Farbbeutel aus dem 3D-Drucker
- Buchautor_innen
- Paul Buckermann / Anne Koppenburger / Simon Schaupp (Hg.)
- Buchtitel
- Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen
- Buchuntertitel
- Emanzipatorische Perspektiven im technologischen Wandel
Warum neue Technologien keine Umstürze anzetteln werden, sie aber erleichtern können.
Seit einiger Zeit nutze ich den Schrittzähler meines Smartphones. Ehrlich gesagt verschafft es mir ein fast schon befriedigendes Gefühl, immer wieder darauf hingewiesen zu werden, dass ich heute noch weiter gelaufen, noch schneller von a nach b gekommen bin. In den Jubel über die zusätzliche Bewegung stimmt nun aber auch eine warnende Stimme mit ein. Denn seit einiger Zeit warte ich voller Besorgnis auf den Tag, an dem ich hinter meinem gesetzten Durchschnitt an Schritten zurückbleibe und mich die App darauf hinweist, dass ich mein Ziel noch nicht erreicht habe. Gerade die Soziologie hat mich längst darauf hingewiesen, dass Techniken wie Lifelogging und Self-Tracking dazu genutzt werden, immer mehr Daten über mich abzugreifen, um ein Kund_innenprofil anzufertigen – und ich steuere fröhlich meine Daten bei.
Stetige Hinweise aus Wissenschaft und Feuilleton erneuern die Kenntnis des Debakels. Und spätestens seit „The Circle“ von Dave Eggers ist die Message auch im Mainstream angekommen. Aber soll das wirklich alles sein? Steckt außer den (dringend!) zu kritisierenden, marktförmigen Aspekten der Technologie nicht auch die Möglichkeit zur Emanzipation in ihr? Der Sammelband „Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen – Emanzipatorische Perspektiven im technologischen Wandel“ macht es sich zur Aufgabe, das Verhältnis von emanzipatorischen Politiken und technologischem Wandel genauer auszuloten. Dabei leisten die Herausgeber_innen Paul Buckermann, Anne Koppenburger und Simon Schaupp eine beachtliche Syntheseleistung, die in der Diskussion bislang gefehlt hat. Aber was ist überhaupt das Problem?
Auf dem Terrain der Kybernetik
Das von den Herausgeber_innen bearbeitete Problem ist schnell skizziert: Die Widersprüche technologischer Veränderung werden nur selten eingehend thematisiert. Die Diskussion lässt sich stattdessen anhand von zwei konträren Positionen beschreiben. Auf der einen Seite stehen diejenigen, welche die Technologie mit offenen Armen empfangen und sie euphorisch begrüßen. Auf der anderen Seite stehen konsequenterweise diejenigen, welche prinzipiell technologiekritisch eingestellt sind und technologische Veränderung strikt ablehnen. Zwischen diesen beiden Polen gibt es – wie es in politischen Diskussionen üblich ist – noch andere, teilweise marginalisierte und unsichtbare Standpunkte. Letztere weisen den Dualismus affirmativer oder ablehnender Haltung zur Technik als Vereinfachung aus. Hierzu bedarf es aber zunächst einer erweiterten und sensibilisierten Optik für die Grautöne und die Zwischenräume.
Ganz im Sinne einer Geländevermessung der Technologie als Feld gesellschaftlicher Machtkämpfe entwickeln Buckermann und Koppenburger in ihrem Beitrag einen Vorschlag zur Kartographierung des Technologieverständnisses von emanzipatorischen Politiken. So sollen die oben unbestimmt erwähnten Positionen sichtbar gemacht werden. Anhand der Positionen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des politischen Akzelerationismus – eine neuere politische Bewegung, welche den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln und Beschleunigung überwinden will – und den Ausführungen des politischen Kollektivs Tiqqun fächern sie das Feld systematisch und anschaulich auf.
Der Band ermöglicht zum einen ein vertieftes Verständnis der Strukturen technologischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Zum anderen bringt er dringend benötigte Ordnung in das Chaos aktueller Debatten rund um Technologie und ihre politischen und sozialen Auswirkungen. Deutlich wird, dass „emanzipatorische Politiken immer auch anhand ihrer Technologieverständnisse einzuordnen“ (S. 46) sind. Erst auf der Grundlage einer Analyse der Funktion von Technik im gesellschaftlich-politischen Kontext – so die Autor_innen – können sich politisch Aktive gruppenübergreifend vernetzen und handlungsfähig organisieren. Technik, so ja auch das Credo des Bandes, soll für emanzipatorische Politiken nutzbar gemacht werden.
