Das Recht als Spielzeug der Moderne
- Buchautor_innen
- Daniel Loick (Hg.)
- Buchtitel
- Der Nomos der Moderne
- Buchuntertitel
- Die politische Philosophie Giorgio Agambens
Einem Sammelband zur Theorie Giorgio Agambens gelingt der schwere Spagat zwischen kritischer Kommentierung und produktiver Interpretation.
Der Nomos Verlag hat in den letzten Jahren zahlreiche Sammelbände zu bedeutenden staatstheoretischen DenkerInnen und Theoremen in seiner Reihe „Staatsverständnisse“ herausgebracht. Ein besonders im Feuilleton bekannter Denker lieferte das Motiv für den hier rezensierten Sammelband „Der Nomos der Moderne“: der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Herausgegeben durch den Frankfurter Philosoph Daniel Loick, versammelt der Band einen interdisziplinären wie kritischen Blick auf das Werk von Agamben. Dessen theoretische Abhandlungen über den Ausnahmezustand und das Lager als Paradigma des Regierens haben insbesondere seit dem sogenannten Krieg gegen den Terror, der weltweiten Skandalisierung des Lagers Guantanamo und infolge der gestiegenen Migrationsabwehr an den europäischen Außengrenzen Konjunktur.
Agambens Theorie
Agambens Theorie hat ihren Ursprung in dem bekannten Satz des NS-Kronjuristen Carl Schmitts „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt 1993, S. 11). Für Schmitt stellte der Ausnahmezustand aber im wörtlichen Sinne eine Ausnahme dar, während Agamben diesen als reguläre Regierungstechnik der Moderne versteht. Er verortet den Ausnahmezustand in einem „Raum ohne Recht“ (Agamben 2004, 60f). „Eines der Paradoxe des Ausnahmezustands besteht darin, daß in ihm die Überschreitung des Gesetzes und seine Ausübung nicht unterschieden werden können, so daß das, was der Norm entspricht und das, was sie verletzt, in ihm restlos zusammenfallen.“ (Ebd. 68) Dies sei auch der Grund warum der Souverän im Ausnahmezustand direkt auf das menschliche Leben an sich zugreifen könne.
Die „Produktion eines biopolitischen Körpers“ sei daher „die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht“ (Agamben 2002, S. 16). Agamben bedient sich zur Darstellung dieser These der antiken römischen Rechtsfigur des Homo Sacer. Der Homo Sacer sei ein „heiliges Leben“, das nicht geopfert werden kann und dennoch getötet werden darf (ebd., S. 92). Damit bewegt sich dieses „nackte Leben“ auf einer Ebene der politischen Ununterscheidbarkeit. Demgegenüber sei die – schon bei Aristoteles zu findende – Unterscheidung zwischen zoe und bios das konstitutive Element des Politischen seit der Antike und setze sich bis in moderne Demokratien fort. Zoe steht dabei für das einfache und natürliche Leben, während bios das öffentliche und kulturelle Leben darstellt. Für Agamben ist diese Regulierung des Lebens die eigentliche Funktion der Souveränität.
Heutzutage würde das Leben vollständig seitens der staatlichen Macht kontrolliert werden. Das eindrucksvollste Beispiel hierfür sei das Lager. Agamben meint mit dem Lager dreierlei: Erstens verweist er auf die Konzentrationslager im NS-Regime, in welchen die Menschen schutzlos und rechtlos industriell vernichtet werden konnten, zweitens meint er das heutige Flüchtlingslagersystem in der EU und in den USA und drittens versteht er das Lager sogar als einen Nicht-Ort, das heißt als eine Struktur in der homines sacri produziert werden sollen.
