Grundrechte-Report 2009
- Buchautor_innen
- Till Müller-Heidelberg/ Ulrich Finckh u.a. (Hg.)
- Buchtitel
- Grundrechte-Report 2009
- Buchuntertitel
- Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland
Alle Jahre wieder - und niemand wird überrascht sein, im neuen Grundrechtereport viele Bekannte aus dem alten wiederzufinden.
Alle Jahre wieder - und niemand wird überrascht sein, im neuen Grundrechtereport viele Bekannte aus dem alten wiederzufinden. Wir greifen zum Vergleich auf den von 2006 zurück, um dem angeblich mildernden Lauf der Zeit etwas mehr Chancen zu lassen.
So darf Kamerad LIDL in keinem solchen Report mehr fehlen. 2006 war hingewiesen worden auf den ziemlich erfolgreichen Kampf der Firma gegen die Einrichtung von Betriebsräten. Seither ist mir persönlich nur ein Fall bekannt geworden, wo mit massiver Hilfe von ver.di ein Betriebsrat neu eingerichtet werden konnte. 2009 stoßen wir auf eine neue Methode, die Angestellten an der Vertretung ihrer Rechte zu hindern: Jetzt geht es um die allseitige Video-Überwachung am Arbeitsplatz. Durch die breite Berichterstattung darüber ist diese einzelne Firma gehörig unter Druck geraten. Aber jeder weiß, dass inzwischen Telekom, Bahn, Deutsche Bank mit anderen, aber entsprechenden Methoden ins Gerede gekommen sind – und sich anschicken, sich herauszureden mit allerlei Gerede über legitime Sicherheitsinteressen des Betriebs. In einem Bericht der Hanauer Zeitung ist von der zwangsweisen Aufspielung einer Bespitzelungs-Software die Rede (EnCase). Es besteht durchaus die Gefahr, dass aus angeprangertem Spitzelwesen gesetzlich gebilligtes wird, in den großen Firmen offenbar nicht immer ohne Kollaboration der Betriebsräte.
2006 verwies Jürgen Rose auf die schmutzige Menschenjagd der KSK am Hindukusch, die durch kaum ein Organ des Bundestags kontrollierbar ist. Ebenso wird im alten Report der Fall Al Masri melancholisch erwähnt. Im neuesten Report zeichnet der Oberstleutnant Rose die vor allem von Schäuble geförderte und geforderte Verschmelzung von militärischer und polizeilicher Staatsgewalt nach. Auch kein Mittel, dem Militär genauer auf die Finger zu schauen!
Ausführlich wie in jeder Jahresausgabe wird der Doppelrolle der verschiedenen Verfassungsschutzämter gedacht: Einerseits geben sie sich immer naiv und unschuldig als bloß "Meinende" aus, die eben ihre Ansichten über dies und das äußern; zum anderen sollen diese Aussagen für andere Behörden aber gleichsam biblischen Wahrheitscharakter annehmen dürfen.