Ganz anders als die Kartographierung geht der Text von Schaupp vor. Ihm gelingt es, eine historisch-systematische Rekonstruktion des „kybernetischen Kapitalismus“ (S. 51) durchzuführen, die zum einen den politischen Charakter der Kybernetik offenlegt. Bei der Kybernetik handelt es sich um Rückkopplungssysteme, die zur Stabilisierung und Steuerung komplexer technischer Anlagen zum Einsatz kommt. Ziel des Ganzen: Die stete Optimierung aller Abläufe bis sich der gewünschte Gleichgewichtszustand zwischen allen Teilsystemen eingependelt hat. Ein Prinzip, das der kybernetische Kapitalismus auf soziale Verhältnisse überträgt: Systemoptimierung als Gesellschaftsmodell. Kein Wunder, dass Schaupp darauf besteht, dass es sich bei der Kybernetik um ein stets politisches Steuerungsprogramm handelt.
Zum anderen kann eine solche Rekonstruktion auch wichtige Hinweise darauf geben, wie kybernetisches Denken emanzipativ nutzbar gemacht werden kann. Schaupp trifft den richtigen Ton, wenn er den Technikoptimismus einbremst: „Technologien selbst werden keine Revolutionen machen, aber sie können diese unterstützen“ (S. 70). Hierzu bedarf es aber – und auch hier liegt Schaupp richtig – der Rekonstruktion bereits vorhandener Ideen in der Geschichte, wie den im Text erwähnten kybernetischen Versuchen der Wirtschaftssteuerung in Chile und der Sowjetunion. Denn „der Blick in die Vergangenheit – also die historische Rekonstruktion kybernetischer Utopien – kann dabei den Blick für mögliche Zukünfte schärfen“ (S. 70).
Bereits diese beiden Texte sind Grund genug, das Buch einer jeden interessierten Person zu empfehlen, die sich mit der Thematik aus kritisch-emanzipatorischer Perspektive auseinandersetzen möchte. Freilich liefert der Band noch mehr Material zur Diskussion. Die Texte von Nick Srnicek und Matteo Pasquinelli sind bei genauerer Betrachtung aber eher ein nettes Add-On zum Band als ein essentieller Beitrag zur Diskussion. Im Falle von Srnicek – einem bekannten Vertreter des Akzelerationismus – wurde der Text bereits an anderer Stelle veröffentlicht, bei Pasquinelli ist ein enormes Vorwissen gefordert. Der Essay von Philipp Frey hingegen offenbart seine Stärken, wenn er als erste Person im Band die theoretischen Überlegungen explizit und vehement mit Konsequenzen für die politische Praxis enden lässt. So liest sich sein Beitrag um einiges aktionistischer und regt zur eigenen Aktion an:
„Die Frage wie [...] eine humanere, demokratischere und ökologisch vernünftigere Gesellschaft zukünftig aussehen könnte, kann [...] als Maß für die politische Praxis und nicht zuletzt als Inspiration und Motivation dienen“ (S. 70).
Auch wenn der Teil zu den theoretischen Grundlagen durchweg gelungen ist, sind es die Einzelanalysen, die einzig und allein zeigen können, ob die emanzipativen Potenziale technologischer Innovationen bereits in der Praxis angekommen sind und bis zu welchem Grad sie sich bereits für politische Zwecke angeeignet werden konnten.
Selbstermächtigung aus dem 3D-Drucker
Zwei der sieben Beiträge sind besonders aufschlussreich für die Debatte. Der Anspruch des Sammelbandes, die Graustufen von Einstellungen zu und Aneignung von Technologie aufzuzeigen, zeigt sich nirgendwo deutlicher. Zuerst ist da der Beitrag von Dana Mahr und Livia Prüll. Die Autor_innen setzen sich vor dem Hintergrund einer historischen Rekonstruktion widerständiger Praktiken des Women’s Health Movement mit den aktuellen diskursiven Formationen auseinander, die unter dem Sammelbegriff GynePunk-Movement oder des TransHackFeminusmus für Aufsehen sorgen. Eindrücklich gelingt es den Autor_innen anhand der genauen Beschreibung der Praktiken zur Rückeroberung des eigenen Körpers darauf hinzuweisen, wie durch die Aneignung von Technologie – und der Schulung eines Blicks für Technologie – Agency, also Handlungsmacht, neu verteilt werden kann. Dementsprechend versteht das GynePunk-Movement Technologie als anzueignendes, damit ermächtigendes und zu veränderndes Instrument der Emanzipation.
