Portugal im Aufbruch
- Buchautor_innen
- Ismail Küpeli
- Buchtitel
- Nelkenrevolution reloaded?
- Buchuntertitel
- Krise und soziale Kämpfe in Portugal
Ein Buch über die Krise und Entstehung der sozialen Bewegung in Portugal – und über die Frage, was wir in Deutschland daraus lernen können.
Als es Ismail Küpeli im Sommer 2010 nach Portugal, genauer Porto verschlug, landete er in einem der Länder Europas, welches am stärksten unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise 2007 zu leiden hatte. Die Protestwelle, die 2011 durch das ganze Land ging, erlebte er selbst mit. Kurzerhand entschloss er sich, über diese spontane Protestbewegung zu schreiben und ihr damit die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die ihr in den deutschen Medien zugunsten der sozialen Bewegung in Spanien verwehrt blieb.
Küpeli, von Haus aus Politikwissenschaftler, Historiker und Aktivist, formuliert gleich zu Beginn, welcher „Selbstanspruch“ (S. 7) dem Buch zugrunde liegt: Es richte sich vor allem an deutschsprachige Aktivist_innen und Interessierte, denen Küpeli einen Überblick über die aktuellen Probleme Portugals und die Entstehung sozialer Bewegungen ebendort gewähren möchte. Er hofft, so eine die Ländergrenzen überschreitende Diskussion und Kooperation anzuregen, die die vorherrschenden politischen Verhältnisse hinterfragt und bekämpft. Dieser auf „politische Handlungsfähigkeit“ (S. 8) abzielende Ansatz spiegelt sich auch im Konzept des Buches wider, das weitgehend auf Fußnoten verzichtet und „komplexe Zusammenhänge vereinfacht“ (S. 8) darstellt.
In „Nelkenrevolution reloaded? Krise und soziale Kämpfe“ kontextualisiert Küpeli die aktuelle Bewegung mit der Geschichte Portugals und den politischen und ökonomischen Verhältnissen seit der Diktatur unter Salazar. Er analysiert die „neoliberale ‚Krisenbewältigung‘ der EU“ (S. 6) und kritisiert deren undemokratisches Vorgehen. Außerdem geht er der Frage nach, „wie soziale Bewegungen entstehen“ (S. 6) und wie sie dauerhaft politische Relevanz erlangen können.
Diktatur und Nelkenrevolution
Küpeli skizziert zu Beginn die instabilen Jahre der 1910 gegründeten Ersten Republik, die schließlich in einem autoritären Regime, angeführt von António de Oliveira Salazar, gipfelten. Während eine Welle der Dekolonialisierung über den afrikanischen Kontinent ging, führte Portugal in seinen damaligen Kolonien Angola, Guinea-Bissau und Mosambik aussichtslose Kämpfe gegen die Unabhängigkeitsbewegungen. Dies führte vor allem in der Armee zu einer wachsenden Unzufriedenheit. Dem im Geheimen gebildete Movimento das Forças Armadas, eine dem linken Spektrum zuzuordnende Organisation innerhalb der Armee, gelang am 25. April 1974 in einem weitgehend friedlichen Putsch schließlich der Sturz der Diktatur. Dem folgte eine von der Bevölkerung angetriebene politische Revolution, in der Fabriken besetzt, Großgrundbesitzer enteignet und Produktionsmittel verstaatlicht wurden. Sie enthielt zwar Ansätze einer sozialen Revolution, wurde aber von den konservativen und sozialdemokratischen Parteien im Keim erstickt.
Neoliberalismus und EU
Investorenflucht, höhere Staatsausgaben und Massenarbeitslosigkeit zwangen die sozialdemokratische Regierung schließlich dazu, zwei Strukturanpassungsprogrammen zuzustimmen, um die nötigen Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu erhalten. Die erforderlichen Maßnahmen – die „Senkung der Staatsausgaben“ und die „Liberalisierung der Märkte“ (S. 26) – sind laut Küpeli „auch das Ende des eigenständigen Entwicklungsweges in Portugal“ (S. 28) gewesen und führten zu „[einem] neoliberale[n] Umbau der portugiesischen Gesellschaft“ (S. 33).
Vor diesem Hintergrund setzt er sich auch mit der Rolle der Europäischen Union (EU) kritisch auseinander. Er weist auf ihre unübersichtlichen und undemokratischen Strukturen hin, die den Einfluss der nationalen Regierungen sowie ein Mitspracherecht auf Bürgerebene so gut wie unmöglich machten. An dieser Stelle plädiert Ismail Küpeli für die „Abschaffung der EU und die Schaffung einer neuen und demokratischen Kooperation in Europa“ (S. 32), da ein „echte“ Beteiligung der Bürger in den jetzigen Strukturen nicht zu verwirklichen sei. Damit stellt der Autor eine provokante und spannende These auf. Es bleibt allerdings offen, wie er sich eine solche Alternative vorstellt. Andrerseits hätte eine Ausführung eindeutig den Rahmen dieses Büchleins gesprengt.