Sönke Hilbrans schildert eher humoristisch den Fall eines Mannes, der diesesmal nicht in die Archive des Verfassungsschutzes geraten war, sondern die kaum durchschaubareren des polizeilichen Datennetzes INPOL. Nachdem er sich die Mühe gemacht hatte, über seine persönlichen Notierungen bei der Polizei zu forschen, stellte er fest, dass er dort als "Straftäter linksmotiviert" figurierte. Nach reiflicher Gewissenserforschung fiel ihm zwar ein, dass er 1999 anlässlich des Überfalls auf Jugoslawien NATO-Soldaten aufgefordert hatte, den Befehl zu verweigern. Zugleich aber auch, dass das Gericht ihn wie andere vom "Aufruf zur Desertion" freigesprochen hatte – wohl wegen des zu vermutenden Verstoßes gegen das Völkerrecht durch NATO, deutsche Regierung und Bundeswehrführung selbst. Auf Reklamation hin zog das Regierungspräsidum Bonn kleinlaut die Benennung "linksmotiviert" zurück. Welche Schlüsse lässt das auf tausende Fälle zu, die den Energieaufwand scheuen, ihren amtlichen Einschätzungen nachzugehen, vor allem, da anzunehmen ist, dass eine Löschung auf einem Datenträger keineswegs die aus dem gesamten obrigkeitlichen Gedächtnis bedeutet. Rechtsanwalt Udo Kauß hat von einem erfreulichen Fall zu berichten: Nachdem unser baden-württembergischer Verfassungsschutz die Grundlagen einer Einstufung nicht vorlegen konnte oder wollte, musste es die Behauptung mürrisch zurückziehen, Milli Görüs sei tendenziell verfassungsfeindlich. Wie wenig solche Entscheidungen bewirken, lässt sich daran ablesen, dass kaum ein staatstragendes Organ, daneben auch viele sich für links haltende, darauf verzichten, auf das Urteil des Verfassungsschutzes zu verweisen. Dafür hatte es 2007 die Jungdemokraten / Junge Linke erwischt. Der Verfassungsschutz schmeichelte ihnen grundlos, sie seien eine "linkextremistische Struktur". Das wurde auf Hinweis reuig zurückgenommen. Man schaut dem Taumeln eines Amtes im Gestrüpp der politischen Begriffe zu – gequält amüsiert. Nur – wer ist je auf die Idee gekommen, solche Unglückswürmer zu Schiedsrichtern zu erheben über demokratisch oder undemokratisch?
Breiteren Raum als 2006 nimmt einmal ein neuer Konkurrent in der Schar der Bedränger ein: die EU und ihre Behörden und Gerichte. Otto Ernst Kempen beschäftigt sich mit dem neuen Grundrecht auf "ungestörtes Sozialdumping". In noch nicht endgültigen Gerichtsentscheiden wurde entschieden, dass z.B. Schweden nicht erzwingen könne, dass etwa Letten nach den günstigeren schwedischen Tarifen bezahlt würden, sondern nach den schlechteren einheimischen. Würde das Schule machen, wären alle Bemühungen um Mindestlohn und Gleichbehandlung in einem Tarifgebiet hinfällig.
Die Entrechtung ganzer Arbeitergruppen zeichnet sich besonders auffällig ab in den Entscheidungen über die Rechte der Leiharbeiter, wo vor allem der Pseudo-Gewerkschaft – Christliche Gewerkschaft – Tarifrecht zugestanden wurde. Mit den bekannten Folgen.
Noch nicht erwähnt sind die erst später im Jahr 2008 erfolgten unverschämten Versuche, vor allem der AG Bahn, der Gewerkschaft der Lokomotivführer mit gerichtlichen Mitteln das Wasser abzugraben. Auf demselben Trip befinden sich einige Kommunen gerade, wenn sie Streikverbote gegen Erzieherinnen und Erzieher in den städtische KITAs durchzusetzen versuchen.
Schließlich befassen sich mehrere Artikel mit der Behandlung von Gefangenen und Asylbewerbern. Bernd Mesovic, tätig für PRO ASYL, erinnert aufs Neue an das jammervolle Gepäckaufbewahrungssystem in den Flüchtlingslagern. "Staatlich angeordnetes Verschimmeln-Lassen". Alles rümpft heute die Nase über die Flüchtlingsbehandlung in der Schweiz zwischen 1939 und 1945. Immerhin war dieses kleine Land damals relativ arm und eingeklemmt zwischen Starken. Man muss sagen, dass die reiche Bundesrepublik alles aufbietet, um den schweizer Stand zu überholen. Im ziemlich offen eingestandenen Willen, keinen "Anreiz zu schaffen", etwas offener ausgedrückt: Den Aufenthalt so ungemütlich bis abschreckend wie möglich zu machen.