GenderHacking durch selbstgesteuerte Hormontherapie ist dabei genauso Teil der Gegenbewegung wie die Bereitstellung von Informationen über Geschlechtskrankheiten und die Möglichkeiten der Selbst-Behandlung. So emanzipatorisch wie der TransHackFeminismus erscheint, so avantgardistisch und selbstreferentiell bleibt er laut den Autor_innen aber auch. Der Zugang für alle Gesellschaftsgruppen ist sicherlich nicht immer gewährt. Es lassen sich „auf diesem Weg sicherlich keine Massen bewegen“ (S. 186). Nichtsdestotrotz verspricht der Technikoptimismus und die avantgardistische Aktion des GynePunk Movements laut Mahr und Prüll befreiendes Potenzial. Diejenigen, die in den Aneignungsprozess involviert sind, können Alternativen zu den gegebenen Verhältnissen schaffen – eine Entwicklung, die verfolgt werden sollte.
Ähnlich ambivalent skizziert der Beitrag von Anita Thaler und Magdalena Wicher die Verwendung von Technologie in Programmier-Initiativen. Besonders aufschlussreich an diesem Beitrag: die Autor_innen gehen ausführlich auf bildungspolitische Heilsversprechen ein, in denen der Erwerb von Kompetenzen im Coding, also im Programmieren, zum Wundermittel gegen soziale Ungleichheiten stilisiert wird. Neben diesen Initiativen gebe es aber auch „Perspektiven, Coding als emanzipatorisches, kritisch-konstruktivistisches Bildungsprojekt zu begreifen, das Menschen befähigen soll, ein mündiges, selbstbestimmtes Leben zu führen“ (S. 193). Wichtig dabei: Die Autor_innen weisen explizit darauf hin, dass die Aneignung von technologischen Fähigkeiten nicht automatisch zum Bildungserfolg führt. Stattdessen üben so formulierte und realisierte Bildungspolitiken erheblichen Druck auf das Individuum aus, das sich gezwungen sieht, sich möglichst früh an das herrschende Bildungssystem anzupassen. Die Ideologie vom lebenslangen Lernen und von der Normalbiografie lässt grüßen.
Erfrischend praktisch wenden sie ihre Überlegungen, wenn sie darauf hinweisen, dass queeres Coden das Potenzial hat, sich diesen Problemen zu entziehen. Es gehe dabei darum,
„den gängigen Ansatz, die Teilnehmer_innen primär für den Arbeitsmarkt (oder die Hochschule) vorzubereiten und sie anderen gegenüber wettbewerbsfähiger zu machen, zu hinterfragen und aufzubrechen“ (S. 206).
Ein die Bedürfnisse der Individuen berücksichtigender, problemzentrierter Ansatz wird von den Autor_innen als Möglichkeit gesehen, die oben geschilderten Probleme zu umgehen – bottom-up statt top-down. So könnte sinnhafte und auch sinnstiftende Technologieaneignung aussehen. Dass sich diese wiederum dem pädagogischen Grundproblem von der Anleitung zur Selbsttätigkeit stellen und ihre eigene Verflechtung in Machtverhältnisse reflektieren muss, bleibt zu ergänzen.
Nur ein erster Schritt
Sammelbände sind eine schwierige Angelegenheit. Im besten Fall versammeln sie Beiträge, die bereits einen gemeinsamen Nenner aufweisen. Im schlimmsten Fall findet sich kein roter Faden und es ergibt sich auch beim Lesen kein Gesamtzusammenhang. Dieser Band schafft es durch eine kluge Rahmung, sowohl die unterschiedlichen Stoßrichtungen der theoretischen Beiträge als auch die Diversität der Einzelanalysen einzufangen. Da sich der Band als Eröffnung einer Diskussion versteht, ist mit weiteren Beiträgen zu rechnen, die an die Entwürfe in „Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen“ anschließen. Gerade der Hinweis Schaupps auf eine historisch(-materialistische) Rekonstruktion der Genese von Kybernetik, Cyber- und Plattformkapitalismus, ist als Aufruf zu verstehen, die vereinfachte Gegenüberstellung von Technikoptimismus auf der einen und Technikpessimismus auf der anderen Seite hinter sich zu lassen. Stattdessen – und hier präsentieren die Einzelanalysen wirkmächtige Beispiele – gilt es, sich Technik anzueignen und sie widerständig werden zu lassen.
Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen. Emanzipatorische Perspektiven im technologischen Wandel.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-225-6.
304 Seiten. 19,80 Euro.