„Wenn also ein Ausnahmezustand durch die Einrichtung eines Lagers gewollt ist, wird er zu einem Paradigma des Politischen, in dem Norm und Ausnahme nicht mehr zu unterscheiden sind, bzw. der Ausnahmezustand zur Norm wird. Der Ausnahmezustand wird also nicht mehr aufgrund einer faktischen Situation durch den Souverän ausgerufen, sondern stellt das Lager als faktische Situation erst durch die Entscheidung über den Ausnahmezustand her.“ (Ebd., S. 192)
Agambens Theorie hat insofern eine große Bedeutung für aktuelle Debatten, als dass seine theoretischen Arbeiten aufzeigen, wie in demokratischen Gesellschaften totalitäre Momente verankert sind. Für Agamben ist die Regulierung des Lebens die Form des Politischen, die seit der Antike bis heute kontinuierlich fortwirkt. Dennoch arbeitet Agamben in seinen Werken mit Vereinfachungen, Verkürzungen und irreführenden Vergleichen. Eine kritische Rezeption, wie sie in dem Sammelband vorgeschlagen wird, ist deshalb zu begrüßen – gerade angesichts dessen, dass die Arbeit mit dem Werk von Agamben im deutschprachigen Raum vergleichsweise spät eingesetzt hat.
Der Sammelband legt seinen kritischen Impetus bereits im Aufbau fest. Die zwölf Aufsätze teilen sich auf in die Kapitel Motive, Anschlüsse und Auswege. Es wird deutlich, dass die AutorInnen versuchen mit der Theorie Agambens zu arbeiten, ohne sie affirmativ zu übernehmen.
Motive
Den Anfang im Kapitel Motive macht Oliver Flügel-Martinsen. Sein Beitrag stellt eine bemerkenswerte Kontextualisierung des Werks von Agamben dar. Er führt die LeserInnen gekonnt in die schwer verständlichen und theoretisch voraussetzungsvollen Begriffe ein. Dabei versucht er die zentralen Begriffe bei Agamben – nacktes Leben, Ausnahmezustand und Souveränität - auseinander zu legen und bietet Definitionsmöglichkeiten an. Der wertvolle Beitrag seines Artikels ergibt sich aber aus dem Vergleich zwischen den Schriften von Agamben. Flügel-Martinsen arbeitet heraus, wie sich Agambens Werk über die Zeit verändert, indem sich dessen Fokus von der Souveränität zu der Regierung verschiebt. Laut Flügel-Martinsen ist die Souveränität als grundlegendes Herrschaftsprinzip unsichtbar und Strukturprinzip der Gesellschaft, während nur die Regierung als Ableitung aus der Souveränität erkannt werden kann.
Einen zweiten, ebenfalls einführenden Text, liefert Maria Muhle, die in ihrem Beitrag einen Vergleich des Begriffs der Biopolitik zwischen Foucault und Agamben zieht. Die Autorin schlägt sich auf die Seite Foucaults und wirft Agamben eine unhistorische Methode vor. Er verkenne in seiner ausschließlich auf die negative Seite der Biopolitik zielenden Perspektive die zugleich produktiven Momente, die Foucault besser zu fassen wisse. Dadurch könne Foucault die theoretisch interessanteren Brüche und Kontinuitäten staatlicher Souveränität feststellen, während Agamben Kontinuitäten beschwöre, wo an sich keine seien.
Agambens Theorem hat großen Einfluss innerhalb der kritischen Migrationsforschung genossen. Seine Ausführungen über das Lager finden sich in beinahe jedem Artikel über das europäische Grenzregime. Umso wichtiger ist ebenfalls der kritische Blick von Serhat Karakayali. Sein Beitrag beschäftigt sich mit dem Begriff des Lagers. Besonders seine eigenen Anschlüsse an Agamben stellen eine wichtige Erweiterung dar. Denn Karakayali deutet die Installierung eines Lagersystems als den Versuch seitens der Europäischen Staaten MigrantInnen in ihrer Mobilität zu entschleunigen, um die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, auf dem illegalisierte MigrantInnen eine wichtige Rolle spielen, zu regulieren. Dieser klassentheoretische Ansatz, der das Lagersystem mit der sozialen Frage verbindet, ist in Agambens Werk nur marginal zu finden, allenfalls in seinen Ausführungen zum Römerbrief.
