Hermstories
- Buchautor_innen
- Elisa Barth, Ben Böttger, Dan Christian Ghattas, Ina Schneider (Hg.)
- Buchtitel
- Inter
- Buchuntertitel
- Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen in der Welt der zwei Geschlechter
Gab es bisher fast nur Bücher über Inters* im deutschsprachigen Raum, reden mit dieser Publikation Inters* nun mit, und zwar jenseits des Status als „Betroffene“.
„Es gibt intergeschlechtliche Menschen“ (S. 7). Dieser allererste Satz in der neuen Veröffentlichung des NoNo Verlags zwingt eine Realität in die Welt, die in großen Teilen bis heute unbeirrt und geradezu stoisch daran festhält, dass es nur und ausschließlich Männer und Frauen als geschlechtliche Existenzweisen gäbe und geben muss. Vermutlich scheitern alle Menschen an bestimmten Punkten an den rigiden Normen der Zweigeschlechterwelt, aber bei Inters* ist das Scheitern fast schon vorprogrammiert. Die insgesamt 15 Beiträge des Sammelbandes verdeutlichen den langen Weg, den es braucht, um zu verstehen, dass dies kein individuelles Scheitern ist, sondern dass es diese Gesellschaft selbst ist, die an der Realität scheitert. Die Vielfalt menschlicher Körper, die im Zweigeschlechtersystem nicht aufgehen (können), scheint bei vielen „Männern“ und „Frauen“ eine Identitätskrise um die nächste zu produzieren, die mit verdeckter bis offener Aggression denjenigen gegenüber abgewehrt wird, die von der Norm „zu weit“ entfernt sind.
Emanzipationsprozesse
Was rückblickend so klar erscheint und auch in diesem Text schnell aufgeschrieben und scheinbar analytisch klar ist, waren für die Inters*, die in „Inter – Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen in der Welt der zwei Geschlechter“ ihre persönlichen Geschichten, subjektiven Eindrücke und Gedanken teilen, oft jahrzehntelange Prozesse, die überaus schmerzhaft waren und teilweise immer noch schmerzhaft sind. Es sind Geschichten von Menschen und ihren Körpern, die pathologisiert, registriert, beobachtet, getestet, vermessen, kontrolliert, analysiert, medikalisiert, psychiatrisiert, operiert, kastriert, zurechtgeschnitten, verstümmelt und gequält wurden. Es sind Erfahrungen mit Blickregimen der „Normalen“ auf „abnorm“ konstruierte Körper und Verinnerlichungen dieses Blicks, aber auch Kämpfe gegen diesen Blick, gegen „die Brille der anderen“ (S. 47) und der Refokussierung des unverstellten Blicks auf sich selbst. Das immer wieder schmerzhafte Aneignen des Erlebten wird von vielen der Autor_innen als Heilungs- und Empowermentprozess beschrieben. Prozesse, wie sie ihren Körper für sich entdecken, anfangen, ihn als Teil von sich zu begreifen, sich um ihn zu sorgen, liebevoll mit ihm zu sein und sich dafür einzusetzen, dass auch andere Menschen liebevoll mit ihm umgehen. Parallel dazu ging und geht es um das Finden von Worten und einer Sprache zur Beschreibung des Erlebten, um die Ablehnung („Pseudohermaphrodit“), Neubesetzung („Zwitter“) und Erfindung („Inter-sex-yness“) von Begriffen. Der Widerstand gegen die medizinischen Eingriffe und das Weiterleben mit den Folgen, die Kämpfe um Wahrnehmung und Anerkennung, um Ruhe und sich nicht mehr erklären und rechtfertigen müssen, um Wiedergutmachung und Selbstbestimmung wird in vielen Biografien nicht nur als enorm stärkend beschrieben, sondern auch als erstmaliges Entstehen eines kohärenten „Ichs“ – vom „Monster“ zum Menschen, vom „Fall“ zum Subjekt, von juristischer Nichtexistenz zum Rechtssubjekt, von Gefühlen der Taubheit zu einem Spüren, von Misstrauen zu Vertrauen, von Scham zu Selbstliebe, von Ohnmacht zu Handlungsmacht und Selbstwirksamkeit. Natasha Jiménez aus Costa Rica beschreibt diesen Emanzipationsprozess:
„Inter* zu sein bedeutete einen Mordversuch durch meinen alkoholabhängigen Vater, […] es bedeutete Ablehnung durch die Großeltern, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins, […] es bedeutete, meine Geburtstage nicht feiern zu können, wiederholt sexueller Gewalt und Vergewaltigungen ausgesetzt zu sein, es bedeutete, Spott, Aggressionen und endlosen Diskriminierungen ausgeliefert zu sein, […] bedeutete inter* zu sein auch, dass ich aus allen meinen Erlebnissen gelernt habe, dass ich mich durch jede Erfahrung mehr gestärkt fühlte, dass ich meine Potentiale erkennen konnte“ (S. 54).
