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Die Geburt des kapitalistischen Weltsystems

Buchautor_innen
Immanuel Wallerstein
Buchtitel
Das moderne Weltsystem I
Buchuntertitel
Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft

Im ersten Band seines vierteiligen Werks behandelt Immanuel Wallerstein den Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Klassenherrschaft und Mehrwertaneignung und die Entstehung des kapitalistischen Weltsystems, das sich zwischen 1450 und 1640 zunächst als europäische Weltökonomie entwickelt.

Karl Marx unterteilte die Vorgeschichte der befreiten Gesellschaft in „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ rückblickend in die asiatische, antike, feudale und moderne bürgerliche Produktionsweise. Seine geistigen Kräfte konzentrierte er schließlich darauf, die kapitalistische Organisation der gesellschaftlichen Arbeit zu ergründen und sie „in ihrem idealen Durchschnitt“ (MEW 25: S. 839) logisch-systematisch darzustellen.

Immanuel Wallerstein, U.S.-amerikanischer Professor für Soziologie und Senior Research Scholar an der Yale University, erforscht und beschreibt in seinem vierteiligen Werk hingegen mit Bezug auf die maßgeblich von Fernand Braudel inspirierte französische Historiker-Schule der Annales den historischen Verlauf der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Denn „sofern wir eine Welt mit mehr Gleichheit und mehr Freiheit wollen, müssen wir die Bedingungen, unter denen diese Verhältnisse verwirklicht werden können, verstehen“ (S. 23). Ein solches Unternehmen, so Wallerstein, „verlangt zuallererst einmal eine klare Darstellung des Charakters und der Entwicklung des modernen Weltsystems bis heute.“

Gemeinsam mit Samir Amin und seinen bedauerlicherweise bereits verstorbenen Kollegen André Gunder Frank und Giovanni Arrighi hat Wallerstein im Zuge dieses anspruchsvollen Vorhabens die sogenannte Weltsystemanalyse entwickelt. Sie bildet bis heute das intellektuelle Grundgerüst einer der einflussreichen Strömungen des marxistischen Denkens, deren VertreterInnen den antiimperialistischen Bewegungen bis heute auch politisch in Solidarität verbunden sind.

Vom Feudalismus zum kapitalistischen Weltsystem

Im ersten Band zeichnet Wallerstein den Ursprung und die erste Phase des Kapitalismus als Weltsystem – zunächst existent als europäische Weltwirtschaft – nach. Voraussetzung seiner Entstehung ist „die Krise des westlichen Feudalismus im 14. und 15. Jahrhundert“ (S. 42). Sie ist der Kristallisationspunkt eines „Jahrhunderttrends“, der in der Erschöpfung der feudalen Produktionsweise mündet – erkennbar an mangelnder Produktivität der Landwirtschaft und an Bauernaufständen –, einer zyklischen ökonomischen Krise und einer Klimaverschlechterung am Ende des Mittelalters.

Auf den Trümmern der alten feudalen Gesellschaft bildet sich ein „historisches Novum“ (S. 27): zwischen 1450 und 1640 entsteht „auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise“ (S. 99) „eine europäische Weltwirtschaft“ (S. 27). Der Kapitalismus wird als Handelskapitalismus zur „herrschenden sozialen Organisationsweise der Wirtschaft“ (S. 109) und löst die Krise des Feudalismus. Die neue Form der Mehrwertaneignung basiert nicht mehr auf der direkten Aneignung des landwirtschaftlichen Surplus (Tribute oder feudale Renten). Was sich nun stattdessen entwickelt, ist eine „Aneignung des Surplus mittels eines Weltmarktmechanismus“ – basierend auf ungleicher Entwicklung und einer internationalen Arbeitsteilung zugunsten der kapitalistischen Zentren. Unterstützt wird diese neue Form der Ausbeutung von „Staatsapparaten, von denen keiner den Weltmarkt in seiner Gesamtheit“ (S. 46f.) kontrolliert. Die aufsteigende europäische Weltwirtschaft „war ein in seiner Art einmaliges Sozialsystem, das noch heute den Grundzug des modernen Weltsystems bildet.“ Sie ist „eine wirtschaftliche, keine politische Entität“ (S. 27). Wallerstein spricht von einem

Weltsystem, nicht weil es die ganze Welt umschließt, sondern weil es größer ist als jede juridisch definierte politische Einheit. Und es ist deshalb eine Weltwirtschaft, weil die Verbindung zwischen den Teilen des Systems vor allem eine ökonomische ist – freilich durch kulturelle Bindungen zu einem gewissen Maß verstärkt, zuweilen auch (…) durch politische Arrangements und Bündnisse“ (S. 27, Herv. i. O.).

