Erfahrungen von kranken und „illegalen“ MigrantInnen in Berlin
- Buchautor_innen
- Susann Huschke
- Buchtitel
- Kranksein in der Illegalität
- Buchuntertitel
- Undokumentierte Lateinamerikaner/-innen in Berlin. Eine medizinethnologische Studie
Susann Huschke bietet einen umfassenden Einblick in die Lebenswelt und in die Krankheitserfahrungen von undokumentierten LateinamerikanerInnen in Berlin und analysiert dabei kritisch die Lücken in der gegenwärtigen medizinischen Versorgung.
Im Sinne der kritischen Medizinethnologie untersucht Susann Huschke in dem auf einer Dissertation basierenden Buch Krankheits- und Leidenserfahrungen undokumentierter MigrantInnen im Kontext ihrer Lebensbedingungen und erforscht ihre subjektiven Erfahrungen in Zusammenhang mit lokalen, nationalen und globalen Strukturen der Ungleichheit. Ihre Absicht, das Thema umfassend zu analysieren, spiegelt sich in der Struktur des Buches wider, indem jedes Kapitel eine der verschiedenen Facetten der Forschungsfrage vertieft und kritisch betrachtet. Das erleichtert wesentlich das Lesen von diesem fast 400-seitigen Werk, das einige LeserInnen auf den ersten Blick erschrecken könnte, und bietet die Möglichkeit zur gezielten Konzentration auf spezifische Aspekte des Themas.
Das nähere Kennenlernen des Lebens von undokumentierten MigrantInnen
Im zweiten Kapitel setzt sich Huschke detailliert mit ethischen und methodologischen Überlegungen auseinander, mit denen sie während ihrer über drei Jahre andauernden Feldforschung konfrontiert wurde. Im Fokus stehen unter anderem Reflexionen über die Sensibilität des Forschungsthemas und über den Umgang mit den unterschiedlichen Rollen der Autorin – die gleichzeitig auch als Aktivistin im Büro für medizinische Flüchtlingshilfe tätig ist – sowie über das Verhalten und die Vereinbarkeit von Praxis und Forschung.
Huschke versteht sich als activist anthropologist, indem sie sich über den akademischen Kontext hinaus für bestimmte Ideen und Veränderungen einsetzt. Das Buch hat das politische Anliegen, eine kritische Analyse der gegenwärtigen Gesundheitsversorgung für undokumentierte MigrantInnen zu liefern, strukturelle Veränderungen anzuregen und die MigrantInnen, die so oft in der Migrationsdebatte ausgeblendet werden, endlich zu Wort kommen zu lassen.
Außerdem betreibt Huschke eine kontinuierliche Evaluierung ihrer Rolle als Forscherin, beschreibt den Umgang mit ihren eigenen Emotionen und plädiert für die Notwendigkeit, diesen Rechnung zu tragen und sie in die Analyse einzubeziehen.
Das dritte Kapitel bietet Einblicke in die Migrationswege und in den Lebensalltag der undokumentierten MigrantInnen in Berlin. Der wichtigste Migrationsgrund für LateinamerikanerInnen, die nach Berlin kommen, ist die Arbeitssuche. Ihr Ziel ist es, eine bessere Zukunft für sich und ihre Familie zu schaffen. In diesem Sinne entsprechen die untersuchten MigrantInnen nicht dem medienwirksamen Bild der „Illegalen“ als hilflose Opfer oder gewissenlose Kriminelle, sondern zeigen sich als potentiell kreative und widerstandsfähige AkteurInnen, obwohl ihre Lebenswelt „in vielerlei Hinsicht von Exklusion, Unsicherheit und Abhängigkeiten geprägt ist“ (S. 367).
Eine zentrale Rolle im Lebensalltag spielt das soziale und kulturelle Kapital, und vor allem die persönlichen Beziehungen innerhalb der „Latino Community“, die sich als wichtige Ressource für die MigrantInnen erweisen. Gleichzeitig können sich diese Beziehungen schnell in Dynamiken der Abhängigkeit und Notwendigkeit umwandeln und damit ambivalent sowie problematisch werden. Bedeutung und Konsequenzen der aufenthaltsrechtlichen Illegalität, die von der Autorin als ein soziales und politisches Konstrukt verstanden wird, werden die MigrantInnen oft erst im Zielland begreifen, nachdem sie eine Art Illegalitätsschock erleben und lernen, mit ihrer dauerhaften Abschiebbarkeit zu leben. Die Erzählungen der ForschungsteilnehmerInnen verdeutlichen, dass die populäre Annahme, die (illegale) Migration sei eine bewusste und rationale Entscheidung, nicht zutrifft. Ebenso die in der politischen Arena vertretene Ansicht, der Ausschluss aus der regulären Gesundheitsversorgung könnte als wirksames Mittel der Migrationskontrolle im Sinne einer Reduzierung der illegalen Migration dienen, erweist sich als kurzsichtig und realitätsfern. Da der Zugang zu Sozialleistungen (zumindest für die Gruppe der in dem Buch analysierten MigrantInnen) keinen Migrationsgrund darstellt, fungiert der Ausschluss undokumentierter MigrantInnen zudem nicht einmal als „Migrationsabwehr“, sondern führt lediglich zur medizinischen Unterversorgung und Prekarisierung ihrer Lebenslage.
