Kranke Menschen – oder kranke Gesellschaft?
- Buchautor_innen
- Torsten Bultmann / Jens Wernicke (Hg.)
- Buchtitel
- Naturalisierung und Individualisierung
- Buchuntertitel
- Beiträge der Wissenschaft zur Legitimation von Armut und Ausgrenzung
Sind Leidende automatisch krank? Oder sind Depressionen, Ängste und Rückzugsverhalten nicht gerade gesunde Reaktionen auf eine Gesellschaft des Krieges und der Ausbeutung?
Die Beiträge der Broschüre „Individualisierung und Naturalisierung“, die im Verlag des Bundes demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi) erschienen ist, sind thematisch breit gefächert. Die AutorInnen beschäftigen sich mit Praktiken und Diskursen rund um Chancengleichheit in der Bildung, mit verschiedenen psychischen Krankheiten, gekauften Medien- und Wissenschaftsbetrieben, sozialen Implikationen des Sterbehilfediskurses, mit Gerechtigkeitsillusionen und mit Menschenrechten.
Der rote Faden, der sich durch die Broschüre zieht, ist die Einschätzung der Rolle der Wissenschaft im Kapitalismus: Sie blende gesellschaftliche Widersprüche zunehmend aus und deute deren offensichtliche Auswirkungen um zu individuellen Defiziten, Schwächen, Störungen und Krankheiten. Wer sich der Verwertungslogik des Kapitals nicht fügen kann, wird als Behinderter an den Rand der Gesellschaft gedrängt, schon als Kind mit Medikamenten ruhiggestellt, als faulenzender „Schmarotzer“ oder genetisch Unfähiger der angeblich wohlverdienten Armut überlassen. Aus negativen Reaktionen auf Ausbeutung und Entfremdung werden psychische Krankheiten, und die Kluft zwischen Arm und Reich wird gerechtfertigt durch vermeintlich selbst verantwortetes Versagen der Betroffenen. Anstelle des Kapitalismus steht das Individuum im Fokus der Kritik. Dadurch wird Wissenschaft zum vermeintlich entpolitisierten Legitimations- und Reproduktionswerkzeug der bestehenden Verhältnisse.
Unzufriedenheit als Krankheit?
Die AutorInnen der Broschüre kritisieren anhand unterschiedlicher Beispiele das herrschende Verständnis von psychischer Krankheit sowie die psychologische Praxis und Wissenschaft, die dahinterstehen. Das Ausblenden sozialer Widersprüche und die Individualisierung der Probleme werden hier besonders deutlich: Gegenstand der Psychologie ist das Scheitern des Einzelnen. Symptome wie Freudlosigkeit, Angst, Sorge, Trauer, Rückzugsverhalten und depressive Verstimmung werden zu „Anpassungsstörungen“. In welchem Kontext aber diese „unbewusst-psychosomatische Revolte“ (S. 6) stattfindet, lässt die Psychologie unbehelligt. Anpassung wird zum Selbstzweck. Dabei sollte doch der Blick ins Geschichtsbuch zeigen, welche Gefahren bindungsloses Anpassen birgt, und wie notwendig es zuweilen ist, Anpassung an gesellschaftliche Praktiken zu verweigern und Widerstand zu leisten.
Hinter dieser Forderung nach bedingungsloser Anpassung scheint die Annahme zu stehen, dass „normal“ und gesund zu sein, identische Zustände sind. Gemäß dieser Vorstellung befinden sich ganz nach der Gaußschen Normalverteilung die große Mehrheit der Menschen in der Mitte. Normal und damit gesund ist, was die Mehrheit ist. Wenige Menschen weichen von dieser Norm ab. Je höher die Abweichung von der Mitte, desto höher der Krankheitsgrad und desto weniger Menschen sind betroffen. Auch an dieser Vorstellung wird in der Broschüre mehrfach Kritik geäußert. Psychische Krankheiten seien stärker verbreitet als häufig angenommen. Ein Viertel der Männer und ein Drittel der Frauen gelten als vollausgeprägt psychisch krank. Psychische Krankheiten seien also nicht als Ausnahme zu betrachten. Bedenkt man in diesem Zusammenhang, dass „nur noch der als gesund gelten darf, der auch im größten Elend noch funktioniert“ (S.23), wird bedingungsloses Anpassen zum Phänomen, dessen Erklärung Aufgabe einer kritischen Psychologie wäre. Denn „Leiden ist nicht an sich eine Krankheit“ (S. 49) und Normalität nicht automatisch gesund.
