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Class matters

Buchautor_innen
Cedric G. Johnson
Buchtitel
After Black Lives Matter
Buchuntertitel
Policing and Anti-Capitalist Struggle
Die Black Lives Matter-Bewegung braucht Solidarität aber auch Kritik, da sie es versäumt, die tatsächlichen Ursachen von Polizeimorden und Masseninhaftierung zu benennen.

Nach der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen Polizeibeamten am 25. Mai 2020 kam es in allen Bundesstaaten der USA zu Massenprotesten. Millionen Menschen versammelten sich auf den Straßen, füllten Parks und Plätze in großen wie in kleinen Städten. Manche Beobachter*innen sprechen von den größten Protesten in der US-Geschichte. Solidarität mit Opfern von Polizeigewalt war im Sommer 2020 allgegenwärtig; die grundlegende Kritik von Black Lives Matter, dass Polizeigewalt überproportional Schwarze Menschen trifft, fand erstmals breite Anerkennung. Selbst radikalere Forderungen wie der Ruf, der Polizei Mittel zu entziehen und diese stattdessen in öffentliche Infrastruktur zu investieren („defund the police“), wurden vorübergehend von großen Teilen der US-Bevölkerung unterstützt.

Nichtsdestotrotz ist es Black Lives Matter nicht gelungen, Polizeimorde und das System der Masseninhaftierung wirksam einzudämmen. Diese Beobachtung steht am Anfang von Cedric Johnsons „After Black Lives Matter“. Zwar wurden in einigen Bundesstaaten Polizeireformen eingeleitet, die etwa die Überarbeitung von Regeln zur Anwendung von Gewalt, die Einführung von Datenbanken über Fehlverhalten von Beamt*innen oder die Schaffung gewaltfreier Einsatzteams für psychische Krisensituationen umfassen. Auch verpflichteten sich die Regierungen einiger Großstädte dazu, die Ausgaben für die Polizei zu reduzieren und vermehrt in Gewaltprävention oder soziale Projekte zu investieren. In anderen Städten, darunter Minneapolis, wurden Polizeibudgets jedoch erhöht. Und insgesamt änderten die genannten Initiativen nichts an dem grundsätzlichen Problem, dass in den USA jährlich Hunderte Zivilist*innen von der Polizei erschossen werden, Tausende in Gefängnissen sterben und Millionen Polizeikontrollen über sich ergehen lassen müssen.

Rassismus als Ursache von Polizeigewalt

Das Ausbleiben grundlegenden Wandels führt der Autor und Politikwissenschaftler Cedric Johnson unter anderem darauf zurück, dass in weiten Teilen von Black Lives Matter ein falsches Verständnis von der Funktion der Polizei vorherrsche. Die Bewegung versäume es, die tatsächlichen Ursachen von Polizeigewalt zu benennen. Folglich sei sie nicht in der Lage, wirksame Gegenstrategien zu entwickeln.

Aus der Tatsache, dass Afroamerikaner*innen überproportional von Überwachung, Kontrollen und Polizeimorden betroffen sind, werde vielfach geschlossen, dass Rassismus der Grund für diese Gewalt sein müsse. Deutlich werde das an der weiten Verbreitung der Jim Crow-Analogie, die unter anderem von der US-Juristin und Bürgerrechtlerin Michelle Alexander populär gemacht wurde. Jim Crow bezeichnet die umfassende Diskriminierung von Afroamerikaner*innen in den USA nach dem Ende der Sklaverei, insbesondere die bis in die 1960er Jahre bestehende Rassentrennung. Die New Jim Crow-These besagt, dass im Kontext des „war on drugs“ Kriminalitätsbekämpfung als Vorwand genutzt wurde, um ein neues System rassistischer Ausgrenzung zu etablieren. Die seit den 1980er Jahren zu beobachtende massenhafte Inhaftierung von Afroamerikaner*innen erscheint so als historische Kontinuität von Sklaverei und Segregation beziehungsweise als Ausdruck einer unveränderlichen rassistischen Unterdrückung.

