SYRIZA über SYRIZA. Oder: warum SYRIZA scheiterte
- Buchautor_innen
- Giorgos Chondros
- Buchtitel
- Die Wahrheit über Griechenland
- Buchuntertitel
- Die Eurokrise und die Zukunft Europas
Erklärungsversuche für das Versagen in der Krise und die fatalen Folgen der Memorandenpolitik für die griechische Bevölkerung aus Sicht eines SYRIZAners.
Giorgos Chondros, Umweltsprecher von SYRIZA und ZK-Mitglied, hat ein Buch vorgelegt, das umfassend auf die griechische Krise, die sozialen Auswirkungen der Memorandenpolitik, den Aufstieg von SYRIZA und vor allem auf die entscheidende Phase der Verhandlungen mit der sogenannten Troika und anderen europäischen Institutionen eingeht. Diese mündete letztlich in die Unterzeichnung des 3. Memorandum of Understanding (MoU). Er legt dar, wie zerstörerisch die Memorandenpolitik war, warum sie zu weiterer Rezession führen wird und wie SYRIZA keine Chance gelassen wurde, ihr Alternativmodell zu gestalten.
Das Buch ist also eines, das die Interpretation der Ereignisse rund um die Griechenlandkrise und die politische Perspektive der Mehrheitslinie innerhalb von SYRIZA präsentiert. Es ist somit auch ein Manifest, das vor Augen führt, was die gravierenden theoretischen und politischen Fehler von SYRIZA waren, die letztlich dazu führten, dass SYRIZA an der mächtigen Front seiner Gegner zerschellte und sicher auch nicht wieder in die Offensive gehen kann.
Gegen den Strom!
Einen bedeutenden Teil des Buches widmet Chondros dem Kampf gegen die „hervorragend geplante Desavouierungskampagne“ (S. 115), die gegen SYRIZA lanciert wurde. Das umfasst auch die Erklärung der Griechenland-Krise, welche im ersten Kapitel behandelt wird. Chondros folgt hier fast vollständig der klassischen linkskeynesianischen Interpretation: Die Griechenland-Krise wird gesehen als Folge der Weltwirtschaftskrise, die wiederum wesentlich vom exzessiven Gebrauch von Schuldverschreibungen und beliehenem Kapital sowie den maßlosen Gehältern und Boni der Investmentbanker verursacht worden sei. Erst die Rettung der in Krise geratenen Banken habe die Staatsschulden in die Höhe schießen lassen, und schwache Länder wie Griechenland seien aufgrund der Konstruktion der Euro-Zone nicht in der Lage gewesen, souverän auf die Sachlage zu reagieren. Und so sei Griechenland unter die Fittiche der Troika geraten.
Stark ist hier vor allem, dass Chondros kompakt wichtige Statistiken und Kennzahlen vorweist. Er zeigt, dass die Staatsschulden weltweit erst mit der Krise zunehmen und dass die Bankenrettungspakete daran einen massiven Anteil haben. Ebenfalls listet er detailliert alle wesentlichen Reform- und Kürzungsmaßnahmen vor sowie im Rahmen der Memoranden auf.
Weitere Kapitel widmen sich der Widerlegung der gängigsten massenmedial propagierten antigriechischen Klischees und Mythen um die Griechenland-Krise. So weist Chondros im Einklang mit drei unterschiedlichen Studien darauf hin, dass nicht „Griechenland“ mit den Rettungspaketen gerettet wurde, sondern vor allem Investoren und in- wie ausländische Banken. Die These „wir fleißigen Deutschen zahlen für die Griechen“, die in der Tat zu den demagogischsten Thesen im Umfeld der Griechenland-Krise zählt, widerlegt Chondros: Das Geld, das die jeweiligen Länder an Griechenland überwiesen, besteht aus Krediten, die von der EZB aufgenommen und zu höheren Zinssätzen an Griechenland weitergereicht wurden. Anstatt für die Griechen zu zahlen, hat der deutsche Staat bisher sogar über 300 Millionen Euro Plus gemacht.
