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Das Gespenst einer freien Welt

Buchautor_innen
Marc Fisher
Buchtitel
Sehnsucht nach dem Kapitalismus

In zwei späten, nun posthum veröffentlichten Texten zeigt Mark Fisher die 1970er Jahre als Zeit linker Kämpfe und von Experimenten, die neue Verbindungen stifteten.

Gegenwartsdeutungen häufen sich, denen zufolge der Zyklus gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, der mit Occupy Wallstreet einsetzte und im Arabischen Frühling und in Black Lives Matter Höhepunkte fand, ans Ende gekommen sei. Die Stunde linker Selbstkritik ist angebrochen. Sie fällt gewohnt vernichtend aus: Nicht nur sei der Aufbruch zum Erliegen gekommen, er habe außerdem keinerlei bleibenden Strukturen hinterlassen, auf die sich kommende Bewegungen stützen könnten. Die Schuldigen an dieser Niederlage sind schnell ausgemacht: Es sind die Linken selbst. Mit der Betonung individueller Betroffenheit, der Moralisierung von Politik und einer Fetischisierung des Unmittelbaren sei die hektische Identitätspolitik der letzten zwanzig Jahre zur Komplizin des identitären Backlash geworden. Der Sündenfall liegt dabei, wie könnte es anders sein, in der Abwendung vom Klassenkampf und Hinwendung zu kulturellen Fragen, die mit dem Anbruch der Postmoderne verbunden wird. Der Soziologe Luc Boltanski und die Ökonomin Ève Chiapello hatten schon 1999 die Sozialkritik der alten Linken einer Künstlerkritik der neuen Linken gegenübergestellt. In der zeitgenössischen Management-Literatur machten sie dann eine kongeniale Aufnahme der Künstlerkritik aus, die damit zur Wegbereiterin des Neoliberalismus geworden war. Eine wirkmächtige Erzählung war in der Welt, die bis heute die Debatten bestimmt.

Gut, dass dieser Tage zwei Texte des britischen Kulturtheoretikers Mark Fisher von Christian Werthschulte beziehungsweise Alexander Brentler ins Deutsche übersetzt worden sind, die zur Hochzeit des jüngst vergangenen Zyklus’ entstanden sind. Sie enthalten eine Flaschenpost: Denn in der 2016 verfassten Einleitung zum ungeschrieben gebliebenen Buch „Acid Communism“ sowie in der Mitschrift des letzten Seminars, das er am Südlondoner Goldsmiths College gab, bevor er sich am 13. Januar 2017 noch während des laufenden Semesters das Leben nahm, stellt Fisher die Plausibilität dieser Erzählung grundsätzlich infrage: Was wäre, wenn nicht die Künstlerkritik schnurstracks in den Neoliberalismus führte, sondern vielmehr die Unfähigkeit der Traditionslinken, den gegenkulturellen Aufbruch aufzugreifen? Beide Texte widmen sich auf unterschiedliche Weisen dem Versuch, die hinter dieser Frage steckende These zu entwickeln. Sie sichten dafür das gegenkulturelle Arsenal erneut und enthalten so gerade wegen ihres skizzenhaften Charakters Anregungen für die Gegenwart.

