‚Endlich wieder deutsch sein dürfen‘
- Buchautor_innen
- Projektgruppe Nationalismuskritik (Hg.)
- Buchtitel
- Irrsinn der Normalität
- Buchuntertitel
- Aspekte der Reartikulation des deutschen Nationalismus.
Der Sammelband zeigt, wie sich der (neue) deutsche Nationalismus entwickelt und warum er gerade mit der WM 2006 so populär wurde.
„Mit dem Deutschlandstipendium für morgen sorgen“, „Deutschland ist führend durch seine Ideen“ oder „Verwirklichen Sie Ihre Ideen mit Europas führender Forschungsnation“. So wirbt die Bundesregierung, in diesen Fällen das Bundesministerium für Bildung und Forschung, für den Standort Deutschland als Bildungs-, Forschungs- und Wirtschaftsstandort, der im internationalen Wettbewerb der Nationen gute Chancen habe sich durchzusetzen. Nicht nur im Kontext von Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft, auch in der Begeisterung für die deutsche Fußballnationalmannschaft – die natürlich ebenso ökonomisch durchdrungen ist – so haben es die letzten Weltmeisterschaften gezeigt, ist der Bezug auf die deutsche Nation und der damit einhergehende Nationalismus öffentlich weitgehend akzeptiert und vielfältig begrüßt worden. Dass schwarz-rot-gold (wieder) ‚normal‘ sei, damit beschäftigt sich der Sammelband „Irrsinn der Normalität“, der von der Projektgruppe Nationalismuskritik herausgegeben wurde.
Zum Anlass für die Auseinandersetzung und die Diagnose einer „Reartikulation des deutschen Nationalismus“ nehmen die Herausgeber_innen die WM 2006. Sie wählen dieses Ereignis, da das „öffentliche, im wörtlichen Sinne unverschämte Bekenntnis zur Nation (…) im Sommer 2006 Normalität geworden“ (S. 7) sei. Die Fragen, denen sie auf den Grund gehen, sind: Warum kann seit und mit diesem Ereignis wieder ein scheinbar unproblematischer Bezug auf die Nation hergestellt werden, warum bieten populäre Massenereignisse und Gemeinschaftserlebnisse – wie zum Beispiel Sport oder Popkultur – einen beliebten Ort für nationalistische Spielarten, warum ist ein (neuer) Nationalismus genau zu diesem Zeitpunkt möglich, wie gestaltet sich der Umgang mit der deutschen Geschichte in diesem Kontext und nicht zuletzt, wieso wird dieser „Irrsinn“, gemeint ist die „Selbstbeschreibung der deutschen Nation“ (S. 15), in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ständig wiederholt und für normal befunden? Anhand der Themenbereiche Nation, Hegemonie, Geschlecht; Geschichtsdiskurse; Sport und Popkultur untersuchen die Autor_innen diese Fragen.
Deutschland wird normal
Daniel Keil beschäftigt sich im ersten Block mit der „zarten Wiederentdeckung des Deutschen“ (S. 20). Der Rolle der Intellektuellen misst er dabei sowohl in der historischen Entwicklung der Nation (im 19. Jahrhundert) als auch in ihrem gegenwärtigen Wiederaufleben große Bedeutung bei. Die Analogie, die Keil zwischen diesen beiden Entwicklungen herstellt, ist problematisch, da sie die spezifischen historischen Umstände vernachlässigt und Keils aktuelle Analyse ohne diese scheinbaren Ähnlichkeiten plausibler wäre. Eine der zentralen Veränderungen in der „Normalisierung der deutschen Nation“ (S. 29) sei die Abgrenzung vom Nationalsozialismus und bereits hier zeigt sich, dass die Analogiesuche unsinnig ist. Wichtig ist jedoch sein Verweis auf eine neue Qualität des Nationalismus, wie sie sich unter anderem in Kampagnen wie „Du bist Deutschland“ ausdrücken, die eine „Verschiebung vom nationalen ‚Wir‘ auf das nationale ‚Du‘“(S. 37) schaffen und so eine individualisierte Integration der Einzelnen in die Nation ermöglichen.