Besonders hervorzuheben ist das zweite Kapitel: Auf etwas mehr als 30 Seiten präsentiert Chondros kompakt die sozial desaströsen Folgen der Austeritäts- und Memorandenpolitik in Griechenland. Von der rasant ansteigenden Arbeitslosigkeit über massiv fallende Löhne, Renten und Haushaltseinkommen, steigende Strompreise und Energiearmut bis hin zur extremen Armut belegt er das soziale Gruselkabinett ausführlich mit Zahlen und Statistiken.
Oder doch nicht?
Bis auf die Erklärung der genaueren Dynamiken der Weltwirtschaftskrise dürften die meisten Linken mit dem bisher Präsentierten d'accord sein. Die meisten, die sich mit der Griechenland-Thematik schon länger auseinandersetzen, werden auch die erwähnten Statistiken und Zahlen kennen, auch wenn es natürlich von unschätzbarem Wert ist, dass all diese kompakt auf einigen dutzend Seiten zusammengetragen wurden.
Aber besonders ab dem fünften Kapitel „This is a coup!“, in dem es an's Eingemachte geht, also um die Periode, ab der SYRIZA die Regierung stellte, werden die Meinungen auseinandergehen. Eine gewisse Verbalradikalität übertüncht die gar nicht so radikale Grundeinstellung: Da ist die Rede von einer „Systemkrise […], die unauflöslich mit dem Kapitalismus […] verknüpft ist“ (S. 19) und vom „zeitgenössischen Absolutismus des Finanzkapitals“ (S. 172). Chondros spricht von einer „langfristigen ‚Germanisierung Europas‘“ (S. 206) und flucht wahlweise auf „Germropa“ (S. 211) oder die „Bankokratie“ (S. 58), in besonderem Maße natürlich auf Wolfgang Schäuble.
Die Konfliktachse wird bei Chondros also oft genug eher national/anti-kolonial gelegt: Er spricht vom „griechischen Verlierer“ (S. 98) und meint an den Stellen, wo von „Klassenfeinden“ die Rede ist, die Troika beziehungsweise die Euro-Gruppe und Dr. Schäuble (S. 192). An einer Stelle rutscht es ihm dann aus und er verweist darauf, dass eine sofortige Intervention durch die EZB im Jahre 2010 dem „griechischen Kapitalismus“ (S. 99) wenigstens die nötige Zeit gegeben hätte, um die notwendigen Anpassungen (?) umzusetzen. Bei aller Verbalradikalität also doch Reformierung des „griechischen Kapitalismus“?
Auch sonst sind die praktischen Vorschläge von Chondros eher moderat. Er verteidigt, wie die rechte SYRIZA-Mehrheitslinie, den Weg der Suche nach einem „ehrvollen Kompromiss“ mit den Gläubigern, die übrigens weitaus öfter „Partner-Gläubiger“ genannt werden als „Klassenfeinde“. Chondros bildet sich in der Tat ein, dass es am Anfang eine „Schnupperphase“ (S. 143) gegeben habe, in der sich die unterschiedlichen Seiten des Konflikts kennengelernt hätten und sich Premierminister Tsipras bei Frankreich und Italien Freunde gemacht habe. Dass Hollande das 3. MoU später öffentlich im Fernsehen lobpreiste und schon damals wichtige EU-Persönlichkeiten darauf hinwiesen, dass sich an den Abkommen nichts ändern wird, passt nicht so recht in diese Erzählung. Auch nicht, dass am Abkommen Ende Februar 2015, welches Varoufakis und auch Chondros mit „kreativer Ungenauigkeit“ (S. 150) uminterpretieren wollten, überhaupt nichts uminterpretiert wurde, sondern vielmehr der erste Stein desjenigen Weges war, der geradeaus zum 3. MoU führte.
Zwar kritisiert Chondros im Nachhinein, dass sich diese Taktik als falsch erwiesen hätte, dass da Gegner gewesen seien, die alles in Kauf genommen hätten und Griechenland schwach gewesen sei. Irgendetwas, das dieser Kritik in der Praxis oder in einzelnen Ausführungen korrespondieren könnte, sucht man aber vergeblich. Chondros lobpreist regelrecht den Umstand, dass SYRIZA oft genug die selbstgesteckten roten Linien, ja eigentlich alle davon, überschritten hat als Tatsache, die beweist, dass sie „wirklich“ verhandeln wollten.
