Ruhestand passé?
- Buchautor_innen
- Tina Denninger, Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Anna Richter (Hg.)
- Buchtitel
- Leben im Ruhestand
- Buchuntertitel
- Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept des active ageing der neoliberalen Altenpolitik der vergangenen Jahre.
Die bisherige Debatte um das Leben im Alter muss neu gedacht werden. Dies ist der Ausgangspunkt des Buches „Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft“, einer Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse eines soziologischen Forschungsprojektes.
Die Diskussion um das Alter und die Ausgestaltung der Rente sind, historisch gesehen, relative neue Phänomene. Seit der Industrialisierung und der Einführung von Sozial- und Rentensystem gibt es eine ungeschriebene, aber doch weit verbreitete Einteilung des Lebens in drei Abschnitte: das Leben vor der Erwerbstätigkeit, die Phase der Erwerbstätigkeit und die sogenannte Dritte Lebensphase – der Ruhestand. Die politische und gesellschaftliche Akzeptanz dieses Modells hielt sich bin in die 1980er Jahre. Doch seit einigen Jahren wird sowohl in der Wissenschaft als auch (parteiübergreifend) in der Politik der Umgang mit Älteren in unserer Gesellschaft in einer neuen Dimension thematisiert. Insbesondere die Problematisierung des sogenannten demografischen Wandels und die verlängerte Lebenszeit des Menschen bilden hierfür den Argumentationshintergrund. Nicht zufällig finden sich hier nach Auffassung der AutorInnen interessante Parallelen zu neuen Definitionen des Sozialstaates: „Die sozialpolitisch zugedachte Rolle von freiwilligen, verantwortungsbewussten und gemeinwohlorientierten Helfern und Helferinnen einer demografisch unter Druck geratenen Gesellschaft“ (S. 13). Da es den Menschen ja gesundheitlich auch im hohen Alter immer besser gehen würde, könne dies ja auch zum Nutzen für die Gesellschaft sein. Nach der Aktivierung von Arbeitslosen durch die Hartz-Gesetze folgt nun eine Aktivierung der Alten.
Auch jenseits von besonderem Forschungsinteresse der/s Einzelnen oder speziellem Hintergrundwissen bietet das Buch eine interessante Lektüre. Den Lesereiz macht unter anderem aus, dass es im Grunde um ein Thema geht, dem sich jede/r irgendwann stellen muss, gepaart mit dem Anspruch der AutorInnen, dass auch wissenschaftsferne Personen dieses Buch lesen und nachvollziehen können.
Die AutorInnen bewerten die Debatte um das produktive Alter kritisch. Im ersten Teil des Buches wird mit Rückgriff auf Gouvernementality Studies und poststrukturalistische Ansätze (hier im Besonderen Michel Foucault) die theoretische Grundlage gebildet, auf die die nachfolgende Untersuchung zur Außen- und Selbststeuerung des Menschen fußt. Die Ergebnisse der Untersuchung basieren auf zwei Forschungsgrundlagen: zum einen wurden circa 2.200 Dokumente (etwa Zeitschriften) aus fast dreißig Jahren mit der Fragestellung untersucht, wie das Alter und die Rolle älterer Menschen in der Gesellschaft dargestellt und diskutiert wurden. Zum anderen wurden Interviews von 55 Personen im Alter zwischen 60 und 75 Jahren ausgewertet. Die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung und Interpretation von Alter und Aktivitäten älterer Menschen durch Politik und Medien sowie das persönliche Empfinden der Menschen sind bemerkenswert. Die WissenschaftlerInnen stellen fest, dass von Seiten der Politik und auch einem großen Teil der Medien seit einiger Zeit das Bild der „faulen“ SeniorInnen gezeichnet wird, die es sich auf Kosten der Gesellschaft gut gehen lassen würden. An ihrer Stelle werde ein anderes, gewünschtes Bild der Alten propagiert: Da es den Menschen auch im hohen Alter gesundheitlich immer besser gehen würde, könnten die Alten als nützliche ökonomische und soziale Ressource für die Gesellschaft dienen, hätten eine Aufgabe und würden auch persönlich von ihrem Verantwortungsbewusstsein profitieren. Das active ageing zeichne sich dadurch aus, dass die Alten gemeinwohlnützlichen Tätigkeiten nachgehen. Eine scheinbare „Win-Win-Strategie“ (S.13). Unterschwellig wird jedoch mit dieser Aktivierung der Alten auch unterstellt, sie dürften keine Last für jüngere Generationen sein, sondern sollten sich, etwa durch Kinderbetreuung oder Übernahme von Pflegetätigkeiten, für die Gesellschaft rentabel machen.
