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Notizen aus der Redaktion

Anklage: Journalist_in

Dass in der Türkei linke Medien und Gegenöffentlichkeit heftigster Repression und Unterdrückung ausgesetzt sind, dürfte mittlerweile hinlänglich bekannt sein. Oppositionelle, linke und kurdische Stimmen werden seit Jahren zum Schweigen gebracht – nach dem Putschversuch am 15 Juli 2016 und dem danach verhängten Ausnahmezustand (dem „OHAL“, kurz für Olağanüstü Hâl) hat das Ausmaß an Repression allerdings weiter zugenommen. Der OHAL ermöglicht den staatlichen Organen – neben vielen weiteren Einschränkungen – , das Drucken und Verkaufen von bestimmten Zeitungen, Magazinen, Büchern oder anderen Printprodukten zu verbieten, „wenn sie eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen“. Mindestens 125 Printmedien, Radio- und Fernsehstationen und 29 Verlagshäuser wurden stillgelegt, tausende Journalist_innen wurden entlassen, Hunderten weiteren drohen Anklagen und Haftstrafen.

Straftat Journalismus – oft reichen regimekritische Texte oder Social-Media-Einträge aus, um der Terrorpropaganda oder der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation beschuldigt und angeklagt zu werden. Auch im Moment, in dem ich darüber schreibe, werden Berichte über neue Verbote und drohende Verhaftungen öffentlich: "Wir werden bis zur letzten Sekunde unsere Übertragung fortsetzen", postet Eyüp Burç, Chefredakteur von imc tv, einem der größten Nachrichtensender der Türkei, dessen Schließung unmittelbar bevorsteht. Online sind seine Angebote nicht mehr zu erreichen, auch Facebook und Twitter haben die offiziellen Seiten des Senders gesperrt. Die Redaktion postet auf anderen Kanälen Kurznachrichten und Bilder von sich, wie sie geschlossen auf das Eintreffen der Polizei warten.

Im August war ich zusammen mit zwei Kolleg_innen (Hannah Schultes und Alp Kayserilioğlu, beide ebenfalls Autor_innen von kritisch-lesen) im Südosten der Türkei unterwegs, in den Regionen Gaziantep, Kahramanmaraş, Hatay und Diyarbakır. Wir haben mit dutzenden Menschen gesprochen, haben uns Stadtteile angeschaut, Photos geschossen und zahllose Gläser kräftigen Çay getrunken. Nun liegen auf meinem Schreibtisch Stapel von Transkripten, Hintergrundrecherchen, Photographien, die Stück für Stück sortiert, aufgearbeitet, veröffentlicht werden. Neben vielen anderen Themen interessierte uns auch die Situation der Medienschaffenden in der Türkei, spezifisch die der weiblichen Journalistinnen und Redakteurinnen. Sie arbeiten in der Türkei unter doppelt oder auch dreifach schweren Bedingungen: Als unabhängige Medienschaffende unter dem autoritären AKP-Regime, als Frauen in einer männerdominierten Branche und, nicht zuletzt, als Angehörige der kurdischen Bevölkerung, gegen die der türkische Staat einen unerbittlichen Krieg führt.

Güler von der Frauennachrichtenagentur JINHA erzählt uns:

„Seit den Juniwahlen im vergangenen Jahr wurde unsere Website sieben Mal gesperrt. Kolleginnen wurden verstärkt aufgrund ihrer Artikel von der Polizei bedroht, auch mit sexueller Gewalt, oder direkt angegriffen. Wir haben natürlich auch vorher schon mit Pfefferspray und Wasserwerfern Erfahrungen gemacht und mussten häufig mit Festnahmen rechnen, aber mittlerweile machen wir unsere Arbeit in Kurdistan wirklich unter Lebensgefahr. Wenn wir losgehen, um über einen Protest zu berichten, fragen wir uns vorher, ob wir davon wohl zurückkommen werden.“

Der gemeinsame Bericht von Hannah Schultes und mir über Güler und drei weiteren Journalistinnen erscheint im kommenden Missy Magazine. (J. B.)

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Von
Redaktion
Veröffentlicht am
04. Oktober 2016
Erschienen in
Ausgabe 41, „Medien und Gegenöffentlichkeit” vom 04. Oktober 2016