Erfahrungen von Krankheit, Ausgrenzung und (sozialem) Leiden
Im vierten Kapitel wird das medizinische Versorgungsangebot für undokumentierte MigrantInnen in Berlin analysiert, das die Autorin kritisch als Teil von einem „Trend zur Auslagerung des staatlichen Versorgungsauftrags und neoliberale Umstrukturierungen im Gesundheitssystem“ (S. 173) betrachtet. Zentral in der Versorgungsfrage von undokumentierten MigrantInnen ist die Kopplung medizinischer Behandlungen im regulären Gesundheitssystem an eine Datenübermittlung an die Behörden, eine Regelung, die innerhalb der Europäischen Union fast nur in Deutschland existiert und den Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung de facto verhindert. Aus diesem Grund sind undokumentierte MigrantInnen auf parallele humanitäre Versorgungsangebote angewiesen, die aber trotz der guten Intentionen mit ihrer fortlaufenden Institutionalisierung zu einer Stratifizierung des Angebots und einer Form der „Festschreibung von Ungleichheiten und der Ausgrenzung“ (S. 56) beitragen. Da sie nicht das gleiche Angebot wie das reguläre Gesundheitssystem anbieten können, kommt es zur Schaffung einer Parallelstruktur in Form einer Medizin zweiter oder dritter Klasse. Außerdem werden im Laufe des Kapitels unterschiedliche Gesichtspunkte und Ziele der AkteurInnen, die sich mit der Versorgung undokumentierter MigrantInnen befassen (zum Beispiel das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe, Malteser Migranten Medizin, einzelne Ärzte) anhand von Interviewabschnitten sichtbar:
„Diese Zersplitterung wirkt gemeinsamer politischer Lobbyarbeit entgegen und trägt damit dazu bei, dass eine umfassende strukturelle Veränderung in Form einer staatlich gewährleisteten medizinischen Versorgung für alle in Deutschland lebenden Menschen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in greifbarer Nähe scheint“ (S. 205).
Anhand von Krankheitserfahrungen und Heilungswegen werden im fünften Kapitel „die Wechselwirkungen zwischen strukturellen Handlungsbeschränkungen und individuellen Handlungsspielräumen beleuchtet“ (S. 56). In einer Lebenssituation, die von permanenter Unsicherheit und prekären Arbeits- und Lebensbedingungen geprägt ist, kann Krankheit einen kritischen Moment darstellen. Anhand der zahlreichen Interviewabschnitte lernt der/die LeserIn die Leben der InterviewpartnerInnen kennen und erfährt von verschiedenen Aspekten, die ihre Krankheitserfahrung charakterisieren. Undokumentierte MigrantInnen versuchen oft, die Krankheit zu ignorieren oder selbst zu behandeln und sind auf informelle soziale Netzwerke angewiesen – eine wichtige Ressource, die aber das Risiko der Abhängigkeit birgt. Dazu werden von den MigrantInnen viele (für das Überleben notwendige) Aspekte ihres Alltags als belastend und gesundheitsschädlich wahrgenommen, die von der Autorin zu Recht als eine Form struktureller Gewalt dargestellt werden.
Im letzten Kapitel stehen die Fragen der Subjektivität der Leidens- und Heilungserfahrungen im Vordergrund, vor allem, was hierbei als Leiden empfunden wird und wie diese Leidenserfahrungen in dem von der Illegalität geprägten Lebensalltag eingebettet sind. Leiden wird von der Autorin anhand des Konzepts des sozialen Leidens untersucht, ein Begriff der darauf aufmerksam machen soll, dass Leiden mehr als nur physische Krankheit beinhaltet sowie, dass physische Beschwerden und andere Formen des Leidens durch strukturelle Bedingungen wie nationale Migrationspolitiken mit verursacht werden und stets in einem konkreten sozialen Kontext erlebt werden. Ähnlich besteht Heilung nicht nur darin, eine medizinische Versorgung zu organisieren. Auch Veränderungen der strukturellen Bedingungen durch Legalisierung tragen wesentlich dazu bei, das soziale Leiden zu heilen.
Ein wichtiges Thema, das eine höhere öffentliche Aufmerksamkeit verdient
Susann Huschke gelingt es, ein bisher wenig bekanntes Thema in die Öffentlichkeit zu bringen und es über die akademischen Kreise hinaus für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Die zahlreichen Fallbeispiele und Interviewabschnitte haben, obwohl sie das Lesen etwas verlangsamen und wesentlich zu der Länge des Buches beitragen, den großen Vorzug, den/die LeserIn „in die Mitte der Forschung“ zu bringen und in das Leben der undokumentierten MigrantInnen mit einzubeziehen. Huschkes politisches Anliegen, strukturelle Veränderungen anzuregen, gelingt sicherlich zuerst bei den LeserInnen, indem diese direkt mit dem Prozess der Ausgrenzung konfrontiert werden und dabei wohl nur sehr unwahrscheinlich unbeeindruckt bleiben. Die dramatische Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung in der Bundesrepublik und die Unterwerfung eines Menschenrechts unter eine neoliberale Marktlogik und unter weitere restriktive Regelungen lassen den/die LeserIn mit einem tiefen Ungerechtigkeitsgefühl zurück.
Außerdem stellt das Buch die undokumentierten MigrantInnen selbst in den Mittelpunkt, die in der zunehmend stattfindenden öffentlichen Debatte um „illegale“ Migration in Deutschland eher ausgeblendet werden und zeigt dabei die andere, in der Öffentlichkeit weniger bekannte Seite der Illegalität: die der Betroffenen.
Es ist zu hoffen, dass in der nahen Zukunft die Debatte um die Gesundheitsversorgung von undokumentierten MigrantInnen neue Aufmerksamkeit bekommt und der Staat endlich die Verantwortung für diese Frage übernimmt. Dieses Buch stellt einen ersten Schritt in diese Richtung dar.
Kranksein in der Illegalität. Undokumentierte Lateinamerikaner/-innen in Berlin. Eine medizinethnologische Studie.
Transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-2393-2.
416 Seiten. 36,80 Euro.