Das Lehrerhasserbuch
- Buchautor_innen
- Lotte Kühn
- Buchtitel
- Das Lehrerhasserbuch
- Buchuntertitel
- Eine Mutter rechnet ab
Ein Buch für Kinderlose, die ihre eigene Schulzeit vergessen haben, aber in der Familienrunde doch teilnahmsvoll zu den Müttern ihrer nichtversetzten Neffen und Nichten reden möchten.
Der alte Bundeskanzler und die neue Familienministerin haben eines gemeinsam: sie reden bei jeder Gelegenheit von der Zukunft unserer Kinder - meist, um ihnen in der Gegenwart alles vorzuenthalten. “Die Kinder, diese Hirnbergwerke, unser kostbarstes Kapital“: der Spruch kommt von beiden und allen dazwischen auch.
Eine, die diesen Gedanken verinnerlicht, ist Lotte Kühn, sonst auch als Gerlinde Unverzagt bekannt und mit pädagogischem Allerlei hervorgetreten. Sie stammt aus Hamburg, muss wohl dem mittleren Management angehören und hat über vier Kinder weg einen unbändigen Brass auf die deutsche Lehrerschaft entwickelt. Den hat sie in Das Lehrerhasserbuch in die Welt geschrien und ungeheuren Beifall geerntet. Das Buch liegt im Supermarkt neben der Käsetheke und wurde im SPIEGEL teilweise vorabveröffentlicht. Es ist ein erschütternder Beweis für die Klemme, in der inzwischen zahllose Eltern stecken, vor allem solche aus dem aufstiegsbewussten Mittelstand. Ernst Blochs ewiges ”Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechtens besser aus” hat hier seine furchtbare Wahrheit gefunden. Seit den Jahren der Stagnation fühlen viele Mittdreißiger und vor allem Mitdreißigerinnen sich ausgebremst, vom Abstieg bedroht und wollen mit aller Macht den Stafettenstab an die Kinder weitergeben. Die sollens über die Hürde weg schaffen.
Innerlich zeigt sich das so: die meisten Eltern wollen mit Recht nicht, dass ihre Kinder so gezwiebelt werden, wie das Opa und Oma von früher her in Erinnerung haben. Von daher der neue Imperativ, der Kalvin, Kant und Max Weber mit ihrer innerweltlichen Askese aus dem Feld schlägt: alles muss Spaaassss machen. Selbst der Erdbeerpflücker mit abgeknicktem Rücken posaunt in die Fernsehkamera, dass alles sehr viel Spaaassss bereitet. Dass der neue Zwang zum Spaß Grinskrämpfe mit sich bringt, dass er also neue Zwangsrituale quälendster Art über alle verhängt, ist das eine. Das andre aber, dass dieselben Eltern, vom Aufstiegswillen besessen, zugleich den Spaß als bittersten Feind empfinden: Leistung muss her. Der Lehrer hat in der Klasse für Ruhe zu sorgen. Noten ab dem ersten Schuljahr!
Solchermaßen zerrissen sind weder Lotte Kühn noch ihre begeisterten Fans in der Lage, die materielle Misere des heutigen Schulwesens zu durchschauen. Sie beißen sich blind am nächsten fest, der dann an allem schuld ist: Die Lehrerin und der Lehrer. Die sind - laut Frau Kühn - entweder zu schlampig oder zu korrekt gekleidet. Sie haben entweder ihre Kindheit vergessen oder - noch häufiger - nie ausgelebt. Jetzt wollen sie in Kuschelecken mit den Kleinchen alles nachholen.
Um nur ein Beispiel für das Kleben an der Oberfläche heranzuziehen: In Hamburg spielt die Frage von Ziffernnoten in den ersten Schuljahren offenbar eine große Rolle - alternativ zur seit 1968 immer wieder aufgestellten Forderung, sprachliche (schriftliche) Bewertungen der Hervorbringungen und Fähigkeiten zu geben. Ich war zehn Jahre lang Lehrer in einem Internat, in dem für jedes Tertial für jeden Schüler in jedem Fach eine solche schriftliche Beurteilung erstellt wurde - die Ziffernnote nur als Kürzel daneben. Es forderte viel Sorgfalt und Konzentration, den Einzelnen gerecht zu werden - ohne Schmeichelei und ohne Vernichtungsschläge. Und damit enorm viel Zeit. Dafür sagte eine solche Bewertung im Gegensatz zur bloßen Ziffer drei auch etwas aus. 3 - das kann in Deutsch in der Mittelstufe bedeuten: fast fehlerfreie Diktate, aber etwas phantasielos, ohne groß eigene Beiträge im Unterricht. Es kann aber auch fast das Gegenteil meinen: etwas unkonzentrierter und fahriger Typ, mit sporadisch auftauchenden guten Einfällen, die aber in der Regel nicht beharrlich genug verfolgt werden. usw. Frau Kühn kennt als Alternative zur Zahlennote nur aufgeklebte Sonnen, Monde und Sterne die natürlich noch weniger sagen als Ziffern. Seltsame Verhältnisse müssen in Hamburg herrschen!