Johnson kritisiert diese Analyse als „black exceptionalism“ (Schwarzen Exzeptionalismus, (S. 40, Übers. KS): Afroamerikaner*innen seien zwar in besonderer Weise von Masseninhaftierung und Polizeigewalt betroffen, diese Phänomene seien aber keine ausschließlichen Probleme der schwarzen Bevölkerung. Sie richteten sich vielmehr gegen alle Armen. Das „metanarrative of racial oppression“ (Metanarrativ der rassistischen Unterdrückung (S. 66, Übers. KS) verdecke den grundlegenden Klassencharakter von Polizeiarbeit:

„(...) policing as we know it exists for the defense of property relations, for the protection of retail and touristic spaces of consumption and processes of metropolitan real estate valuation and development, and for the regulation of relative surplus populations who are deemed threats to this accumulation regime.” (Polizeiarbeit, wie wir sie kennen, dient der Sicherung von Eigentumsverhältnissen, dem Schutz von Ladenflächen und touristischen Orten des Konsums, von Prozessen der Aufwertung und Entwicklung großstädtischer Immobilien sowie der Regulierung der relativen Überschussbevölkerung, die als Bedrohung für dieses Akkumulationsregime angesehen wird.) (S. 20, Übers. KS)

Verdeckte Gemeinsamkeiten und falsche Allianzen

Die Überbetonung von Rassismus begünstigt Johnson zufolge liberale und technische Antworten auf das Problem der Polizeigewalt, etwa Antirassismus-Trainings oder den Einsatz von Body-Cams. Johnson räumt ein, dass diese Maßnahmen helfen könnten, Leid zu reduzieren. Sie seien aber nicht geeignet, das Problem exzessiver Polizeigewalt und der Masseninhaftierung an der Wurzel zu packen. Der Fokus auf Rassismus führe ferner zu falschen Allianzen: Er verdecke Gemeinsamkeiten zwischen weißen und schwarzen Opfern von Polizeigewalt und erschwere so deren gemeinsamen Kampf. Zugleich erleichtere er die Vereinnahmung der Proteste durch Konzerne wie Apple, Google oder Amazon, die sich im Zuge der „George Floyd rebellion“ als Kämpfer für soziale Gerechtigkeit inszenierten, indem sie Hunderte Millionen an antirassistische Initiativen spendeten. Dagegen ist Johnson überzeugt: Gegen Masseninhaftierung und Polizeigewalt hilft nicht antirassistische Bewusstseinsbildung, sondern nur der Kampf gegen soziale Ungleichheit und Armut. Er plädiert dafür, breite Bündnisse aufzubauen und Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse zu machen, um die materiellen Grundlagen der gegenwärtigen Polizeikrise anzugehen:

„Our current carceral regime is a fundamental dimension of contemporary capitalism, and, as such, an anticapitalist politics must be at the heart of any attempt to rid society of the problems of policing and mass incarceration that Black Lives matter protests have forced into public consciousness.“ (Unser derzeitiges Gefängnisregime ist eine grundlegende Komponente des gegenwärtigen Kapitalismus, und somit muss eine antikapitalistische Politik im Mittelpunkt jedes Versuchs stehen, die Gesellschaft von den Problemen der Polizeigewalt und der Masseninhaftierung zu befreien, die die Black-Lives-Matter-Proteste ins öffentliche Bewusstsein gerückt haben. (S. 179, Übers. KS)

Damit knüpft Johnson an Überlegungen an, die er erstmals 2017 in seinem vielbeachteten Essay „The Panthers can’t save us now“ formuliert und seither in verschiedenen Publikationen weiterentwickelt hat. In „After Black Lives Matter“ vertieft Johnson seine Thesen, indem er genauer auf die Entwicklung der Polizei im Kontext der Transformation des Kapitalismus in den USA eingeht. Johnson zufolge hat die Polizei im Kapitalismus grundsätzlich die Funktion, Eigentumsverhältnisse und Kapitalakkumulation abzusichern. Was das im Einzelnen beinhaltet, müsse aber für die konkreten gesellschaftlichen Kontexte herausgearbeitet werden. Während es im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert Hauptaufgabe der Polizei war, militante Arbeitskämpfe zu zerschlagen, gehe es im neoliberalen Kapitalismus darum, die prekärsten Teile der Arbeiter*innenklasse beziehungsweise die relative Surplus-Bevölkerung zu disziplinieren. Diese umfasst all jene, die arbeitslos oder arbeitsunfähig sind, für die kriminalisierte Formen von Arbeit oder Armutskriminalität die einzige Möglichkeit darstellen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder die in Stadtvierteln wohnen, die – zum Beispiel im Zuge von Aufwertungsprozessen – regelmäßig Ziel von Polizeiaktionen werden.

Polizei abschaffen?

