Digitale Schnappatmung
- Buchautor_innen
- Friedrich Pollock
- Buchtitel
- Automation
- Buchuntertitel
- Materialien zur Beurteilung ihrer ökonomischen und sozialen Folgen
Alle fragen sich, was die „smarte“ Zukunft für uns bereithält. Zeit, den Blick in die Vergangenheit zu richten.
Die Debatte um den „digitalen Kapitalismus“ ist in vollem Gange. „Smart cities“, „Industrie 4.0“, das „Internet der Dinge“ – die Liste der trendigen Hightech-Schlagwörter ist schier endlos. Oft reicht es schon, eines davon beiläufig fallen zu lassen, um irgendwie hipp, neu und cool zu klingen. Und doch nagt da ein leiser aber steter Zweifel. Ist das wirklich alles so neu? Ist es wirklich so wichtig, dass mein Auto bald von alleine fährt, mich aber immer noch zu demselben Scheißjob bringt wie davor? Ist es wirklich so wichtig, dass mein Toaster bald mit meinem Kühlschrank vernetzt ist? Und mein Kühlschrank mit meinem Smartphone? Und mein Smartphone dann wieder mit meinem selbstfahrenden Auto?
Was in der Aufregung um die neuesten digitalen Gadgets oft verloren geht, ist der Blick für jene kontinuierlichen Kräfte, die seit jeher dafür gesorgt haben, dass sich der Nutzen neuer Technologien – sei es Dampfmaschine oder Smartphone – nur äußerst einseitig auf jene zwei Pole verteilt, die sich im Innersten unserer Gesellschaft gegenüberstehen: Arbeit und Kapital. Mit anderen Worten: Jenseits spiegelblank polierter Displays, Touchscreens und anderer „smarter Oberflächen“ gibt es politische Fragen, die seit geraumer Zeit auf ihre Beantwortung warten. Warum also nicht der aktuellen Debatte (zumindest vorübergehend) den Rücken kehren und zur Abwechslung mal danach fragen, was vor einem halben Jahrhundert über Automatisierung geschrieben und gedacht wurde? Vielleicht findet sich ja etwas Brauchbares.
Automation? Voll 50er!
In seiner 1956 erschienenen Studie „Automation. Materialien zur Beurteilung ihrer ökonomischen und sozialen Folgen“ geht Friedrich Pollock der Sache auf den Grund. Auch wenn das Vokabular manches Mal zum Schmunzeln einlädt – „Elektronenrechner“ klingt dann eben doch mehr nach Peter Alexander als nach Daft Punk –, viele der grundlegenden Argumente, Fragen und Debatten kommen überraschend aktuell daher. Und manches, was man findet, vermisst man in aktuellen Büchern ganz und gar. Zum Beispiel das Ringen um eine sinnvolle Definition des Begriffes „Automation“, auf das Pollock ein ganzes Kapitel verwendet. Akribisch sammelt er die Definitionsversuche von Wissenschaftler_innen, Gewerkschaftsmitgliedern, Wirtschaftsbossen und Unternehmer_innen ein. Unumstrittenes „Highlight“: ein Statement der US-amerikanischen National Association of Manufacturers aus dem Jahr 1954, das erahnen lässt, dass der Automatisierungshype keineswegs erst im 21. Jahrhundert erfunden wurde:
Geleitet durch elektronische Geräte, beflügelt durch Atomenergie, bedient von dem reibungslosen, mühefreien Funktionieren der Automation, bewegt sich der Zauberteppich unserer freien Wirtschaft nach fernen und nie erträumten Horizonten“ (S. 33).
Wie weit es mit dem angeblich so „reibungslosen“ und „mühefreien“ Funktionieren der Automation damals (wie heute) her war, wird deutlich, wenn man sich die Sache aus der Perspektive derjenigen ansieht, die wenig später von ihren Auswirkungen tatsächlich betroffen waren. James Boggs, Fabrikarbeiter und militanter Aktivist im Chrysler Autowerk in Detroit, kommt im Jahr 1963 zu folgender, wohl deutlich realistischeren Einschätzung:
„Die Automation stellt nicht nur die Frage nach Armut, Beschäftigung und verwandten ökonomischen Fragen. [...] Die zunehmende Automatisierung wird die Krisen des Kapitalismus verschärfen und die Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsteilen zuspitzen, vor allem zwischen denen, die arbeiten, und denen, die nicht arbeiten“ (Boggs 1963; Übers. FN).