In diesen Rahmen gehört auch der Bericht über die Inhaftnahme unbegleiteter Kinder auf dem Frankfurter Flughafen. (Ursula Schlung-Muntau). Nur beispielweise werden Schäubles vielfältige Gefälligkeits-Unternehmen behandelt zur Unterstützung mehr oder weniger menschenfeindlicher Regimes in der Umgegend, etwa der Türkei.
Mit Recht brandmarkt Berenice Böhlo das Verbot des kurdischen Senders Roj TV. Dass kurdisch-stämmige Personen hier verloren und verkauft wären, wenn sie sich für Informationen aus ihrem Herkunftsland an ZDF und ARD halten müssten, muss nicht erläutert werden. Das offen Parteiische in der gesamten bundesdeutschen Berichterstattung gegen "Terrorismus" hält ein Schäuble natürlich für ungetrübte Wahrheit. Deshalb nimmt er den Kurdinnen und Kurden noch die letzte Chance, mal etwas anderes über ihre Heimat zu erfahren, selbst wenn das Unvermeidlich genau so parteiisch sein sollte wie das Pflichtgeheul der vereinigten Öffentlichen und Privaten hierzulande.
Insgesamt ein mulmiges Vorgefühl für den Grundrechtereport 2010. Die Versuche, die schon praktizierte Unterdrückung von Demonstrationen in Baden-Württemberg und Bayern in Gesetzesform zu bringen, konnten im vorliegenden Band im Wesentlichen nur als staatliche Planung behandelt werden. Wer Baden-Baden, Kehl und Strasbourg erlebt hat, weiß, dass das offene Gesetz kaum noch Zutaten liefern kann.
Viel Unterdrückung – wenig Empörung. Wie kommt es dass alle Verschlechterungen von Jahr zu Jahr so viele so kalt lassen? Vielleicht daher, dass all diese Rechte und Freiheiten doch immer noch als bürgerlich im guten und schlechten Sinn angesehen werden. Im guten: das Bürgertum hat im neunzehnten Jahrhundert weitgehend die Freiheiten erkämpft, die es zum freien Verkehr und Handel untereinander brauchte. Zugleich wurde das "Recht am eingerichteten Gewerbebetrieb" in aller Unschuld den Freiheitsrechten – als solche des Eigentums verstanden – zugerechnet. Dass gerade dieses Recht den Insassen des Gewerbebetriebs zu tausend Einschränkungen gereichen sollte, wurde lange nicht wahrgenommen. Hier liegt das Problem einer neuen Bewusstmachung. Einer Fundierung auf den Interessen nicht so sehr des Menschen als Eigentümers, sondern der Menschen als Produzenten.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Informationsfreiheit an sich wird jedem zugestanden, soweit es sich auf das Recht beschränkt, Zeitungen zu lesen, Bücher zu Rate zu ziehen usw. Als solches ist es auch unverzichtbar. Wie steht es aber mit dem Recht der Beschäftigten, vor Verkauf des ganzen Betriebs oder Massenentlassungen rechtzeitig von den Plänen der Verkäufer zu erfahren. In fast allen Berichten, die auf stattweb.de veröffentlicht wurden, über die massivsten Veränderungen in Betrieben, musste hinzugefügt werden, dass die Hauptbetroffenen am allerletzten von ihrem Geschick im nächsten Monat erfahren. Meinungsfreiheit müsste demnach interpretiert werden nicht nur als Erfüllung einer individuellen Mitteilungsbegierde, auf die man zur Not auch verzichten könnte, sondern als Verlangen nach einer kollektiven Selbstvergewisserung, Daseinssicherung, Selbstprojektion. Im selben Augenblick würde der Kampf um Grundrechte das Exklusive verlieren, den Geruch einer Spezialität für Rechtsanwälte und Gemeinschaftskundelehrer.
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Die Rezension erschien zuerst im Juni 2009 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, ps, 01/2011)
Grundrechte-Report 2009. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M..
ISBN: 978-3-596-18373-9.
272 Seiten. 9,95 Euro.