Kritisch sieht Johnson die Forderung, der Polizei Mittel zu entziehen. Diese könne zwar Debatten darüber anstoßen, für welche Zwecke öffentliche Gelder ausgegeben werden: Wird in soziale Infrastruktur investiert oder in kapitalistische Stadtentwicklung und den staatlichen Gewaltapparat? Allerdings sei der Ruf nach „defund the police“ auch anschlussfähig für rechte Austeritätspolitik, der gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst ein Dorn im Auge sind. Gegen die abolitionistische Forderung, die Polizei ganz abzuschaffen, wendet Johnson ein, dass staatlicher Zwang immer auch notwendig gewesen sei, um fortschrittliche Reformen durchzusetzen. Er verweist etwa auf die Durchsetzung der Aufhebung der Segregation in den Südstaaten mithilfe der Nationalgarde. Was aus seiner Sicht gebraucht wird, ist eine „abolition of a different sort“ (eine Abschaffung der anderen Art): „abolition of the conditions that police have been charged with managing over the last half century of welfare state devolution and privatization“ (die Aufhebung der Bedingungen, mit deren Verwaltung die Polizei in den letzten 50 Jahren im Kontext von Sozialstaatsabbau und Privatisierung betraut wurde (S. 341, Übers. KS). Im Vordergrund müsse das Anliegen stehen, eine egalitäre Gesellschaft aufzubauen, die nicht auf Ausbeutung, Entfremdung und allgegenwärtiger Gewalt basiert. Als erste Schritte in diese Richtung plädiert Johnson für öffentliche Beschäftigungsprogramme nach dem Vorbild des New Deal, für den Ausbau öffentlicher Daseinsvorsorge, die Dekommodifizierung von Bildung, Gesundheit und Wohnen und eine breite Umverteilungspolitik.

Antikapitalistische Politik gegen Polizeigewalt

Es ist klar, dass sich Johnsons Überlegungen nicht eins zu eins auf den deutschen Kontext übertragen lassen – zu groß sind die Unterschiede mit Blick auf den Wohlfahrtsstaat, die konkrete Funktionsweise der Polizei und das Ausmaß von Inhaftierung, um nur einige Punkte zu nennen. Eine Analyse wie die von Johnson müsste für Deutschland erst noch entwickelt werden. Nichtsdestotrotz fand ich als Person, die in den letzten Jahren in Berlin zu Rassismus im Polizei- und Justizsystem gearbeitet hat und in verschiedenen Bündnissen aktiv war, viele von Johnsons Überlegungen geradezu augenöffnend. Es finden sich etliche Anknüpfungspunkte, die helfen können, hiesige politische Arbeit zu überdenken und weiterzuentwickeln.

Das betrifft zum einen einzelne Strategien wie zum Beispiel das von Johnson kritisierte Schweigen über Kleinkriminalität, das Aktivist*innen auch hierzulande praktizieren, um Opfer von Polizeigewalt gegen Angriffe von rechts zu immunisieren. Dies verdeckt aber zugleich den Klassencharakter von Polizeiarbeit beziehungsweise die Tatsache, dass ein großer Teil derer, die regelmäßig von der Polizei aufgegriffen und drangsaliert werden, informelle und kriminalisierte Tätigkeiten ausüben muss. Die Betonung von Unschuld verunmöglicht es, über die Verhältnisse zu sprechen, die Menschen erst zur Zielscheibe der Polizei werden lassen.

Zum anderen können Aktivist*innen in der BRD aber auch von der „größeren Vision“ lernen, die Johnson skizziert. Aktuell werden Mittel für Soziales, Gesundheit und Bildung drastisch zusammengekürzt, Teile von Union und FDP fordern die Abschaffung des Bürgergelds und Kapitalverbände rufen nach einer neuen „Agenda 2010“. Es ist zu befürchten, dass der verschärfte Klassenkampf von oben und die damit verbundene drohende Verarmung weiterer Bevölkerungsteile dazu führen werden, dass Polizeigewalt zunimmt und mehr Menschen wegen Armutsdelikten im Knast landen. In dieser Situation scheint es dringend geboten darüber nachzudenken, wie der Kampf gegen Polizeigewalt stärker mit einer breiten, antikapitalistischen Politik verbunden werden kann.

Cedric G. Johnson 2023:
After Black Lives Matter. Policing and Anti-Capitalist Struggle.
Verso, London.
ISBN: 9781804291672.
416 Seiten. 28,00 Euro.
Zitathinweis: Katharina Schoenes: Class matters. Erschienen in: Wer braucht eigentlich die Polizei?. 70/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1851. Abgerufen am: 27. 04. 2024 17:05.

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Cedric G. Johnson 2023:
After Black Lives Matter. Policing and Anti-Capitalist Struggle.
Verso, London.
ISBN: 9781804291672.
416 Seiten. 28,00 Euro.