtet. Vielmehr müssten diese Menschen in Gesprächen dazu ermuntert werden, gemeinsam über ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu reflektieren und nach ihrer eigenen Perspektive auf die Ursachen und Zusammenhänge ihrer Probleme gefragt werden, um den berechtigten Zorn auf produktivere Weise neu auszurichten auf die eigentlichen Hinderungsgründe für das persönliche Wohl. Teil der Unterstützung müsse aber auch sein, die bisherigen eigenen Problemlösungsversuche dieser Menschen wertzuschätzen und als Sozialarbeitende_r offen einzugestehen, unter ähnlichen Bedingungen wahrscheinlich zunächst ähnlich überfordert zu sein. Dann könne gemeinsam nach Möglichkeiten der Belastungsreduktion gesucht werden, um die frei werdenden Ressourcen so zu nutzen, dass das eigene Wohlergehen nachhaltig sichergestellt und durchgesetzt werden kann. Gil ist überzeugt, dass durch eine solche kontinuierliche Unterstützung ein Vertrauensverhältnis und auch Selbstvertrauen aufgebaut wird, welches die Klient_innen von der Notwendigkeit und Machbarkeit gemeinsamer Widerstandsbemühungen überzeugt.
Auf zur kollektiven Suchbewegung!
Eingedenk der Unmöglichkeit, mit nur einer Publikation einen Lückenschluss zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis zu bewirken, trägt Gil mit seinem Werk dennoch einen wertvollen Teil zu diesem gemeinsamen Vorhaben bei. Wenn die Handlungsimplikationen des Autors zuweilen unbefriedigend unkonkret erscheinen sollten, dann sei positiv erwähnt, dass Gil aus der Skizzenhaftigkeit seiner Überlegungen keinen Hehl macht, sondern seine provisorischen Zwischenergebnisse beziehungsweise sein Prozesswissen bewusst frühzeitig einer breiteren (Fach-)Öffentlichkeit zur Verfügung stellt, um sie für eine weitere „kollektive Suchbewegung“ nutzbar zu machen. Das Buch bietet vielfältige Denkanstöße und Handlungsanregungen, wie sich eine kritische Haltung als Sozialarbeiter_in in Praxis und Lehre mit kritischem Engagement in politischen Arenen und auch im Bekanntenkreis verbinden lassen können. Gils Werk grenzt sich nicht zuletzt deshalb positiv von manch anderen Publikationen ab, weil es zwar „etwas zumutet“, aber vor allem „etwas zutraut“; weil es Anknüpfungspunkte bietet, aber nach eigenständiger Konkretisierung und Aktualisierung verlangt; und weil es auf unbequeme Weise ein konsequentes Handeln einfordert, ohne auf schmerzhafte Weise zu Selbstüberforderung anzustacheln. Oder wie Gil selbst schreibt: Das „Bekämpfen der Ursachen anstelle von Symptomen [beruht] auf der persönlichen Verpflichtung vieler Individuen, ihr Leben und ihr Lebenswerk dem Ziel Sozialer Gerechtigkeit zu verschreiben. Eine Verpflichtung wie diese kann nicht von heute auf morgen entstehen“ (S. 168).
Gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Konzepte und Strategien für Sozialarbeiter.
Kleine Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3893704101.
198 Seiten.