Die Siebzigerjahre als Kampffeld und eine Debatte um 2015

Zu diesem Zweck entwirft Fisher zunächst ein ungewohntes Bild der Siebzigerjahre: In seiner Rekonstruktion handelt es sich nicht um bleierne Jahre, in denen die Energien von 1968 schließlich versickerten. Das rote Jahrzehnt zeigt sich vielmehr als ein heftig umkämpftes Terrain, auf dem Linke zunächst maßgebliche Geländegewinne erzielten, bevor die neoliberale Konterrevolution brutal zurückschlug. Fishers überraschende Schlussfolgerung ist, dass sich diese Konterrevolution daher nicht wie üblicherweise angenommen gegen das Bündnis aus Marktwirtschaft und Sozialdemokratie gerichtet habe, das den Klassenkompromiss der Nachkriegszeit geprägt hatte. Dieses Bündnis war Ende der Sechzigerjahre vielmehr ohnehin auf bestem Wege, an seinen eigenen Widersprüchen zu zerbrechen. Und ihr Gegner war auch nicht der sich in seinem langsamen Niedergang einrichtende realsozialistische Ostblock, der als lustvoll inszenierte Drohkulisse für den „freien Westen“ herhalten musste. Hauptfeind waren jene „demokratisch-sozialistischen und libertär-kommunistischen Experimente“ (Fisher 2016, S. 571), die die Gegenkultur auszeichneten. Für Fisher ist ausgemacht, dass diese Experimente die radikalste Infragestellung der zeitgenössischen kapitalistischen Ordnung darstellten. Geburtshelfer*innen der kapitalistischen Offensive namens Neoliberalismus, die bis heute anhält, waren dann aber gerade nicht Künstler*innen und ihre existenzialistisch grundierte Kritik an Langeweile, Normalität und Alltag, wie sie auch die gegenkulturellen Experimente prägte, sondern eben jene sozialdemokratischen Parteipolitiker und Gewerkschaftssekretäre, die stur an den Kompromissen der Nachkriegsordnung hatten festhalten wollen, die ihnen ihre eigene – relativen – Privilegien eingebracht hatten, und sich deswegen den jungen Wilden entgegenstellten; ähnlich verheerend müssen wir uns nach Fisher aber auch das „strenge leninistische Über-Ich“ (S. 77) am andere Ende des linken Spektrums vorstellen, für das nur die Revolution, und zwar eine vollständige, galt: In Gestalt von Politkadern der zahllosen K-Gruppen und Ausbauorganisationen wäre es der als unproletarisch diffamierten langhaarigen Lebensfreude von Freaks und Beatniks aber auch der spontanen Disziplinlosigkeit lebenshungriger Fabrikarbeiter*innen am liebsten mit der Schere auf den Pelz gerückt.

Die Warnung, die Fischer vor den Sachverwalter*innen des Nachkriegskompromisses ausspricht, könnte auch angesichts aktueller Diskussionen hellhörig machen. Den Kontext für die Intervention Fishers stellte aber die Debatte um einen linken Akzelerationismus dar, die Mitte der Zehnerjahre zumindest das Feuilleton eine Weile beschäftigt hielt. Sie bildet den Aufhänger für die erste Seminarsitzung. Die Politologen Nick Srnicek und Alex Williams hatten bereits 2013 im Rückblick auf die Occupy-Bewegung eine scharfe Kritik an dem formuliert, was sie als folkloristischen Lokalismus – kurz Folkpolitik – bezeichneten: Die Beschränkung auf horizontale, basisdemokratische Verbindungen, die aus Angst vor der Korrumpierung durch Macht und Hierarchien langfristige Organisierung und Institutionalisierung fahrlässig ignoriert hätten. Srnicek und Williams plädierten dagegen dafür, sich die Potenziale des entwickelten Kapitalismus zunutze zu machen. Dafür griffen sie eine in den Siebzigerjahren prominente Denkfigur auf, für die sich Versatzstücke in den Texten Gilles Deleuze’, Félix Guattaris oder Jean-François Lyotards aufspüren lassen: Nicht indem man den Kapitalismus zurückdrängt, sondern in dem man die in ihm wirkenden (widersprüchlichen) Tendenzen beschleunigt, überwindet man ihn. Zentral dabei ist für Srnicek und Williams die Technik: Während sie der Folkpolitik Technikfeindschaft attestieren, sehen sie gerade in der durch den digitalen Kapitalismus entwickelten Technologie die Chance, gesellschaftlich notwendige Arbeit zu reduzieren, so freie Zeit zu schaffen und Überfluss für alle zu produzieren. Die Rede vom fully automated luxury communism machte die Runde.