So viele Lehrer und vor allem Lehrerinnen sie auftreten lässt im Hasserbuch, wir kennen sie alle immer schon vorher - und das macht den Erfolg. Da schlurfen Schröders faule Säcke über die Bühne, dicht gefolgt von den Achtundsechzigern in Cordhosen und Schweißflecken unter den Hemdsärmeln. Lehrer Lämpel, geklont, kohortenweise, Professor Unrat nur einmal, die Sorte hat ausgedient. Tapeten aus lauter Klischees. Alle aber als Beamte. Das Beamtentum - wer hätte von einer so kapitalbegeisterten und staatstreuen Autorin gedacht, dass sie es verabscheut. Und nicht etwa wegen dem Eid, nicht wegen des Streikverbots - das schätzt sie sehr und erfindet sogar, man hätte mit dem Eid versprochen, sich widerspruchslos mitten im Schuljahr dorthin versetzen zu lassen, wohin der Schulrat einen gern hätte. Auch nicht wegen der Obrigkeitshörigkeit der Beamten. Der Obrigkeit ist Lotte hold: an sie wendet sich bittend, flehend, anklagend, zornig die enttäuschte Mutti. Nein, sie hasst das Beamtentum, weil man in diesem nicht so schnell gefeuert werden kann wie in anderen Berufen. Während in Frankreich die Leute des Öffentlichen Dienstes als Vorkämpfer angesehen werden, die zum Beispiel im Streik noch Rechte für andere herausholen und verteidigen, wo die Privaten sich nicht mehr trauen, entwickelt Lotte Kühn einen düsteren Masochismus: wenns allen dreckig geht, warum sollen gerade diesen Säcken nicht?
Was Lotte Kühn und ihre Fans überhaupt nicht sehen, ist die Produziertheit der Produzenten, die Erzeugtheit der Lehrermisere. Richtig wütend wird sie auf Lehrergewerkschaftler, die wegen einer oder zwei oder drei Wochenstunden mehr Lärm machen, oder gar Sonderkonferenzen abhalten. Wenn sie von Lehrkräften hört, die sich gegen Klassen von 35 und mehr wehren, wird ihr kotzübel. Und wie jämmerlich: eine Lehrerin, die nicht mitten im Schuljahr Schule und Klasse wechseln will. Waschlappen, Krankfeierinnen, “Flachzangen” allesamt!
Was ihr wirklich verborgen bleibt, ist die Begrenztheit der Arbeitskapazität. Die hat sich im Lauf weniger Jahre eingependelt. Es ist ein bisschen wie mit der Kartoffelsuppe, wenn unerwartet Gäste kommen. Man verlängert mit Wasser, solange nur noch ein Restchen Kartoffelaroma bleibt. Zwei Wochenstunden mehr: gut, müssen eben ein paar Stunden aufmerksames Lesen eingelegt werden. Statt 25 35 in der Klasse: kommt eben auf jede Schülerin und jeden Schüler nur noch 2 Minuten Lehrerzuwendung. Das sollte besonders jemanden verdrießen, der - wie Frau Kühn/Unverzagt - immer darauf besteht, dass jedes Kind gemäß seiner unvergleichlichen Eigenart besonders angegangen wird.
Mit einem Wort: die materiellen Umstände - die ganz konkreten Klassenzimmer, Lehrräume, Ausstattungen sind es, die aus noch halbwegs wohlgesonnenen Lehrpersonen ziemlich unausweichlich die nölenden, langweiligen, nervend-genervten Wesen machen, die nur noch zu einem gut sind: beim Klassenabend nach zwanzig Jahren wohlige Schauder zu erzeugen: "Den haben wir auch überlebt". ( Ich war auch vierzig Jahre an dem Spiel beteiligt und konnte dabei weder besser werden, noch andere besser machen, als ich sie vorgefunden hatte).