Die Vorstellung liegt nicht allzu fern: Jener Teil der Arbeiter_innen, die in der Fabrik nicht mehr gebraucht würden und fortan ohne jegliche Absicherung dastünden, hätten wenig Grund, mit ihren weiterhin beschäftigten Kolleg_innen für bessere Bedingungen für alle zu kämpfen. Eine Polarisierung der Arbeiter_innenklasse, die sich auch in Pollocks Einschätzung wiederfindet:
“Die Automation bedroht den Arbeiter und Angestellten nicht nur mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes, sondern wird viele berufliche Fertigkeiten überflüssig machen und den sozialen Status vieler in der Wirtschaft und Verwaltung Tätigen drastisch verschlechtern, die nicht zu der privilegierten Minderheit des Aufsichts-, Einrichtungs- und Reparaturpersonals sowie der Ingenieure und verantwortlich entscheidenden Angestellten gehören“ (S. 176).
Das Prinzip „teile und herrsche“, auch die Automation kennt es.
Einfach mal Luft holen – ganz analog
Was aber lässt sich nun von Pollocks Schrift für das hier und heute lernen? Zunächst einmal: eine gewisse Ruhe. Pollock lässt sich Zeit – sowohl mit seiner Analyse der vergangenen Gegenwart als auch mit seinen Prognosen für die Zukunft. Vorschnelle Verallgemeinerungen sucht man bei ihm meist vergeblich. Und genau das macht sein Buch noch heute lesenswert. Es ist sich nicht zu schade, seitenlanges empirisches Material zu durchforsten, sich durch Statistiken, Berichte, Zeitungsartikel und Unternehmensreporte zu wühlen. Das ist inmitten heutiger Debatten, in der sich auch vermeintlich kritische Beiträge in digitalen Superlativen versteigen, vor allem eines: wohltuend unaufgeregt.
Ein Vergleich zu Nick Srnicek und Alex Williams’ vielzitiertem Werk „Die Erfindung der Zukunft“ bringt das vielleicht am besten zum Ausdruck. Wo Pollock Seite um Seite darauf verwendet, die Konsequenzen zunehmender Automation in Bezug auf verschiedene Wirtschaftsbereiche detailliert aufzudröseln, stimmen Srnicek und Williams fröhlich ein in den derzeit weitverbreiteten Singsang der digitalen Wundertechnologien. Pollocks begründete Vorahnung, dass verschiedene Bereiche der Wirtschaft ganz unterschiedlich auf kommende Automatisierungstendenzen reagieren werden, verschwindet bei ihnen hinter einer ellenlangen Liste, die etwaige Unterschiede zwischen Sektoren – zum Beispiel mit Blick auf Lohn- und Qualifizierungsniveaus – schon im Vorhinein plattwalzt. „Die jüngste Welle der Automatisierung“, schreiben Srnicek und Williams,
„erfasst praktisch alle Ausschnitte der Wirtschaft: das Sammeln und Auswerten von Daten (Funkerkennung und -ortung, Big Data), neue Arten der Produktion (flexible robotisierte Fertigung, additive Fertigungsverfahren wie der 3D-Druck, automatisierte Fastfood-Restaurants) ökonomische Entscheidungen (Computersimulationen, intelligente Softwareagenten), Finanzierung und Kapitalakkumulation (algorithmischer Handel), und insbesondere die Logistik (die sogenannte Logistikrevolution mit selbstfahrenden Fahrzeugen, satellitengesteuerten unbemannten Containerschiffen, Transportdrohnen und vollautomatisierten Lagerhallen)“ (Srnicek/Williams 2016: S. 181).
Da sind sie also wieder, die hippen Schlagwörter des digitalen Kapitalismus, vorgetragen in bekannter Kurzatmigkeit. Und dennoch: Srnicek und Williams haben sicherlich Recht, auf die weitreichenden Konsequenzen der Automation hinzuweisen. Nichts anderes tut Pollock, der sich durch das ganze Buch hindurch gegen jene Technik-Optimist_innen wehrt, die im technologischen Wandel keine größeren Konsequenzen erkennen wollen. Ob diese Folgen nun aber positiv oder negativ zu bewerten seien, ist eine viel schwierigere Frage. „Nach wie vor“, so Pollock, „stehen sich ‚Optimisten’, die vorwiegend Gutes von der Automation erwarten, und ‚Pessimisten’, die von ihr verursachte schwere Störungen des Wirtschaftsprozesses befürchten, unversöhnt gegenüber“ (S. 31). Eine Zustandsbeschreibung, die wohl auch ein halbes Jahrhundert später noch zutrifft.
Zusätzlich verwendete Literatur
Boggs, James (1963): The American Revolution. Pages From a Negro Worker’s Notebook. Monthly Review Press, New York. Online einsehbar hier. Srnicek, Nick/Williams, Alex (2016): Die Zukunft erfinden. Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit. Edition Tiamat, Berlin.
Automation. Materialien zur Beurteilung ihrer ökonomischen und sozialen Folgen. 2. Auflage.
Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main.
420 Seiten.