Die Weltwirtschaft ist also eine Erfindung der modernen Welt und der Kapitalismus ist nur, folgt man Wallerstein, „innerhalb des Rahmens einer Weltwirtschaft möglich“ (S. 59). Andersherum ist die kapitalistische Produktionsweise die entscheidende (wenn nicht einzige) Variable für die Expansion der europäischen Weltökonomie. Denn seit sie einmal etabliert war, sei „das Überleben anderer 'Produktionsweisen' davon abhängig“, „wie gut sie sich dem vom Kapitalismus herrührenden politisch-sozialen Rahmen“ (S. 109) einfügten. Es treffe also nicht zu, dass

„die beiden Formen der sozialen Organisation, die kapitalistische und die feudale, nebeneinander bestanden hätten oder hätten bestehen können. Die Weltwirtschaft hat die eine Form oder die andere. Wenn sie einmal kapitalistisch ist, dann werden die Beziehungen, die gewisse formale Ähnlichkeiten mit feudalen Beziehungen haben, in den Kategorien der herrschenden Prinzipien neu definiert. Dies traf sowohl auf die encomienda in Hispano-Amerika wie auf den sogenannten 'zweiten Feudalismus' in Osteuropa zu“ (S. 124, Herv. i. O.).

Für die Etablierung der kapitalistischen Weltwirtschaft in Europa am Ende des Mittelalters sind laut Wallerstein vor allem drei geschichtliche Prozesse entscheidend gewesen: „eine Ausweitung des geographischen Umfangs der betreffenden Welt“ (S. 47), die mit der Inkorporation Amerikas durch Portugal und Spanien in die europäische Wirtschaft gelungen ist; „Arbeitskontrollmethoden, die für unterschiedliche Produkte und Zonen der Weltwirtschaft sehr abwechslungsreich sein mußten“ (S. 47), das heißt eine internationale Arbeitsteilung, und „relativ starke Staatsapparate in den Gebieten, die zu den Kernstaaten dieser kapitalistischen Weltwirtschaft werden sollten“ (S. 47), das heißt in Nordwesteuropa, dem „ökonomischen Herzstück“ (S. 339) des Weltsystems, namentlich anfangs Spanien, im Laufe des 16. Jahrhunderts dann England, die Niederlande und „in gewissem Umfang Nordfrankreich“ (S. 135).

Neben dem europäischen Weltsystem existieren am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Moderne auch andere Systeme, die eine eigene Welt umfassen, wie zum Beispiel in China. Diese Weltreiche oder Imperien sind Wallerstein zufolge aber keine Weltwirtschaften. Die europäische Weltwirtschaft zeichnet sich dadurch aus, dass es kein kohärentes politisches System innerhalb einer übergreifenden Ökonomie gibt, sondern eine Vielzahl von Staaten. Dies sei auch ein wesentlicher Grund für ihre Stabilität. Für Weltreiche hingegen sei es charakteristisch, dass nur „ein einziges politisches System über den Großteil des Gebietes“ (S. 518) vorherrscht und die Ökonomie einer starken Zentralgewalt untergeordnet ist. Die auf Tributen basierende, politische Herrschaft ausübende und zentralisierte Bürokratie hat in China funktioniert und kaum Ansatzpunkte für die Entwicklung einer kapitalistischen Ökonomie geliefert – anders als das feudalisierte Europa. Bis Mitte des 15. Jahrhunderts wurde also nur „in Europa, sonst aber nirgendwo, die Bühne für die Schaffung einer kapitalistischen Weltwirtschaft aufgebaut“ (S. 71).

Das Innenleben des Weltsystems: Zentrum, Semiperipherie und Peripherie

Innerhalb der europäischen Weltwirtschaft haben sich also notwendig nicht alle politisch-ökonomischen Formationen gleich entwickelt. Die ungleiche Entwicklung bringt mindestens „drei Zonen der Weltwirtschaft“ (S. 71) hervor: Semiperipherie, Zentrum/Kern und Peripherie/„Satelliten“. Diese Teilung ist sowohl funktional (tätigkeitsbezogen) als auch geographisch. Zum Teil ist sie eine Folge „ökologischer Rücksichten“. Ausschlaggebend ist jedoch die Funktion der sozialen Organisation der Arbeit, das heißt „die Bandbreite der ökonomischen Aufgaben war im Weltsystem nicht gleichmäßig verteilt“ (S. 519). Entsprechend generieren verschiedene Formen der ökonomischen und staatlichen Organisation eine internationale Hierarchie – Ausbeutungsbeziehungen sind sowohl Resultat als auch Bedingung dieser ungleichen Entwicklung. Räumlich sind die drei Zonen nicht notwendigerweise deckungsgleich mit Staaten. Vielmehr befinden sich Staaten in ihnen.

