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Der eigentliche Unfall

Buchautor_innen
Paul Virilio
Buchtitel
Der eigentliche Unfall

Virilio beleuchtet das Phänomen des Unfalls in der heutigen Zeit und kommt zu furchteinflößenden, überraschenden, aber auch optimistischen Ergebnissen.

Paul Virilio, der Denker und Kritiker der nouvelles technologies, geht in einer neuen Arbeit dem eigentlichen Unfall auf den Grund und lässt es wieder mal gewaltig krachen: Geschwindigkeit, Kriegsführung durch Infrarot- und Lasersteuerungen und die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind seit jeher seine Themen. Von der Titanic 1912 bis Tschernobyl 1986, ganz zu schweigen von Seveso und Bhopal (1976 und 1984 schwere Chemieunfälle in Italien und Indien). Unfälle in Serie, Serienunfälle, die durch ihre technische Reproduzierbarkeit gewaltige Dimensionen annehmen können. Die Serienproduktion selbst habe den künstlichen Unfall industrialisiert.

Aber:

„Mitnichten soll hier ein ‚chiliastischer Katastrophismus‘ propagiert werden; es geht nicht um eine Hervorhebung des Tragischen des Unfalls zum Zweck der Verängstigung der Massen, wie das die Massenmedien so oft tun, sondern einfach darum den Unfall endlich ernst zu nehmen“ (S. 26).

Statt vergeblich nach irgendeiner black box zu suchen, solle man besser so schnell wie möglich die desaströsen Eigenschaften der neuen Technologien freilegen, insbesondere die des militärisch-industriellen Komplexes seit der Erfindung der Massenvernichtungswaffen und der thermonuklearen Bombe.

Als Beispiel für diese Spektakelpolitik nennt der Autor den amerikanischen Film The Sum of All Fears (USA 2002, deutsch: Der Anschlag), gefördert vom Verteidigungsministerium mit direkter Hilfe der CIA und ihrem Agenten Chase Brandon, der sich nicht scheut für seine Dienste aus dem Johannesevangelium zu zitieren: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“. Hier würde man gerne den Hollywood-Film Projekt The Peacemaker (USA 1997, deutsch: Projekt: Peacemaker) anführen, der ebenso verdeutlicht wie die Filmindustrie sich die Wirklichkeit selbst erfindet.

Es geht hier um entführte russische Atomsprengköpfe, die schließlich über eine Serben (!), der im Krieg seine Familie verloren hat und sie in New York als sogenannte schmutzige Bombe (gibt es saubere?) zum Einsatz bringen möchte. Der NATO-Angriff 1999 in Jugoslawien wurde hier gewissermaßen medial antizipiert, eine Art Stahlgewitter ganz nach dem Geschmack von Ernst Jünger. Virilio führt statt dessen als Beispiel für die systematische Verwischung von Information und Desinformation das 2001 in den USA eingerichtete Amt für strategische Studien (OSI) an, dem nur eine kurze Lebensdauer vergönnt war. Ende Februar 2002 war die Affäre OSI offiziell beendet, Rumsfeld hatte erkannt das eine solche Einrichtung den USA mehr schaden als nützen könne.

Dieses Militärmanöver scheint heute (die franz. Originalausgabe erschien 2005, A.Q.) seltsamerweise wieder gestartet zu werden, denn das Pentagon führte im Sommer 2004 die Installation der ersten Raketen des geplanten Raketenabwehrschildes durch, in der Hoffnung, sie für die Präsidentenwahl am 2. November in Stellung zu bringen, und das ohne vorher „im Experiment die Effizienz dieses Systems überprüft zu haben“ (S. 112).

Dieses Kapitel (Die Dromosphäre) wird eingeleitet mit der Beschreibung des Geschwindigkeitswahns auf den Autobahnen in Deutschland und Frankreich Ende der 1970er Jahre bis heute (Freie Fahrt für freie Bürger), wo ein Baum am Straßenrand zur potenziellen Gefahr wird. 2001 bezeichnete der damalige Landwirtschaftsminister Galvany Platanen als öffentliche Gefahren, was bis heute nachwirke auf die jeweiligen nationalen Autoindustrien und den Straßenbau. Tatsächlich hätten noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts drei Millionen Platanen, Ahorne und Pappeln unsere Straßen gesäumt, davon blieben nicht mehr als 400 000 und werden für 750 Tote pro verantwortlich gemacht! Genauso werde es Vögeln ergehen, die für Luftverkehrsunfälle verantwortlich gemacht werden.

Virilio liest sich gelegentlich schaurig-schön, aber das würde er möglicherweise nicht als Kompliment auffassen, er möchte den Unfall und seine Ursachen einem analytischen Blick aussetzen.

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Die Rezension erschien zuerst im Juni 2009 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, dpb, 12/2010)

Paul Virilio 2009:
Der eigentliche Unfall.
Passagen Verlag, Wien.
ISBN: 978-3-85165-874-3.
128 Seiten. 16,90 Euro.
Zitathinweis: Adi Quarti: Der eigentliche Unfall. Erschienen in: . URL: https://kritisch-lesen.de/s/r2sU4. Abgerufen am: 04. 10. 2024 13:31.

Zur Rezension
Rezensiert von
Adi Quarti
Veröffentlicht am
01. Juni 2009
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Paul Virilio 2009:
Der eigentliche Unfall.
Passagen Verlag, Wien.
ISBN: 978-3-85165-874-3.
128 Seiten. 16,90 Euro.