Massenproteste
Ende der 1990er Jahre brach in Portugal das Wirtschaftswachstum mit der EU-Osterweiterung und der Einführung des Euros zusammen. Die Weltwirtschaftskrise 2007 verschlimmerte die Lage zusätzlich und führte dazu, dass die Regierung aus eigenem Antrieb ein Austeritätsprogramm in die Wege leitete. Die daraus resultierende Verschlechterung der Lebensverhältnisse löste landesweit Massenproteste aus, die neben den klassischen linken Akteur_innen vor allem von „prekarisierten Unorganisierten“ (S. 51) initiiert wurden. Diese griffen neben Demonstrationen und Streiks auch auf die Methode „Besetzung“ zurück und radikalisierten sich teilweise.
Das Wahlverhalten änderte sich dadurch aber nicht, und so gewannen auch bei der nächsten Wahl die Konservativen, die unter Aufsicht der so genannten Troika (mit Vertretern von IWF, EU-Kommission und EZB) die neoliberale Krisenbewältigung fortführten. Küpeli wirft „den konservativen Parteien [und] ihre[n] Kreditgebern [vor], die gegenwärtige Krise als Chance genutzt [zu haben], unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen“ (S. 55). Des Weiteren verweist er auf die „inneren Widersprüche dieser Strategie“ (S. 56), die letztlich die Krise verschärft hätten. Doch auch den linken Oppositionsparteien wirft er vor, Fehler gemacht zu haben. Ihnen wäre es nicht gelungen „eine ehrliche und für beide Seiten gute Kooperation mit den Protestbewegungen zu etablieren“ (S. 68). Aus diesen Gründen, so Küpeli, sei bisher unklar, wie sie politische Relevanz erlangen könnten. Einziger Hoffnungsschimmer scheint eine europaweite Solidarisierung der Proteste zu sein. Nur gemeinsam könnten die sozialen Bewegungen den nötigen Druck auf der EU-Ebene ausüben, denn die „Politik von oben, [lasse] sich kaum noch auf nationaler Ebene fassen“ (S. 72).
Politische Lerneffekte
Der Autor resümiert seine Erkenntnisse über die Entstehung sozialer Bewegungen anhand der Proteste in Portugal wie folgt: Sie seien zum einen unvorhersehbar, da sie genauso so spontan und schnell entstünden, wie sie wieder verschwänden. Andererseits sind sie laut Küpeli aber auch flexibler und authentischer als Parteien und Gewerkschaften. Daher bedürfe es entweder dauerhafter Strukturen oder einer Kooperation mit den Oppositionskräften, um nachhaltige Veränderungen durchzusetzen. Obwohl diese bislang ausgeblieben sind, betont Küpeli, wie wichtig es gewesen sei, „dass massenweise Menschen gelernt haben, ihre politischen Interessen [zu] artikulieren und sich selbst [zu] organisieren“ (S. 70).
Am Ende beantwortet Ismail Küpeli die Frage nach einer „Nelkenrevolution reloaded“ selbst. Er verneint sie mit der Begründung, dass „weder die linken Oppositionskräfte […] die Macht [hätten] die Regierung zu stürzen, noch [seien] die internationalen Machtstrukturen die gleichen wie 1974“ (S. 73). Er betont, dass
„die sozialen Bewegungen (nicht nur in Portugal) vor der schwierigen Aufgabe [stehen], die neoliberale Hegemonie in Europa zu überwinden und die Verschlechterung der Lebensverhältnisse für breite Bevölkerungsteile abzuwenden“ (S. 74).
Das Buch schließt mit „Stimmen aus der sozialen Bewegung“ (S. 75) in Form von Interviews mit drei Aktivistinnen. Die Aktiven vor Ort sollen selbst zu Wort kommen, um den Leser_innen Einblicke in die verschiedenen Formen des politischen Aktivismus zu ermöglichen. Gui Castro Falge, Sara Moreira und Sylvia schildern, wie sie die Krise erleben und resümieren ihre eigene politische Arbeit. Gui Castro Falge ist es auch, die die Illustrationen zum Buch beigesteuert hat, die neben Street-Art-Fotografien den Text begleiten. Ihre mit bissigen Parolen überschriebenen Karikaturen beleben die Lektüre und zeigen, wie Kunst Ausdruck des politischen Aktivismus sein kann.
Als durchaus hilfreich erweisen sich die Exkurse, die über das ganze Buch verteilt zu finden sind. In diesen vertieft Küpeli unter anderem die fehlende Aufarbeitung der Salazar-Diktatur, die Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, die Rolle des IWF sowie das Thema Rassismus in Portugal.
Das Buch „Nelkenrevolution reloaded?“ ist all jenen zu empfehlen, die sich kritisch mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise und der neoliberalen (Krisen-)politik der EU auseinandersetzen wollen. Anhand des Fallbeispiels Portugal wird deutlich, welche Rolle vor allem Deutschland, als Befürworter der Austeritätspolitik, in diesem Zusammenhang spielt und warum eine Internationalisierung der sozialen Bewegungen nötig ist.
Nelkenrevolution reloaded?. Krise und soziale Kämpfe in Portugal.
Edition Assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-942885-27-0.
96 Seiten. 9,80 Euro.