In den Zentren der europäischen Weltwirtschaft wird überwiegend „frei“ oder „freier“ (S. 135) in einer Kombination von Weidewirtschaft und Ackerbau sowie in der noch vergleichsweise kleinen Industrie gearbeitet. Arbeitsbeziehungen, basierend auf direktem persönlichem Zwang, werden durch Formen der Lohnarbeit abgelöst. Die Staatsmaschinerien sind stark. Sie besitzen die Fähigkeit zur Ausbeutung weit entfernter „billiger“ Arbeitsmöglichkeiten und dienen auf der Basis eines Klassenkompromisses zwischen Grundherren und aufsteigender Bourgeoisie dazu, die „innerhalb des Weltsystems entstandenen Disparitäten zu schützen“, „die ideologische Maskierung und Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung dieser Disparitäten“ zu liefern und „gegenüber einzelnen Gesellschaftsgruppen innerhalb des Staates“ (S. 520) Interessen durchzusetzen. Die dafür notwendigen Staatsbürokratien werden erstmals in den Zentren in der Anfangsperiode des kapitalistischen Weltsystems geschaffen.

In den Gebieten der Peripherie, vor allem in Lateinamerika und Osteuropa, leistet die Mehrheit im 16. Jahrhundert „erzwungene verkaufsorientierte landwirtschaftliche Arbeit“ (S. 123), die Bauern arbeiten einen Teil ihrer Zeit auf staatlichen oder privaten Domänen oder die Menschen verrichten Sklavenarbeit. Die Staaten sind in der Peripherie schwach, „was von Nichtexistenz bis zu einem geringen Grad von Autonomie reichen kann“ (S. 520). Entscheidend für das Weltsystem ist: „Das Zentrum dominiert die Peripherie“ (S. 153). „Das Geheimnis des Erfolgs der Zentralgebiete einer Weltwirtschaft“ liegt Wallerstein zufolge darin, dass „sie ihre Industrieerzeugnisse gegen die Rohstoffe der peripheren Gebiete […] tauschen“ (S. 285).

Die Semiperipherie nimmt „auf einem Kontinuum, das von Zentrum zu Peripherie reicht, einen mittleren Platz ein“ (S. 131), ist in einer Weltwirtschaft ein „notwendiges Strukturelement“ (S. 520) und keine Resterampe. In diesen Mittelgebieten, zu denen Zentren ab- und Peripherien aufsteigen können, findet im 16. Jahrhundert „Anteilswirtschaft“ (S. 131) statt. Grundherren vergeben ihr Land an Bauern, die dafür eine Pacht, zum Teil auch in Form von Naturalien, an die Grundherren entrichten. Politisch sind die Semiperipherien eine Art Puffer zwischen Zentrum und Peripherie. Einerseits leiten sie den politischen Druck aus der Peripherie ab. Andererseits gelingt es ihnen nicht, die eigenen Interessen in die Zentren zu tragen. Wallerstein betitelt zum Beispiel Südfrankreich oder Norditalien des 16. Jahrhunderts als Teile der Semiperipherie.

Das europäische Weltsystem unterhält in seiner Frühzeit nach Außen zahlreiche Handelsbeziehungen, die „überwiegend auf dem Austausch von Kostbarkeiten beruhen“ (S. 450). Der daraus resultierende Profit ist durch den Handel beschränkt. Die politischen Formationen, die nicht Teil der Arbeitsteilung des Weltsystems sind, in jener Zeit zum Beispiel Russland, das Osmanische Reich und Asien, bezeichnet Wallerstein als „Außenarena“ (S. 450). Die „Grenzlinie zwischen Peripherie und Außenarena“ sei aber fließend und beweglich. Sie verschiebt sich also beständig.

Auftakt einer großen Erzählung

Der opulente Einstieg in die Tetralogie über das moderne Weltsystem ist der Auftakt einer faszinierenden großen Erzählung: der Geschichte des Kapitalismus. Wallerstein ist ein begnadeter Erzähler mit messerscharfem Blick für die internationalen politisch-ökonomischen Strukturen und deren Evolution über lange Zeiträume – eine Qualität, auf die Linke und Linksliberale zunehmend freiwillig Verzicht leisten. Es ist wie bei jeder guten Reihe: Man muss einfach weiterlesen. Erst am Ende lässt sich ein Gesamturteil fällen. Dann sollte sich auch herausgestellt haben, ob die logische Priorisierung des Weltsystems gegenüber dem Kapitalverhältnis und der Ausbeutung von Lohnarbeit in Wallersteins Darstellung wirklich gerechtfertigt ist und inwiefern die Weltsystemanalyse „das wirkliche Verständnis für die soziale Dynamik der Gegenwart“ (S. 22) befördert.

Immanuel Wallerstein 2004:
Das moderne Weltsystem I. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft.
Promedia Verlag, Wien.
ISBN: 978-3-85371-142-2.
596 Seiten. 34,90 Euro.
Zitathinweis: Christin Bernhold und Christian Stache: Die Geburt des kapitalistischen Weltsystems. Erschienen in: Antifa anders machen! 37/ 2015, Antiimperialismus global. 43/ 2017. URL: https://kritisch-lesen.de/s/KFtpY. Abgerufen am: 21. 12. 2024 17:04.

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Immanuel Wallerstein 2004:
Das moderne Weltsystem I. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft.
Promedia Verlag, Wien.
ISBN: 978-3-85371-142-2.
596 Seiten. 34,90 Euro.