Eine eigenwillige Beschleunigung

Fisher bezieht sich nun in einer eigenwillig doppelten Weise auf diese Diskussionen. Einerseits bejaht er sie und macht sich innerhalb des Kapitalismus auf die Suche nach Momenten, die ihn überschreiten. Andererseits verschiebt er den Blick entschieden von institutionellen und technologischen Rahmenbedingungen aufs kulturelle Feld. Man kann sich bei vielen Beispiele, die Fisher bringt, lebhaft vorstellen, dass sie von Akzelerationist*innen als folkloristisch diffamiert worden wären: Fündig wird er nämlich in experimenteller Pop- und Rockmusik, psychedelischer Drogenkultur, Bürgerrechts- und zweiter Frauenbewegung, avantgardistischer Kunst und Fernsehunterhaltung sowie in allen Formen jugendlichen Aufbegehrens und Müßiggangs. Es mag Fisher-Leser*innen überraschen, wie positiv sich der Kulturtheoretiker, dessen Ausgangspunkt der Post-Punk gewesen war, in diesen späten Texten auf das Jahrzehnt der Hippies bezieht – handelt es sich bei ihnen doch immerhin um die Todfeinde der Punks. Mehr noch, hatte Fisher nicht 2013 mit seinem kontroversen Artikel „Raus aus dem Vampirschloss“ als Konsequenz einer Polemik gegen eine vorgeblich in den sozialen Netzwerken beheimatete „[m]oralische[n] und säuerliche[n] Salonlinke“ (Fisher 2013, S. 550) selbst eine proletarische Wende vollzogen, die noch heute gerne zur eingangs erwähnten links-linken Kritik herangezogen wird? Tatsächlich findet sich auch im Veranstaltungstranskript der mit der Politologin Wendy Brown formulierte Vorbehalt einer allzu großen Anhänglichkeit an die eigenen Verletzungen. Damit ist die Betonung eines von gesellschaftlichen Gruppen oder Individuen erlittenen Unrechts gemeint, die identitätsstiftend und -fixierend wirkt. Moralismus und Verurteilungslust sind Konsequenzen aus dieser Anhänglichkeit, die Fisher in der Gegenwartslinken am Werk sah. Er stellt sie im Seminar aber in den weiteren Zusammenhang einer linke Melancholie, die nicht in der Lage sei, das geliebte Objekt (also die gescheiterte Revolution) zu betrauern, und sich daher in den vergangenen Niederlagen einrichte, statt nach Möglichkeiten für zukünftige Siege zu suchen. Doch bereits in dem Text von 2013 findet sich die Idee von „Politik als psychedelische Dekonstruktion der herrschenden Realität“ (Fisher 2013, S. 548), die Fisher schon zu diesem Zeitpunkt mit den Sechziger- und Siebzigerjahren glaubte identifizieren zu können. Was genau hoffte er, dort zu finden?

Die Gemeinsamkeit eines Beatles- oder Temptation-Songs mit einer geschwänzten Schulstunde oder einem blaugemachten Montagmorgen liegt für Fisher darin, dass sie an ein und dasselbe Begehren rühren: „Denn sicher war der Schlüssel zur Gegenkultur – bei allen ihren Fehlern, und davon gab es viele – ihre arbeitsfeindliche Ethik, die sie in den Mainstream brachte.“ (S. 74) Es handelt sich dabei um ein Begehren im Kapitalismus in jenem Doppelsinn, in dem auch der etwas umständliche deutsche Titel der Seminarmitschrift – „Sehnsucht nach dem Kapitalismus“ – formuliert ist: Ein Begehren nach den Dingen und Erfahrungen, die der Kapitalismus anzubieten hat, aber eben auch ein Begehren nach dem, was in ihnen über den Kapitalismus hinausweist. Bildungsexpansion und Konsumkapitalismus förderten laut Fisher das Florieren und Zirkulieren dieses Begehrens. Das „pink-weiße Sanyo-Transitorradio“ der Schwester des britischen Radiomoderators Danny Baker erweist sich geradezu als ein heimlicher Held des Acid Kommunismus (Fisher 2016, S. 580), was bei Fishers ausgesprochener Musikbegeisterung vielleicht nicht überrascht, aber zeigt, dass er äußerst aufmerksam für die technologischen, institutionellen, medialen und materiellen Bedingungen der von ihm untersuchten Sehnsucht war. Veranschaulicht wird sie aber immer wieder vor allem an der Erfahrung eines durch Psychedelika induzierten Trips, obwohl Fisher selbst Drogen eher ablehnend gegenüberstand. Was passiert auf einem Trip? Die Welt, wie sie ist, beginnt sich aufzulösen. Sie wird flüssig. Das härteste Material und die starrste Struktur werden in ihrer Veränderbarkeit wahrnehmbar. Ein Schlüsselbegriff ist daher Plastizität, also eine Formbarkeit, die zu dauerhaften Veränderungen führen kann. Darin berührt sich Fishers Neubewertung der Gegenkultur mit seinem Interesse für weird tales und Phantastik, die mit literarischen oder filmischen Verfahren das Unheimliche der Realität und die Realität des Unheimlichen selbst sichtbar machen, eine anhaltende Faszination, die ihren Niederschlag in dem so spröden wie faszinierenden Buch „Das Seltsame und das Gespenstische“ gefunden hat.