Auch die Rolle der Pharmaindustrie wird kritisch erwähnt. So seien 90 Prozent aller wissenschaftlichen Studien, die im Bereich der Medikamentenforschung veröffentlicht werden, von der Pharmaindustrie finanziert. Aber nicht nur zu den WissenschaftlerInnen, auch zu praktizierenden ÄrztInnen unterhalte die Pharmaindustrie gute Kontakte. So hätten beispielweise zwei Drittel der deutschen ÄrztInnen mehrmals die Woche Kontakt zu PharmavertreterInnen, von denen sie zuweilen auch finanzielle Zuwendungen erhalten. Auch die ÄrztInnen, die am Handbuch für Psychiater arbeiten, erhalten Gelder von der Pharmaindustrie. Dieses Handbuch dient weltweit zur Orientierung bei der Diagnose psychischer Krankheiten. Wenn man bedenkt, dass mit neuen Krankheiten für die Pharmaindustrie ganze Märkte entstehen, lässt sich vermuten, mit welchem Interesse diese Einfluss auf das Handbuch nimmt.
Bildung gegen Armut?
Auch die Debatte um das Bildungssystem stützt sich zum Teil auf Legitimationsstrategien aus der Psychologie. Denn auch das Versagen der Bildungsinstitutionen wird zu Krankheiten einzelner „Problemkinder“ umdefiniert. Wer nicht mithalten kann, den schickt man zum Arzt. Dort werden dann ADHS, Rechenschwäche oder Legasthenie diagnostiziert. Damit wird die vermeintliche Unfähigkeit der betroffenen Kinder attestiert und die Kritik an einem Bildungskonzept, in dem Gleichschritt und Selektionsgedanken den Unterricht bestimmen, scheinbar überflüssig.
Die Menge an Psychopharmaka, die an Kinder verschrieben werden, nimmt zu. Dabei sind viele dieser Medikamente noch nicht auf ihre Langzeitwirkungen hin untersucht. Bei einigen ist dennoch bekannt, dass sie schwerwiegende Nebenwirkungen haben können, die von Depression über Wachstumsstörungen bis zu Herzrhythmusstörungen reichen.
In den Beiträgen, die eine detailliertere Kritik am Bildungswesen liefern, taucht schnell der Begriff der „Anpassung“ wieder auf. Das auf Kompetenzen ausgerichtete Bildungssystem (oder besser: das dahinterstehende Kompetenzkonzept der OECD) stelle das Erlernen des methodischen Umgangs mit Inhalten in den Fokus und vernachlässige die tatsächliche inhaltliche Auseinandersetzung. „Kompetenzorientierung zielt nicht auf Selbstständigkeit, sondern auf Anpassung“ (S. 36), denn nur bei einer gemeinsamen kritischen Auseinandersetzung mit Inhalten ließen sich kritisches Urteilvermögen und moralisches Bewusstsein bilden.
Zudem sei auch das Bildungssystem Teil des Reproduktionsapparates der bestehenden sozialen Verhältnisse. Denn im selektierenden Unterricht bleiben Kinder aus ohnehin schon benachteiligten Schichten auch weiter in der gesellschaftlichen Rolle des Schwachen. Denn der Leistungsbegriff, der hinter der Aussiebung steht, ist ergebnisorientiert. Kinder aus einem akademischen Haushalt müssen in der Regel weniger Leistung erbringen, um das gleiche Ergebnis abzuliefern, da sie auf einem höheren Niveau starten als Kinder aus der Arbeiterklasse. So müssen sie beispielsweise nicht erst ihnen ungewohnte Ausdrucks- und Verhaltensweisen (Habitus) erlernen, wenn sie Schule oder Universität betreten. Dazu kommen klassistische Vorurteile, die sich beispielsweise darin äußern, dass Kinder aus unteren Schichten selbst bei gleichem Ergebnis schlechter bewertet werden.