„Opferbiografien überwinden“
Fast alle der Autor_innen haben ihren Platz in der Welt und Umgangsweisen mit den erlittenen Traumata gefunden, auch wenn der Schmerz in den Reflexionen spürbar ist. Die in Australien lebende Phoebe Hart zeichnet ihre „intergeschlechtliche Reise von Scham über Stigmatisierung und Geheimhaltung bis hin zu Selbstakzeptanz“ (S. 79) in ihrem Film „Orchids: My Intersex Adventure“ nach und „zeichnet ein Bild von Überleben und Mut und korrigiert gesellschaftliche und historische Perspektiven auf den intergeschlechtlichen Körper“ (S. 84). Natasha Jiménez, von der zwei Gemälde im Buch abgedruckt sind, bedient sich der Malerei und des Gesangs, „um mein Leiden und meine Schmerzen zu kanalisieren“ (S. 52). Von der_m in Deutschland lebenden Ins A Kromminga sind 9 Zeichnungen reproduziert. Von ihr_m selbst als „Herm Kunst“ bezeichnet, bezieht sich Kromminga mit Ironie und Humor auf Bildmaterial aus der Intersex-Forschung und -Behandlungspraxis, löst diese aus ihrem Kontext und verdeutlicht dadurch die „Brutalität und Perversion dieses pathologisierenden, kalten und inter*feindlichen Blickes“ (S. 102). Von der immer wieder auftauchenden Monster-Figur, nach unten gewendeten Blicken, Trauer und Einsamkeit in den Bildern findet sich auch sehr viel Wut und Zynismus bei dem Kind, das als „Dankeschön“ für die Behandlungen Bomben auf ein Krankenhaus wirft. Del LaGrace Volcano trägt mit seinem_ihrem Fotoprojekt „Visibly Intersex“ zur Sichtbarmachung intergeschlechtlicher Menschen bei, sieben der Fotos sind im Buch abgedruckt. Eins davon ist von Hiker Chiu aus Taiwan, die erste geoutete Inter*-Person in Asien, die auch mit einem eigenen Beitrag im Band vertreten ist. Berührend beschreibt Hiker, wie er_sie die Free Hugs Campaign mit Inter*-Anliegen zu einer Aktion kombiniert hat: „Global Free Hugs with Intersex Movement“. Hiker erzählt, wie er_sie durch die „vielen warmherzigen und heilenden Umarmungen“ (S. 65) von anderen Inters* nicht nur sich selbst lieben lernte, sondern auch das Bedürfnis erwuchs, die „Liebe und Wärme an andere weiterzugeben“ (S. 65).
Hikers Geschichte steht exemplarisch für die herausragende Bedeutung für Inters*, Selbsthilfegruppen, Inter*-Organisationen und Verbündete zu haben. Von fast allen werden Gefühle der Einsamkeit, Isolation, Scham, sich „falsch“ fühlen und großen Ängsten vor anderen Menschen beschrieben – statt Liebe gab’s „Spritzen und Pillen“ (S. 41) –, denen mit unterstützenden Netzwerken, Austausch und dem Gefühl, nicht mehr alleine zu sein, effektiv begegnet wurde.
Von der History über die Herstory zur „Hermstory“
So oder so scheint die Zeit gekommen zu sein, dass die „Fälle“ nach jahrzehntelanger medizinischer Folter antworten, den Präventionsgedanken der Medizin (operieren, um Leid zu vermeiden) mit der Wirklichkeit konfrontieren (die Operationen verursachen Leid). Dies beinhaltet auch das Erforschen und Aufschreiben der eigenen Geschichte, die der Freak-Show, die die Medizin mit ihren Klassifikationen erschaffen hat, positive Bilder entgegenstellt. Ist Herculine Barbin historisch der_die bekannteste Inter* durch einen Text von Michel Foucault geworden, hat Kromminga im Rahmen der Hermstory weitere 20 Inters* ausfindig machen können, die historisch belegt sind.