Diese Aufmerksamkeit für das Seltsame darf aber nicht mit jener Weltflucht verwechselt werden, die häufig (und vermutlich zu Recht) mit den Hippies assoziiert wird. Der wichtigste praktische Anknüpfungspunkt ist für Fisher stattdessen das von der zweiten Frauenbewegung entwickelte consciousness raising, also der Versuch, im gemeinsamen Besprechen der privaten Sorgen deren gemeinsame Ursache in der Existenz als Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft zu erkennen. Diese Bewusstseinsbildung steht für Fisher in einer Reihe mit der Kultivierung eines proletarischen Bewusstseins – eine Vorlesung widmet sich etwa Georg Lukács’ wichtigen Texten aus „Geschichte und Klassenbewusstsein“ – durch Arbeiterkultur und Popmusik, Schwarzer Selbstermächtigung, wie sie sich in einem Slogan wie „black is beautiful“ ausdrückt, oder der homosexuellen und queeren Pride. Für sie alle stellt die psychedelische Bewusstseinserweiterung das Modell, weil an ihr besonders augenfällig wird, was aber genauso für die anderen Formen der Bewusstseinsbildung gilt: Sie reichen bis in die Weisen zu denken, zu fühlen und die Welt wahrzunehmen. In der ironischen Abwandlung von Lenins berühmter Formulierung vom Kommunismus als Sowjetmacht plus Elektrifizierung findet Fisher schließlich die Formel für den von ihm vorgeschlagenen Acid Kommunismus: „Psychedelisches Bewusstsein + Klassenbewusstsein“ (S. 74). So wird auch deutlich, welche Möglichkeiten zu neuen Verbindungen die Gegenkultur geschaffen hatte. Fisher erwähnt den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen in der Chevy-Vega-Fabrik in Ohio 1972, in der Schwarze und weiße Arbeiter*innen sich selbstbewusst zusammentaten, um „die demokratische Kontrolle sowohl über ihren Arbeitsplatz als auch über ihre Gewerkschaften“ (Fisher 2016, S. 601) zu erringen. Es verwundert nicht, dass Fisher in seinen letzten Lebensjahren gemeinsam mit anderen versuchte, das consciousness raising in seinen politischen Zusammenhängen zu erneuern.

No way out but through

Der neoliberale Gegenangriff musste sich folgerichtig genau auf dieses Bewusstsein über die Veränderbarkeit der Welt richten. Schon die Möglichkeit, sie nur zu denken, sollte ausgelöscht werden. Fisher zeichnet – im Anschluss an den Philosophen Herbert Marcuse und den berühmten Satz Karl Marx’ und Friedrich Engels vom Gespenst des Kommunismus – den Neoliberalismus als einen Geisterjäger oder Exorzisten, der unermüdlich damit beschäftigt ist, das Gespenst einer Welt, die frei sein könnte, zu jagen. Einem bis heute beliebten Mittel dieser Geisteraustreibung sollte sich die nicht mehr abgehaltene achte Sitzung unter dem Titel „Die Erfindung der Mitte“ widmen. In der Einführung skizzierte Fisher die ihr zugrundeliegende Beobachtung, dass in den Achtzigerjahren durch konservative Politiker*innen eine Klassenanrufung geschaffen worden war, die sich gezielt außerhalb des Klassengegensatzes verortete, gewissermaßen eine Nicht-Klasse: die Mittelschicht. Praktischerweise brachte sie das Klassenbewusstsein der Arbeiter*innenklasse zum Verschwinden, während die Besitzenden zum Angriff übergingen. Der Klassenkampf von Oben konnte nun fast ohne Widerstand fortgesetzt werden. In seinem berühmten Pamphlet „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative“ von 2009, hat Mark Fisher dargestellt, wie der Neoliberalismus die kollektive Vorstellungskraft schließlich derart verstümmelt hat, dass es leichter fällt, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Die Formel ist zwar mittlerweile ziemlich abgegriffen, gewinnt aber angesichts einer Klimakrise, vor der wir erstarren wie das Kaninchen vor der Schlange, nur an Überzeugungskraft.

