Das Projektil sind wir
- Buchautor_innen
- Karl-Heinz Dellwo
- Buchtitel
- Das Projektil sind wir
- Buchuntertitel
- Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel
In Gesprächen mit Tina Petersen und Christoph Twickel schildert das ehemalige RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo offen und reflektiert seinen Lebensweg.
Ist es angemessen, die historische Bedeutung der RAF, wie unlängst im Musikmagazin Spex geschehen, auf Ulrike Meinhofs angebliche Vorliebe für Kuschelrock von Procol Harum zu reduzieren, während Andreas Baader immerhin „Country Live“ von Roxy Music hörte? Karl-Heinz Dellwo, als Mitglied eines RAF-Kommandos 1975 an der Besetzung der Deutschen Botschaft in Stockholm beteiligt, hat zusammen mit Tina Petersen und Christoph Twickel in langen Gesprächen seine Geschichte und die einer ganzen Generation aufgearbeitet. Die Kindheit verbringt Dellwo in der Eifel, um schließlich in einer Schraubenfabrik in Freudenstadt als Lehrling zum Industriekaufmann zu landen. Man erfährt, dass es 1968 auch in Freudenstadt eine Schülerdemo gegen die Bildungspolitik und den Vietnamkrieg gegeben hat. Auch gab es dort wie in fast allen Provinzstädtchen für Jugendliche einen Treffpunkt am Marktplatz, der „Affengalerie“ genannt wurde. Die Probleme als jugendlicher Langhaariger der sechziger und siebziger Jahre - er bekommt sie unmittelbar zu spüren und setzt sich zur Wehr. Dellwo hält sich mit kleineren Diebstählen und Einbrüchen über Wasser, wird schließlich aus seiner ersten eigenen Wohnung geworfen, weshalb er dem Vermieter, Eigentümer eines Möbelhauses, die Schaufensterscheiben entglast. Einer seiner Freunde in Freudenstadt ist kein anderer als das spätere RAF-Mitglied Stefan Wisniewski, dem er kurz darauf nach Hamburg folgt. Beide fahren erst mal zur See, typisch für damalige jugendliche „Provinzler“. Danach besucht er die Abendschule und es entstehen erste Kontakte zur Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), in seinen Augen ein „Pfadfinderverein auf höherem Niveau“. Aber auch Verbindungen zur Schwarzen Hilfe werden hergestellt, für Dellwo haben die Abgrenzungen damals noch nicht so funktioniert. Ebenso erstaunlich für ein ehemaliges RAF-Mitglied: Als Lektüre, die ihm am stärksten in Erinnerung ist, nennt er „Nacht über Spanien“ von Augustin Souchy, dem deutschen Anarchisten, aber auch „Do it!“ von Jerry Rubin und „Täglicher Faschismus“ von Reinhard Lettau. Über seine Arbeit in der Roten Hilfe beschäftigt er sich schließlich mit der Politik der RAF: „Die K-Gruppen verschanzten sich hinter dem ‚Proletariat‘ und das ‚Konzept Stadtguerilla‘ brach mit diesem Versteckspiel“. Dem Unfug, der von sogenannten Antideutschen heute verbreitet wird, dass die 68er sich um die Nürnberger Prozesse nicht gekümmert hätten (Götz Aly, siehe auch den Verriss des Kollegen fg in stattweb.de), hält er entgegen:
„Auch ist inzwischen bekannt, dass Adenauer von Eichmanns Fluchtort wusste und in den USA intervenierte, diesen den Israelis nicht bekannt zu geben. Der Bundeskanzler der Nachkriegszeit deckt die Personifizierung des Judenmords! Wie viele andere war auch ich damals der Auffassung, dass die Palästinenser den Preis für die deutschen Verbrechen zahlten“.
1973 besetzt er zusammen mit anderen späteren RAF-Mitgliedern wie Susanne Albrecht, Wolfgang Beer, Stefan Wisniewski, Christa Eckes, Bernd Rössner, Sigrid Sternebeck die Ekhofstraße. Die gesamte Linke ist in dieser Bewegung aktiv, die von BewohnerInnen und MieterInnen des Viertels aktiv unterstützt wird. Aus dieser Zeit stammt wohl auch ein Foto von Karl-Heinz, das es auf die Titelseite der Bild-Zeitung schaffte. Der scheinbare Prototyp der schlechten Metapher des „Politrockers“: Jung, langhaarig, gutaussehend, vermummt und militant! Ein Foto, das eine ganze Generation beeinflusst haben dürfte, ihn aber vermutlich auch in den Knast gebracht hat. Nach der Räumung der Ekhofstraße sitzt Dellwo ein Jahr im Gefängnis wegen Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Während eines Hofgangs von Werner Hoppe in Handschellen, ein damals relativ bekannter RAF-Gefangener, zerlegt er seine Zelle, wirft Gegenstände in den Hof und ruft: „Schweine“ und „Nehmt die Handschellen ab“! Gleich mehrmals landet er in der „Hamburger Glocke“, eine berüchtigte fensterlose Zelle, in der auf einem Betonsockel Holzbalken angebracht waren mit Vorrichtungen zum Fesseln der Hände und Füße.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet ein Proletarier aus der RAF dem Geschichtsautomatismus der Linken wie auch der RAF selbst widerspricht. „Na, wenn die Logik der Dinge zur Revolte treibt, dann brauchen wir ja nichts mehr zu machen“, äußerte der undogmatische Linke auf damaligen Plenen. Nach dem Tod von Holger Meins 1974 verschärft sich die Situation zusehends. Schließlich wird 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm besetzt, wobei der Militärattaché von Mirbach und der Wirtschaftsreferent Hillegaart erschossen werden, Ulrich Wessel stirbt, als eine Handgranate zu früh losgeht und Siegfried Hausner wird schwer verletzt durch die Explosion der eigenen Sprengladung. Er starb am 5. Mai im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Dellwo saß die volle Strafe von 20 Jahren ab und wurde nach unzähligen lebensbedrohlichen Hungerstreiks gegen die Haftbedingungen 1995 entlassen. Die Gesprächsführung von Petersen und Twickel ist vorbildlich und ausgesprochen kenntnissreich.
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Die Rezension erschien zuerst im März 2008 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, hsc, 01/2011)
Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel.
Edition Nautilus, Hamburg.
ISBN: 978-3-89401-556-5.
224 Seiten. 14,90 Euro.