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Im Rückspiegel: Nürnberg

Buchautor_innen
Kurt Pätzold
Buchtitel
Im Rückspiegel: Nürnberg
Buchuntertitel
Der Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher 1945/46

Pätzold stellt Vorbereitung, Verlauf und Nachgeschichte des Nürnberger Prozesses übersichtlich dar - und achtet dabei auf die inzwischen fast vergessenen Hintermänner aus Wirtschaft und Gesellschaft.

Erinnerung an den Nürnberger Prozess vor zehn Jahren. Sondersendung in ARTE am 23.11.1995: Edgar Faure, der als Mitglied der französischen Equipe ebenfalls am Prozess beteiligt gewesen war, äußerte im Rückblick: Der Prozess sei ein Geschenk für die Deutschen gewesen, "durch den von außen erzwungenen Prozess vollzog sich ein Ritual der Reinigung, des Opfers, der Versöhnung". Schön wäre es gewesen. Von all dem trat das Wenigste ein. Vielmehr wurde mehrheitlich geschlossen: Die waren es, also ich nicht. Hat das Gericht es nicht endgültig festgestellt?

Der beginnende Kalte Krieg und die verfehlte Politik der "Säuberung über den Fragebogen" und der "Spruchkammern" hemmten eine Entwicklung der Selbstbesinnung, wo sie etwa einen Ansatz gefunden haben sollte. Dem Unvollendeten des Nürnberger Prozesses geht Kurt Pätzold in seinem schmalen Buch nach. Die ersten Kapitel waren in "Junge Welt" schon vorabgedruckt gewesen. Im Anhang finden sich wichtige Dokumente zur Vorbereitung des Prozesses sowie eine ausführliche Datenliste.

Pätzold nimmt Anklagepunkt 1 - Vorbereitung eines Angriffskrieges - zum Anlass, um energisch gegen die seit ein paar Jahren verbreiteten Phantasien vorzugehen, die UdSSR hätte ausgerechnet für Sommer 1941 selbst einen Angriffskrieg vorbereitet und Hitler sei ihr in letzter Sekunde zuvorgekommen. Vor allem die Aussage des Generalstabsoffiziers Paulus, der die VI. Armee vor Stalingrad ins Verderben gestürzt hatte, bekannte, dass praktisch seit Beginn des Polenfeldzugs Pläne und Kriegsspiele für den Angriff auf Russland ausgearbeitet worden waren. 1946 hätte niemand den traurigen Mut aufgebracht, von Hitlers Verteidigungs-Strategie zu phantasieren. Gerade dieses Detail zeigt, wie oft an das einmal zu Tage Getretene erinnert werden muss: Selbst das Offensichtlichste wird interessengeleitet inzwischen wieder zugedeckt.

Hjalmar Schacht, heute fast vergessen, widmet Pätzold mit Recht ein ganzes Kapitel. Schacht, in der Weimarer Zeit als Reichsbankpräsident Sanierer der Reichsmark, hatte sich schon ab 1930 auf die Seite der Nazi-Bewegung geschlagen, hatte - als repräsentativer Mann des wirtschaftlichen Sachverstands - Hitler Unterstützung aus mächtigen Wirtschaftskreisen angeworben und mit seiner Variante der Wirtschaftsankurbelung über die MEFO-Wechsel am meisten dazu beigetragen, dass es bis 1938 zu Vollbeschäftigung kam - natürlich durch ein immer erfolgreiches Beschäftigungsprogramm: Aufrüstung! 1938 erkannte er, dass die bisherige Finanzierungsmethode über ungedeckte Schecks bzw. Notendruck vor allem aus Devisenmangel zur Katastrophe führen musste - und er sprang vorsichtig ab. Saß freilich noch - funktionslos - im Kabinett, lieh Widerstandskreisen unverbindlich ein vorsichtiges Ohr und es gelang ihm, nach dem 20. Juli unter komfortablen Umständen inhaftiert zu werden. Gerade er, der als Verursacher viel mehr Schuld auf sich geladen hatte als manch anderer auf der Angeklagtenbank, verließ nach den geltenden Prinzipien den Gerichtshof als freier Mann, veröffentlichte prompt für viel Geld in einer Illustrierten sein - selbstverständlich - immer schon nur ums Vaterland "an sich" besorgtes Leben und verbrachte noch viele Jahre als Wirtschaftsberater aufstrebender Länder, zum Beispiel Ägyptens, in ungestörtem Behagen.