Mit dieser Kampagne und dem Projekt „Deutschland – Land der Ideen“ sowie deren spezifischem Umgang mit der deutschen Geschichte beschäftigt sich Joannah Caborn in ihrem Text. Der abweisende Umgang mit der NS-Zeit bringe einen „neuen Nationsdiskurs“ (S. 88) hervor, der gleichzeitig ein neues nationales Selbstbewusstsein ermögliche. In der „alten Geschichtskonstruktion“ (S. 89), die durch ein erinnerndes und schuldbeladenes Verhältnis zum Nationalsozialismus geprägt war, war ein positiver Bezug auf die Nation undenkbar. Die Distanzierung von dieser Geschichte sei der Grund dafür, dass das Nationale nicht mehr tabuisiert werde. Die beschriebenen Kampagnen leisten durch ihre „Geschichtsvergessenheit“ (S. 101) einen entscheidenden Beitrag zu dieser Distanzierung. Der Nationalismus erscheine heute zudem nicht mehr aggressiv und mache somit seinen immer vorhandenen „ausgrenzenden Charakter“ (ebd,) unsichtbar. Denn wenn selbst Kriegsführung unter deutscher Flagge wieder möglich sei, zeige sich spätestens hier die andere Seite des scheinbar so seichten und gemeinschaftsstiftenden Nationalismus. Dieser Aspekt, den Caborn selbst hervorhebt, beweist das Grundübel des Nationalismus und dieses sollte nicht nur dem Nationalsozialismus zugeschrieben werden. Caborns Aufruf, „sich angemessen an [die] Vergangenheit zu erinnern“ (S. 93), könnte missverstanden werden, denn auch wenn Geschichte und Erinnerung mit Sicherheit die vernichtende Seite eines Nationalismus zeigen, muss einerseits die über den Nationalsozialismus hinausgehende historische Verankerung dieser Ideologie betont und andererseits der anhaltenden Bedrohung des Nationalismus in neuen, historisch noch nicht auffindbaren Formen, Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Die WM zeigt, was ‚normal‘ heißt
Die treffendste Analyse der Ideologie des Nationalismus in diesem Sammelband bietet Katharina Rheins Text, der den die BILD zitierenden Titel „Jetzt kommen die Miesmacher“ trägt. Die Debatte um die GEW-Broschüre „Argumente gegen das Deutschlandlied“ diskutierend, macht sie besonders deutlich, dass es keinen „guten“ oder „leichten“ Nationalismus gibt. Die GEW brachte besagte Broschüre anlässlich der WM 2006 heraus und distanzierte sich nach öffentlicher Kritik äußerst schnell von ihrem zuvor vertretenen Standpunkt, da man doch niemandem, so der Vorstand, die Stimmung während der WM „vermiesen“ (S. 130) wollte. Rhein weist darauf hin, dass „die Reaktionen auf Kritik [zeigt], dass es mit der Entspanntheit und Fröhlichkeit nicht allzu weit her war“ (S. 132). Auch dem Argument, man könne doch das Nationalgefühl nicht dem rechten Rand überlassen und solle viel eher diesem „‚negativen‘ Nationalismus [einen] ‚positive[n]‘ Nationalismus“ (S. 138) entgegensetzen, widerspricht sie überzeugend, indem sie an Zitaten aus der BILD zeigt, dass Nationalismus durchgängig aggressive, ausgrenzende und abgrenzende Grundzüge hat. Es wäre mit Sicherheit nicht notwendig gewesen, sich hierfür auf die BILD zu beziehen, denn ganz ähnliche Aussagen lassen sich auch in den bereits erwähnten Kampagnen finden. Überzeugend bindet sie ihre Kritik an dem zum neuen Nationalismus gehörenden Umgang mit der NS-Vergangenheit im Sinne einer „Schlussstrichmentalität“ (S. 143) ein, wenn sie Norbert Lammerts Rückblick auf die WM zitiert: „Ich habe den Eindruck, dass die Deutschen nach der Weltmeisterschaft auf dem Weg sind zu einem neuen, anderen Wir-Gefühl: nicht Vergangenheits-fixiert, sondern Zukunfts-orientiert, nicht nationalistisch verengt, sondern weltoffen tolerant.“ (S. 144)