Die Blindheit für die prägende Struktur zeigt sich am vernichtendsten im Schlusskapitel. Da fühlt sich Lotte Kühn doch verpflichtet ihre Traumschule auszumalen: Sie bräuchte nur eines: Lehrerinnen und Lehrer, die mehr oder weniger ganztägig in der Schule präsent sind. Da sehen sie dann, wie Hausaufgabenmachen und Hausaufgabenüberwachen ist. Frau Kühn vergisst in der Eile, dass in der Gesamtschule ihres Hoffens Hausaufgaben im alten Sinn entfielen: dafür gäbe es dann Übungsstunden. Aber sie steht auf Hausaufgaben an sich. Die sind ihr das wahre Modell der Pflichterfüllung.
Das Beste aber daran: da könnte sie - nach Belieben und jederzeit - jeden Lehrer am Schlafittchen halten, nach dem es ihr Mutterherz gelüstet. Und jeden Schüler, jede Schülerin ebenso, die was auf dem Herzen haben. Dass man auch unter diesen Traumumständen nicht jederzeit jedermann aus seiner Tätigkeit reißen dürfte, muss jemand Frau Kühn bei Gelegenheit noch erklären. Vor allem das eine: Geld. Offenbar geht Frau Kühn davon aus, dass ohne jede Aufwendung die Mehrarbeit und Mehranwesenheit der Lehrer im Schulgebäude geleistet werden könnte. Bei all ihren Märschen durch Lehrgebäude hat sie offenbar noch nie einen Blick in das/die Lehrerzimmer geworfen. Sonst wüsste sie, dass man da ziemlich Stuhl an Stuhl sitzt, öfter in dem gewünschten Austausch untereinander. Ein Platz, um auch nur in Ruhe Diktate zu korrigieren: Fehlanzeige. Für weitere ungestörte Vorbereitungen - und die sind entgegen Frau Kühns Vorstellungen doch hin und wieder unerlässlich: keinerlei Möglichkeit.
Kosten darfs nix! Bleibt also nur der Rückgriff auf die menschliche Selbstankurbelung, das Flankenpeitschen, die Selbst-Vertanzknopfung. Mit einem Wort: auf den Idealismus. Mit dem rechneten schon die mürrischen staatlichen Dulder von Gesamtschulversuchen in den siebziger Jahren. Es meldeten sich tatsächlich Freiwillige, vor allem auch Linke. Und für ein Butterbrot entwarfen und verwarfen sie curricula, entwickelten Beobachtungsserien, schrieben Papers für und gegeneinander. Und bekämpften sich bis aufs Blut. Aber der Satz von der Erhaltung der Energie gilt unbeschränkt. Nach ungefähr zehn Jahren waren auch die stärksten und zähesten erledigt und senkten die Fahne. Darauf befriedigt die Schulbehörde: "wir wusstens ja vorher, aber haben euch alle Freiheit gelassen. Jetzt ists heraus.” Damals wurden immerhin ein paar materielle Voraussetzungen spendiert. Ganz im Gegensatz zu heute, wo - bei ständiger Beteuerung des Gegenteils - die Wochenstunden und Schülerzahlen pro Klasse hinaufgesetzt und die materiellen Möglichkeiten beschnitten werden.
Frau Lotte Kühns wahrscheinlich liebste Lehrerin: diejenige, die in der ntv-Reklame zerfurcht, aber unverdrossen vor ihren dreißig Kindern steht, kurz vor dem Heulen, aber rechtzeitig eine Thomapyrin nimmt. Schon geht alles wie von selbst. Es hat sich nichts geändert: aber sie merkt es nimmer so. Leute, die Tabletten nicht vertragen, nehmen Lotte Kühns Buch: man regt sich königlich auf und wieder ab. Und abends sitzen die Kinder um den Küchentisch, wie immer, vor lauter Aufgaben, die der Lehrer wieder einmal überhaupt nicht erklärt hat. Geändert wird nichts! Aber für den Augenblick wird uns wohler. Bei mittlerer Lesegeschwindigkeit dreieinhalb Stunden lang.
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Die Rezension erschien zuerst im Juli 2006 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, ast, 03/2011)
Das Lehrerhasserbuch. Eine Mutter rechnet ab.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München.
ISBN: 978-3-426-77834-0.
224 Seiten. 7,95 Euro.