Sehr interessant ist die Einschätzung der InterviewpartnerInnen ihrer eigenen Lebenssituation und ihrer Ausgestaltung des Alters: Fast mehrheitlich ist bei ihnen die Idee des Generationenvertrages fest verankert. Nach einem arbeitsamen Leben trete nun die Phase des „wohlverdienten Ruhestands“ (S. 269) ein. Diese bedeutet aber keinesfalls eine Inaktivität der meisten RenterInnen. Sie selber empfinden sich zum Großteil als sehr gewillt, ein aktiver Teil der Gesellschaft zu bleiben. Doch eben nicht unbedingt nach der Definition, wie sie durch die Politik vertreten wird. Die meisten Interviewten wollten ohne Zwang ihren Renteneintritt genießen und selber aktiv gestalten. Dabei steht im Fokus, die freie Zeit zu genießen und sich gesund zu erhalten. Insbesondere die nun in die Rente eintretende 68er-Generation ist diesbezüglich sehr selbstbewusst und will sich nicht von oben beziehungsweise vom Staat vorschreiben lassen, wie sie ihre neu gewonnene Mehrzeit zu nutzen hätte, sondern ihre „späte Freiheit“ (S. 372) auskosten.
Generell hätte die die dominierende Rolle von Erwerbsarbeit im Leben der Menschen ein eigenes Kapitel verdient. Bereits in den Bildungsbiografien spielt die Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt eine enorme Rolle, und der Fokus auf Arbeit ist in unserer Gesellschaft so stark, dass andere (gesellschaftliche) Themen zu kurz kommen. Leider streifen die AutorInnen deswegen eine Konsequenz aus der aufkommenden Altersarmut auch nur sehr knapp: den zunehmenden Zwang zur Altersarbeit.
Da in den letzten Jahrzehnten neoliberale Strukturen und Aktivierungsstrategien in viele Lebensbereiche eingedrungen sind, war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch der Ruhestand davon betroffen sein würde. So bleibt aber dennoch als Fazit der Studie festzuhalten, dass das Konzept des active ageing ein von der Politik aufgestülptes Modell ist, welches die Durchsetzung von neoliberaler Sozialpolitik und den Abbau von sozialen Leistungen unterstützen soll. So konstatieren die AutorInnen am Ende, dass „die Verknüpfung Alter/verdiente Ruhe/Entpflichtung […]beträchtlich an gesellschaftlichem Einfluss und politischer Verankerung“ (S. 364) verliert. Dass diese Politik bei der Zielgruppe, den Alten, (noch) nicht zu greifen scheint, ist einerseits beruhigend. Andererseits ist die Zukunftsperspektive des Rentenabschnitts vor dem Hintergrund immer prekärer werdender Erwerbsbiografien und unsicherem staatlichem Sozialsystem bedrückend. Werden die Alten in Zukunft durch die drohende Altersarmut bald doch so aktiv sein, wie es der Staat sich jetzt schon wünscht? Das lesenswerte Buch liefert zu dieser Debatte einen wichtigen Beitrag.
Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft.
Transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-2277-5.
457 Seiten. 29,80 Euro.