Mit diesen beschäftigt sich Micha Brumlik in seinem Artikel und bezieht sich dabei auf Agambens Buch „Die Zeit, die bleibt“. In einer sehr detailreichen Textanalyse ordnet Brumlik die Römerbrief-Interpretation Agambens zwischen diejenigen von Carl Schmitt, Karl Barth oder auch Walter Benjamin ein. Er kategorisiert zudem Agambens Methode als eine Form der negativen Theorie des Politischen.
Obschon das erste Kapitel eine sehr umfassende Begriffsarbeit leistet, hat es dennoch auch zwei Schwächen. Dem Band hätte ein zusätzlicher Artikel gut getan, indem prägnant die für Agamben wesentlichen theoretischen Richtungen (Aristoteles, Carl Schmitt, Walter Benjamin, Hannah Arendt) hätten vorgestellt werden können. Denn Agamben schreibt immer wieder ausgehend von diesen AutorInnen ohne sie zu erläutern, manchmal auch ohne einen direkten Bezug zu ihnen herzustellen. Nur die Theorie Michel Foucaults wird ausgiebig in dem Sammelband erklärt. Zweitens wiederholen sich in den Beiträgen zu oft die gleichen Überlegungen. Dies wird spätestens bei dem Artikel von Ernesto Laclau deutlich. Laclaus Beitrag ist jedoch insofern wichtig, als dass er Agamben immanente Widersprüche in Bezug auf seine Theorie des Banns nachweist. Er bleibt am Ende aber nur mit einer Kritik an Agamben stehen, die diesem vorwirft keine Emanzipationsmöglichkeiten aufzuzeigen. Diesen Vorwurf vertreten auch die meisten AutorInnen in dem Band und schaffen es dennoch darüber hinaus mit Agambens Theoremen zu arbeiten. Es ist zudem explizit nicht Agambens Intention einen gesellschaftlichen Gegenentwurf zu skizzieren und diese Haltung sollte man ernst nehmen.
Anschlüsse
Im zweiten Kapitel werden Agambens Theoreme auf Fallbeispiele angewendet. Susanne Schultz widmet sich einer Demografiekritik und erweitert Agambens Konzept um eine feministische Perspektive, die sich mit der Politisierung des Privaten auseinandersetzt. Ein postkoloniales Anwendungsfeld erblickt Jeannette Ehrmann in den Sklavenhalterplantagen, die für sie als Vorläufer des Lagers gelten. Für einen popkulturellen Anschluss interpretiert Il-Tschung Lin den Film „Bourne Identity“ und fragt nach der Rolle des Spions im Ausnahmezustand.
Die Anschlüsse zeigen, dass Agamben durchaus zahlreiche Möglichkeiten liefert um sowohl in der Politik als auch in der Kunst Phänomene und Ereignisse theoretisch einzuordnen. Die Frage stellt sich jedoch, warum an dieser Stelle kein Artikel zu der Rezeption von Agamben in politischen wie sozialen Bewegungen zu finden ist. Agamben hat nicht nur auf anarchistische Bewegungen beispielsweise in Nordamerika Einfluss gehabt, sondern auch auf politische Manifeste wie „Der kommende Aufstand“ des Unsichtbaren Komitees (kritisch-lesen.de #4). Eine Reflexion von Agambens Rezeption hätte gerade für die deutsche Auseinandersetzung mit ihm fruchtbare Ergebnisse zutage treten lassen können.
Auswege
Das letzte Kapitel unter dem Motto Auswege versucht Reformulierungen bzw. Neuinterpretationen von Agambens Theoremen vorzunehmen. Isabell Lorey gelingt hier eine historische Darstellung der Plebejer-Kämpfe in Rom gegen die Ordnung der Patrizier, an der sie aufzeigen kann, dass der Ausschluss des Homo Sacer nicht nur negative Folgen haben kann, wie bei Agamben intendiert, sondern zugleich die Basis für subalterne Selbstermächtigungen liefert. Birte Löschenkohl greift in ihrem Beitrag zudem ein zunehmend vernachlässigtes Thema in der Philosophie auf, nämlich eine theoretische Kritik von Zeitvorstellungen. Ihr Beitrag zeichnet sich durch eine sehr breite Kontextualisierung in die bisherige Forschung aus und erweitert zudem den Geschichtsbegriff von Karl Marx um interessante Aspekte.