Dass das Bildungssystem dazu beiträgt, Klassenunterschiede zu reproduzieren, bedeutet jedoch nicht, dass man über eine Bildungsreform in eine klassenlose Gesellschaft gelangen kann. Im Gegenteil: Mit dem Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik mit der Agenda 2010 wird die angestrebte Chancengleichheit in der Bildung umfunktioniert zur Legitimation von Armut. Chancengleichheit soll Umverteilung ersetzen. Denn wer seine Chance nicht nutzt, darf sich dann auch nicht beschweren.
Auch hier wird die gesellschaftliche Ebene ausgeblendet. Verlässt man nämlich die individuelle Ebene, wird deutlich, dass auch Chancengleichheit in der Bildung die soziale Frage nicht lösen wird. Denn die Klassenstruktur unserer Gesellschaft ergibt sich eben nicht aus der Struktur unseres Bildungswesens. Umgekehrt kommt man der Sache schon näher. Chancengleichheit in der Bildung ändert nichts daran, dass es unterschiedliche Einkommensklassen gibt, denen Benachteiligung ganzer Gruppen von Menschen immanent ist. Chancengleichheit in der Bildung hebt die Klassenstruktur nicht auf, sie erhöht allein das Bildungsniveau, mit dem um die guten Arbeitsplätze konkurriert wird. Und selbst wenn Bildung es schafft, zu höherer sozialer Mobilität zwischen den Klassen beizutragen, heißt das doch nichts anderes, als dass es noch immer Klassen gibt.
Hier greift laut der Broschüre das nächste Legitimationsinstrument: Intelligenz. Denn bei formaler Chancengleichheit können sich Unterschiede, die sich in sozialen Privilegien beziehungsweise Benachteiligungen niederschlagen, schließlich allein durch etwas legitimieren, das im Individuum liegt. Wer keinen Erfolg hat, ist eben faul oder dumm. Dabei zeigt gerade die Geschichte der Intelligenzforschung sehr deutlich, dass Forschung nie im leeren Raum stattfindet. Intelligenzforschung war von Anfang an (und ist es in anderer Form auch heute noch) eng verknüpft mit sozialdarwinistischem Gedankengut und Eugenik. Charles Spearman beispielsweise, der Begründer des IQ-Tests, forderte, Wahl- und Fortpflanzungsrechte vom IQ abhängig zu machen. So wollte er das Ausweiten des „angeborenen Schwachsinns“ eindämmen. Forschung ist niemals frei von ideologischen und politischen Annahmen und damit niemals im strengen Sinne objektiv. Auch der Intelligenzbegriff wurde in einer bestimmten Gesellschaftsform entwickelt. Mit dem Ergebnis: Intelligent ist, wer verwertbar ist.
Letztlich läuft die Kritik, die in dieser Broschüre geäußert wird, auf eine Erkenntnis hinaus: Solange es Armut gibt, wird die Wissenschaft dazu beitragen, sie zu rechtfertigen. Erst in einer freien Gesellschaft, in einer Gesellschaft ohne Klassen, kann die Wissenschaft im Dienste aller Menschen stehen. Dass wir ein Problem haben und dass dieses Problem Kapitalismus heißt, das machen die AutorInnen Beitrag für Beitrag deutlich. Wer jedoch nach Ansätzen sucht, wie mit ihm gebrochen werden kann, wird von der Broschüre enttäuscht. Außer der Forderung nach dem Einführen von ^Dachzeichen^ als Warnzeichen für problematische Wörter ist diesbezüglich leider wenig zu finden. Ob wir die Bourgeoisie die herrschende, die obere oder die ^obere^ Klasse nennen, ändert jedoch nichts daran, dass sie die Klasse ist, die über die Produktionsmittel dieser Gesellschaft verfügt. Dadurch geraten alle Menschen, die an diesem Besitz nicht teilhaben, in eine Abhängigkeit vom Kapital: Um mit der Gesellschaft zu leben, müssen sie sich von der Bourgeoisie verwerten lassen. Kritik am Kapitalismus liest sich in dieser Broschüre reichlich, die Forderung Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen, ihn also zu überwinden, leider kein einziges Mal.
Naturalisierung und Individualisierung. Beiträge der Wissenschaft zur Legitimation von Armut und Ausgrenzung.
BdWi-Verlag, Marburg.
ISBN: 973-3-939684-20-2.
72 Seiten. 8,00 Euro.