Er wundert sich darüber, dass die Troika die Besteuerung der Reichen ablehnte und ist empört darüber, dass die Mehrwertsteuererhöhung für Nahrungsmittel erzwungen wurde, obwohl doch massenhaft Armut existiere. Voller Entrüstung berichtet er, dass SYRIZA keine Zeit gelassen wurde, das Referendum vom 7. Juli in Ruhe durchzuführen, und dass mit Liquiditätsbeschränkungen und erzwungenen Kapitalverkehrskontrollen großer Druck auf SYRIZA ausgeübt wurde. Er wundert sich also reihenweise über Dinge, über die man sich kaum wundern oder moralisch entrüsten würde, würde man eine kapitalismustheoretische Herangehensweise an den Konflikt ernst nehmen. Schließlich hatte SYRIZA ja gemeint, im Namen des Großteils der Werktätigen in Griechenland den Reichen und Gläubigern, ja gleich dem Neoliberalismus in ganz Europa den Kampf anzusagen. Kein Wunder, dass die dann wiederum reagieren. Wundern kann man sich hier nur, wenn man nicht realisiert oder nicht ernst nimmt, dass im betreffenden Fall antagonistische Interessen aufeinanderprallen, wobei sich diejenigen mehr durchsetzen, die mehr Macht geschickter nutzen können.
Ein Manifest der Niederlage
Chondros fallen auch einige gravierende Mängel der Analyse und Taktik von SYRIZA auf; etwa, dass kein Plan B vorlag für den Fall, dass die Taktik der Verhandlungen nicht aufgehen würde. Auch wird selbstkritisch festgestellt, dass man außenpolitisch besser agieren hätte können, um zum Beispiel via Russland auf die EU Druck auszuüben. Er gesteht ein, dass keine klassenorientierte Politik verfolgt wurde. Alles gravierende, ja im Grunde ausschlaggebende Probleme und Mängel von SYRIZA, die wesentlich erfolgsversprechender hätten angegegangen werden können, hätte man sie rechtzeitig in Angriff genommen anstatt die gesamte Energie und Zeit damit zu verschwenden, irgendwelche, in der Tat völlig aussichtslose, Verhandlungsspielchen zu spielen. Aber alle Mängel von SYRIZA werden mit einem erstaunlichen Argument zur Seite gewischt: Auch eine bessere Vorbereitung hätte die zwangsläufige Kapitulation nicht verhindert, denn die Kräfteverhältnisse seien einfach so aussichtslos gewesen, von Anfang an. Wie er bei so viel Pessimismus bezüglich eigener Taktiken dazu kommt anzunehmen, man könne nun „unter dem Radar der Memoranden [eine] klassenorientierte Politik“ (S. 199) machen, ja, er gar in unglaublich tiefer, dialektischer Manier das „Vereinbarungsdiktat“ (sic!) als einen „taktischen Schritt in Erwartung des geeigneten Zeitabschnittes“ (S. 211) zum Sturze des deutschen Europas seitens einer gesamteuropäischen Widerstandsbewegung deklariert, bleibt sein Geheimnis. Der Verdacht liegt nahe, dass die verbalradikalen Auslassungen nichts weiter sind als radikale Phrasen, die den äußerst moderaten, gar nicht kampfbereiten, noch -willigen Grundtenor in Theorie und Praxis übertünchen. Eher scheint es der Fall, dass das Experiment SYRIZA vollends an die Wand gefahren ist, weshalb das vorliegende Buch als ein Manifest der Niederlage gelesen werden sollte. Damit sich beim nächsten Mal nicht dieselben Fehler wiederholen.
Die Wahrheit über Griechenland. Die Eurokrise und die Zukunft Europas.
Westend Verlag, Frankfurt / Main.
ISBN: 978-3-86489-115-1.
240 Seiten. 16,99 Euro.