Ein historischer Abriss zum Umgang mit Intergeschlechtlichkeit findet sich bei der in Berlin ansässigen Ulrike Klöppel, eine Verbündete der Inter*-Bewegung seit fast 20 Jahren. Von der Medikalisierung des Geschlechts über die enge Allianz medizinischer und juristischer Fachdiskussionen, der Entwicklung der Theorie der frühkindlichen sozialen Prägung, dem Behandlungsvorgehen seit 1950 in den USA, der Ausdifferenzierung in „gender role“ und „gender identity“ bis hin zu der Verschiebung vom Behandlungsziel der Fortpflanzung hin zu psychischer Stabilität und sozialer Einbindung zeichnet Klöppel kenntnisreich die relevanten gesellschaftlichen Entwicklungen primär in den USA und Deutschland nach. Sie führt aus, dass es bereits 1900 zu Zeiten des Deutschen Reichs den Vorschlag eines Juristen gab, das Geschlecht eines „hermaphroditischen“ Neugeborenen mit „Zwitter“ anzugeben, da das Personenstandsgesetz nicht vorschrieb, was als gültiger Geschlechtseintrag zählen durfte. Eine Diskussion, die brandaktuell ist und die jüngsten Diskussionen und Änderungen des Personenstandsgesetzes in Deutschland berührt. Klöppel stellt auch eine der zentralen Fragen zum Thema Intergeschlechtlichkeit: „Wie kann es sein, dass die medizinische Sichtweise politisch mehr Gewicht hat als die Kritik von Inter*-Organisationen?“ (S. 87)
Positionierungsfragen
Aber was vertreten denn Inters* politisch? Der sofortige Stopp kosmetischer Genitalverstümmelungen an Kindern ist Konsens, in den Beiträgen werden aber auch verschiedene Spannungsfelder deutlich. Soll mit Mediziner_innen zusammen gearbeitet werden oder ohne beziehungsweise gegen sie? Wie weit reichen die Allianzen mit LSBTQ-Bewegungen, die Inter*-Agenden in der Vergangenheit gerne auch mal geschluckt haben? Mehrere Texte berichten von Coming Out-Prozessen als Inter*, die mit verinnerlichter Trans*-Feindlichkeit einhergingen: „Für mich war es unheimlich wichtig, als Frau akzeptiert zu werden (damals eine Voraussetzung dafür, als Lesbe akzeptiert zu werden) und eine kurze Zeit lang stand ich Trans*-Menschen ziemlich feindlich gegenüber. Meiner Erfahrung nach geht es vielen Inters* so“ (S. 74). Wobei das Verhältnis von Inter* und Trans* ein kompliziertes ist und viele Facetten beinhaltet. Auch verschiedene Betroffenheiten können konflikthaft sein: schon kurz nach der Geburt operiert, während der Pubertät, im Erwachsenenalter oder gar nicht? Wer ist authentisch genug und darf sich „Inter*“ nennen? Und ist „Inter*“ dann eine Identität oder nicht?
Der sehr lesenswerte Dialog zwischen Ulrike Klöppel und Del LaGrace Volcano geht auf viele dieser Fragen und Konflikte ein und ist auf andere Herrschaftsverhältnisse durchaus übertragbar. Klöppel hat ein „kritisches Verständnis von Identitätspolitik“ (S. 75) entwickelt und stellt heraus, dass „die queer_feministischen und die Inter*-Bewegungen das Ziel [teilen], körperliche und psychologische Geschlechternormen aufzulösen und deren gesellschaftliche, medizinische und juristische Durchsetzung abzuschaffen“ (S. 74). Weitere inhaltliche Schnittstellen könnten in dieser Hinsicht Verbindungen zur Behindertenbewegung, Antipsychiatriebewegung, Disability Studies und Medizinkritik sein. Was den Projektionsgehalt auf Körper angeht, ergeben sich ebenfalls Bezugspunkte zu Postkolonialen Analysen. Nicht nur, aber auch diese Publikation macht deutlich, dass Genitalverstümmelung nichts ist, was rassistischen Projektionen entspringend im hintersten Winkel der Welt passiert, sondern vor der eigenen Haustür geschieht, im Herzen der Bestie. Und auch Klassenaspekte schimmern immer wieder mal implizit durch: zerstörte Lebensläufe, Uni-Abbrüche, Berufsverbote, Ausschlüsse vom Arbeitsmarkt oder Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Traumatisierungen tragen zu prekären Lebenslagen von Inters* bei.