Es ist aufschlussreich, dass die letzte Seminarsitzung vor der Winterpause, aus der Fisher nicht mehr wiederkehren sollte, sich Lyotards selbsterklärten „bösem Buch“ widmete, der „Libidinösen Ökonomie“. Böse, ja geradezu skandalös war und ist das Buch, weil Lyotard, der zuvor in undogmatischen kommunistischen Gruppen aktiv gewesen war sowie als sogenannter Kofferträger für die Algerische Unabhängigkeitsbewegung Geld geschmuggelt hatte, in drastischen Formulierungen den Gedanken entwickelte, dass die Arbeiter*innen ihre Unterwerfung im Kapitalismus wollen – und zwar bis hin zu ihrer physischen Vernichtung. In dem äußerst schwierigen Text von 1974 versuchte der französische Philosoph schließlich noch die Kapitalismuskritik als Teil der Begehrensstruktur des Kapitalismus zu begreifen – und durchzuexerzieren, in welche Aporien das führt: „Es gibt“, so fasst Fisher zusammen, „eine Art Komplizenschaft zwischen Marx, der das Kapital anklagt, und dem Kapital selbst.“ (S. 255) Wir können beobachten, wie Fisher zusammen mit seinen Studierenden bisweilen ratlos vor diesem Text steht. Immer wieder insistiert Fisher aber darauf, dass Lyotards Buch ein grundlegendes Problem aufwirft: dass es nämlich keinen Standpunkt außerhalb des Kapitalismus gibt; und das heißt eben auch, kein von ihm unberührtes Begehren, von dem aus seine Überwindung gedacht werden könnte: „no way out“, so scheint Fisher uns wenig hoffungsvoll zuzurufen, „but through“.

Für diesen Weg hindurch braucht es, auch darauf verweist Fisher, einen langen Atem. So hatte die Musikjournalistin Ellen Willis, der Fisher begeisterte Passagen widmet, bereits Ende der Siebziger die Ungeduld als einen Grund für das Abklingen des gegenkulturellen Überschwangs identifiziert. Man habe es, so Willis, nun mal mit zwar menschengemachten, aber nichtsdestotrotz äußerst hartnäckigen Strukturen zu tun, ob in der Politik, der Wirtschaft oder im Privaten. Manchmal aber fehlt die Kraft. Immer wieder hat sich Mark Fisher ausgehend von seiner eigenen Erkrankung mit Erschöpfung, Burnout und Depression als einem politischen Problem beschäftigt: Wie sie entpolitisiert und individualisiert werden; wie sie politische Aktivitäten verhindern; aber auch, wie Politik, wo sie gelingt, zum wirksamen Medikament gegen die depressive Vereinzelung werden kann. Die beiden späten Texte Fishers laden dazu ein, sich von den realexistierenden Hoffnungen, Sehnsüchten und Fantasien der Vergangenheit, mögen sie noch so abwegig scheinen, inspirieren zu lassen. Die Voraussetzungen für das Experiment mit der Freiheit mögen heute weitaus schlechter seien als noch vor 50 Jahren. Darauf zu verzichten wird sich angesichts des Angriffs von rechts aber rächen. Seinen Kurs wollte Fisher, so kündigte er in der Einführung an, mit „etwas Positivem ausklingen [] lassen“: dem Xenofeminismus, jenem jüngsten Versuch, die neuste Technologie zur Befreiung von Kapitalismus, Männerherrschaft, dem ohnehin viel zu engen Korsett Zweigeschlechtlichkeit und am Ende noch der Schwerfälligkeit des Körpers zu nutzen. Science-Fiction? „Ich glaube, dass sich hier viele spannende Möglichkeiten für eine postkapitalistische Politik der Gegenwart eröffnen“. (S. 70)

Verwendete Literatur

Fisher, Mark (2020 [2016]): Acid Communism (unvollendete Einleitung), aus dem Englischen von Christian Werthschulte. In: ders. K-punk. Ausgewählte Schriften (2004 – 2016), Edition Tiamat, Berlin, S. 569–603. Fisher, Mark (2020 [2013]): Raus aus dem Vampirschloss, aus dem Englischen von Robert Zwarg. In: ders. K-punk. Ausgewählte Schriften (2004 – 2016), Edition Tiamat, Berlin, S. 546–561.

Marc Fisher 2024:
Sehnsucht nach dem Kapitalismus. Herausgegeben von: Matt Colquhoun. Übersetzt von: Alexander Brentler.
Brumaire Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-948608-35-4.
24,00 Euro.
Zitathinweis: Morten Paul: Das Gespenst einer freien Welt. Erschienen in: Bündnisse schmieden. 73/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/yVJjU. Abgerufen am: 16. 10. 2024 02:19.

Zum Buch
Marc Fisher 2024:
Sehnsucht nach dem Kapitalismus. Herausgegeben von: Matt Colquhoun. Übersetzt von: Alexander Brentler.
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ISBN: 978-3-948608-35-4.
24,00 Euro.