Den bemerkenswertesten Beitrag des Bandes liefert jedoch der Herausgeber. Daniel Loicks Artikel beschließt den Abschnitt über die Anschlüsse an Agamben und formuliert eine Vorstellung des Rechts ohne Gewaltdurchsetzung. Dieses anti-staatliche Recht wird laut Loick, der versucht Versatzstücke aus Agambens Werk zu systematisieren und zu interpretieren, zu einem Wegweiser in eine neue Gesellschaftsordnung. Für ihn sind drei Begriffe leitend: Mit dem Studium verliert das Recht seine Gewaltförmigkeit (S. 196f), mit dem Spiel wird das Recht profanisiert und als Gebrauchswert in die Macht der Menschen zurückgegeben (S. 200f). Mit der Deaktivierung verliert das Recht sein Prinzip der Rechtsträgerschaft und wird somit für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Klasse, zugänglich (S. 209). Loick gelingt es dadurch mit Agamben und über ihn hinaus eine beeindruckende Rechtskritik zu liefern, die zugleich eine neue Form des Rechts vorschlägt, die das Recht entzaubert und von seiner Bindung an die Gewalt befreit. Weitere rechtswissenschaftliche wie philosophische Arbeiten könnten an diesem Ansatz anknüpfen.
Der Band schließt mit Agamben selbst. Sein kurzer Beitrag „Ostern in Ägypten“ stellt eine Interpretation eines Satzes aus dem Briefwechsel zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann dar. Die gesamte Perspektive des Denkens Agambens wird hier zum Schluss noch einmal gut verdeutlicht: Der Band endet mit einer pessimistischen Haltung, indem Agamben an diesem einen Satzfragment eine gesellschaftliche Totalität aufzuzeigen vermag, in der Hoffnung auf Erlösung scheinbar keinen Platz hat.
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass dem Sammelband eine vertiefte Auseinandersetzung mit Agambens Darstellung des Nationalsozialismus fehlt. Agamben hat in seinen Werken eine offenkundige Lücke im Bezug auf eine theoretische Reflexion des Antisemitismus. Nur so ist es möglich, dass Agamben schwerwiegende und untragbare Vergleiche zwischen den Konzentrationslagern im NS und beispielsweise den Einlasskontrollen an Flughäfen in den USA vornimmt. Zugleich liefert Agamben in der Auseinandersetzung mit Primo Levi aber auch interessante Bemerkungen zu der Wirkung der Zeugenschaft von Opfern des NS. Dieses im Werk von Agamben sehr relevante Thema taucht in dem Band nicht auf, obschon an einigen Stellen die AutorInnen auf Agambens Bezüge zum NS eingehen – jedoch zu bruchstückhaft und ohne Kontextualisierung.
Dennoch: Die Lücken des Bandes regen gerade die weitere Auseinandersetzung mit Agambens Werk und dessen kritische Rezeption an. Nebenbei bemerkt ist es so positiv wie ungewöhnlich, dass fast die Hälfte der AutorInnen weiblich ist. In den meisten Bänden der Reihe „Staatsverständnisse“ überwiegen männliche Autoren. Dem Sammelband gelingt es zudem gekonnt einen Spagat zu schlagen zwischen einer vielschichtigen Kritik an Agambens Theoremen und einer theoretischen wie politischen Erweiterung seiner staatstheoretischen Prämissen. Eine derartig reflektierte Zusammenschau findet sich derweil wohl nicht im deutschprachigen Raum.
Zusätzlich verwendete Literatur
Agamben, Giorgio 2002: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
Agamben, Giorgio 2004: Ausnahmezustand. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
Schmitt, Carl 1993: Politische Theologie. 4. Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 4. Auflage. Duncker & Humblot, Berlin
Der Nomos der Moderne. Die politische Philosophie Giorgio Agambens.
Nomos, Baden-Baden.
ISBN: 978-3-8329-6233-3.
219 Seiten. 29,00 Euro.