Auch Gerd Dembowski widmet sich ausführlich dem „Nationalismus im deutschen Fußball“ (S. 182). Seine Analyse fokussiert die bereits angesprochenen Kampagnen als „Nation-Branding“, das heißt als Unterfangen Deutschland bewerben zu wollen, nicht als Staat, sondern als Marke. Fußball, und gerade große Fußballereignisse wie die WM, eignen sich besonders gut für dieses Vorhaben, da die Zuschauer für einige Stunden als Teil der vorgestellten nationalen Gemeinschaft fühlen, wie sie der bekannte Nationalismusforscher Benedict Anderson gefasst hat. Wie Rhein ist es auch Demboswkis Anliegen, auf die Kehrseite dieser Euphorie, die besonders in den unzähligen Public Viewings deutlich wird, hinzuweisen. „Nationalistisch aufgeladene[] Attacken“ (S. 189) zeigen sich so zum Beispiel während der WM 2006 in Angriffen auf italienische Restaurants und ebenso während der EM 2008. Auch wenn diese nationalistischen Aggressionen öffentlich nicht wahrgenommen werden wollen, sei doch eindeutig: „Nationalismus ohne Vergleich, ohne Erhebung über andere Nationen funktioniert nicht“ (S. 192).
Was zu tun bleibt
Die Beiträge des Blocks „Popkultur“ machen schließlich deutlich, auf welchem Gebiet es noch Forschungsbedarf gibt. Martin Büsser analysiert den „Pop im Dienste der Nation“, indem er die Entwicklung von dem Mythos eines linken Pop zum „Deutschpop-Boom“ (S. 206) nachzeichnet und deutlich macht, dass dieser – ähnlich wie die Fußball WM – emotional integrierend und ein scheinbar unproblematischer Bezug auf die Nation sei. Michael Elm spricht in diesem Sinne von einem „medial angeleiteten Eventnationalismus“ (228). Dennoch erfassen die Texte dieses Abschnittes den Bereich Popkultur wesentlich knapper als die Analyse der Ereignisse um die WM und den Umgang mit der deutschen Geschichte. Gerade Sensationen wie die um den Sieg von Lena Meyer-Landrut im Eurovision Song Contest 2010 (der nach dem Erscheinen des Buchs liegt) machen deutlich, dass der mediale popkulturelle Bereich noch wesentlich tiefgreifender auf seine nationalisierenden und nationalistischen Elemente erforscht werden müsste.
Im Ganzen bietet der Sammelband eine differenzierte und kritische Analyse aktueller Formen von Nationalismus. Allen, die sich über den euphorischen Gebrauch der Fahnen während der letzten WMs geärgert oder auch nur gewundert haben, seien diese Untersuchungen wärmstens empfohlen. Wobei nicht nur die verschiedenen Seiten des Nationalismus immer mit beleuchtet werden müssen, sondern auch die grundsätzliche Problematik. So machen die Herausgeber_innen im Nachwort deutlich, dass die Nation als Identitätskategorie nicht unterschätzt werden darf. Der von ihnen analysierte „neue deutsche Nationalgeist“ (S. 254), und dies ist zu bedenken, sollte jedoch nicht nur auf seinen Umgang mit dem Nationalsozialismus sondern gleichsam auf seine lange historische Verankerung, gerade auch im deutschen Imperialismus, und verstärkt auf seine ökonomisierte Form als „Standortnationalismus“ untersucht werden.
Irrsinn der Normalität. Aspekte der Reartikulation des deutschen Nationalismus.. 2. Auflage.
Westfälisches Dampfboot, Münster.
ISBN: 978-3-89691-779-9.
259 Seiten. 24,90 Euro.