Lob und Kritik
An dem Sammelband arbeitete ein Team von vier Herausgeber_innen anderthalb Jahre lang. Einige davon sind selbst intergeschlechtlich und die Beiträge stammen fast ausschließlich von Inters*. Es wird angenehm wenig medizinisches Wissen reproduziert und es kommen keine Mediziner_innen oder andere vermeintliche „Experten“ zu Wort. Umso verwunderlicher ist es, dass sich die Definition von Intergeschlechtlichkeit bereits auf der Umschlagseite am medizinischen Paradigma des Auseinanderfallens chromosomaler, hormonaler und/oder genitaler Geschlechtsmerkmalsgruppen orientiert. Das, was Inters* zu Inters* macht, sind Erlebnisse in zweigeschlechtlich organisierten Gesellschaften, also Erfahrungsdimensionen, die jenseits medizinischer Wissensproduktion liegen und auf die auch maßgeblich im Buch eingegangen wird. Das ist seine Stärke, zugleich auch seine Schwäche: Es mag für Leser_innen, die kein Wissen über biologische und medizinische Hintergründe und die verschiedenen Formen (chromosomal, gonadal, genital, hormonell) von Intergeschlechtlichkeit haben, verwirrend sein, dass die Operationen nicht unbedingt im Kleinkindalter stattfanden und auch nicht immer die Genitalien im Fokus standen.
Ebenfalls problematisch ist auch in diesem Buch die immer wieder reproduzierte Rede der „uneindeutigen Genitalien“. Was soll das sein? Jedes Genital ist eindeutig! „Uneindeutige Genitalien“ kann es nur in einer zweigeschlechtlich organisierten Gesellschaft geben. Wenn von „Uneindeutigkeit“ die Rede ist, sollte der Begriff „Zweigeschlechtlichkeit“ nicht weit sein…
Viel Lob verdient das Unterfangen, aus insgesamt neun Ländern autobiografische Berichte zusammengetragen zu haben. Bei einigen Beiträgen wären jedoch mehr Hintergründe zu den einzelnen Ländern wünschenswert gewesen, zudem stellt sich beim Lesen gelegentlich die Frage, in welchem Land die Autor_innen ihre Erfahrungen gemacht haben. Sally Gross‘ Artikel, der südafrikanische Verhältnisse bezogen auf Intergeschlechtlichkeit erklärt, ist eher die Ausnahme. Auf die aktuelle Situation in Deutschland geht Dan Christian Ghattas ein. Hier wäre die Information wünschenswert gewesen, dass nach § 59 Abs. 2 PStG eine Geburtsurkunde ohne Geschlechtseintrag beantragt werden kann, und zwar von allen Eltern, unabhängig davon, ob ihr Kind intergeschlechtlich ist oder nicht.
Was ebenso Lob verdient ist die Vorstellung der wichtigen Inter*-Organisationen im deutschsprachigen Raum und das Glossar am Ende des Buches. Bei den Begriffen „Herm“ und „Zwitter“ wird ausgeführt, dass Nicht-Inters* diese Begriffe „nicht verwenden“ sollten. Meint das für sich selbst oder sie sollten sie generell gar nicht in den Mund nehmen?
Die aufgeworfenen Fragen und Kritikpunkte sollen jedoch in keiner Weise die herausragende Bedeutung dieser Publikation schmälern, die bisweilen auch sehr unterhaltsam und lustig ist. Beispielsweise Belgin İnan, der_die als Kind mit einem Kugelschreiber in Atlanten die Ländergrenzen einfach neu zieht und der_die später aus der Einsamkeit heraus und als Selbsthilfe anfängt, sich selbst Briefe von einem imaginären revolutionären Geliebten zu schreiben und dadurch ins Fadenkreuz der Sicherheitsbehörden gerät.
Ich danke allen, die zu diesem wunderschönen und wichtigen Buch beigetragen und den Mut gefunden haben, ihre Geschichten aufzuschreiben.
Inter. Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen in der Welt der zwei Geschlechter.
NoNo, Berlin.
ISBN: 978-3-942471-03-9.
124 Seiten. 14,90 Euro.