Wieso es nicht zur Verhandlung gegen Krupp kam, der ursprünglich auf der Angeklagtenliste stand, erklärt Pätzold ebenfalls nach den einzelnen Etappen der Entwicklung. Der alte Krupp war wohl wirklich so verhandlungsunfähig, dass er dem Prozess nicht hätte folgen können. Sohn Alfried wurde in einem Nachfolgeprozess angeklagt, zu geringer Strafe verurteilt und von dieser wurde ihm per Begnadigung ein großer Teil geschenkt.

Wichtig für Pätzold auch die historisch einmalige Verurteilung ganzer Organisationen als "verbrecherisch", zum Beispiel der SS. Nicht als insgesamt verbrecherisch wurden verurteilt der Generalstab und das Reichskabinett.

Das letzte, weil Hitler gemäß der Taktik seiner Ein-Mann-Diktatur nur noch Einzelgespräche mit Ministern führte, das Gesamtkabinett aber in der Kriegszeit gar nicht mehr zusammenrief. Mit beißender Kritik verfolgt Paetzold die Ausredenpolitik der Angeklagten und ihrer Verteidiger. Gerade was das Programm des Völkermords an Juden und damals so genannten "Zigeunern" anging, hatte keiner etwas gewusst, auch Göring nicht, der bekanntlich die in der Villa am Wannsee versammelten Techniker der Vernichtung auf Staatssekretärs-Ebene erst zusammengerufen hatte. Pätzold versucht ironisch, sich einen Staat vorzustellen, der größte Verbrechen systematisch plant und betreibt, im bürokratischsten Staat der Welt, in dem aber - rätselhaft genug - sämtliche Meldungen und Berichte im letzten Augenblick einen Bogen machen um sämtliche Verantwortliche eben dieses Staates. Der Chor "Hitler war’s und zwar mutterseelenallein" wurde damals angestimmt und schwoll durch die Jahre hindurch immer weiter an.

Dass diese Ausrede nicht verfängt und nie wieder verfangen soll - dazu wurde der Prozess geführt.

"Im Rückspiegel" heißt Pätzolds Buch. Und in diesem entdeckt er das Unvermeidliche: Der Prozess sprach eine Warnung aus, an alle, die es nach Angriffskriegen gelüsten sollte: "Es wird euch gehen wie den Göring, Keitel und Jodl. Euch droht der Strang" (S. 153). Die Angesprochenen haben die Warnung in der Regel in den Wind geschlagen. Ihre Kriege waren definitionsgemäß immer solche der Verteidigung: Ob es gegen Vietnam ging oder gegen den Irak oder - mit von der BRD ausgehend - gegen Rest-Jugoslawien: Da ging es laut Schröder und Fischer gerade darum, ein neues Nürnberg in Den Haag durchzusetzen. Aufgenommen wurde die Drohung allerdings von den Kriegsgegnern - und es lässt sich ohne Übertreibung behaupten, dass zumindest die ersten beiden Russel-Tribunale gegen den Vietnamkrieg sich würdiger in die Tradition Nürnbergs einreihen als die heute gefeierten Gerichte in Den Haag und in Bagdad.

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Die Rezension erschien zuerst im November 2006 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, ps, 02/2011)

Kurt Pätzold 2006:
Im Rückspiegel: Nürnberg. Der Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher 1945/46.
PapyRossa Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-89438-355-8.
254 Seiten. 16,90 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Im Rückspiegel: Nürnberg. Erschienen in: . URL: https://kritisch-lesen.de/s/uXR2w. Abgerufen am: 06. 10. 2024 16:29.

Zur Rezension
Rezensiert von
Fritz Güde
Veröffentlicht am
01. November 2006
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Schlagwörter
Zum Buch
Kurt Pätzold 2006:
Im Rückspiegel: Nürnberg. Der Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher 1945/46.
PapyRossa Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-89438-355-8.
254 Seiten. 16,90 Euro.